Critical Walks – Schüler_innen sind Geschichte(n) von NSU, Rassismus und Migration auf der Spur
29. Oktober 2019 | Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung

Nach den grausamen Morden zwischen 2000 und 2007 durch den sogenannten Nationalsozialistische Untergrund (NSU) stellte sich alsbald die Frage nach bildungspolitischer Aufarbeitung. Dass diese für Schüler_innen nicht nur in Klassenräumen stattfinden muss, veranschaulicht das vom Kölner Verein La Talpa entwickelte Projekt Critical Walks. In dessen Rahmen können Schüler_innen mit Smartphone-App und QR-Codes Geschichte erfahren, gestalten und dem Geschichtspfad so Schritt für Schritt folgen. Vanessa Höse, Sandra Vacca und Danilo Starosta stellen die Critical Walks aus Köln-Mülheim, Kassel und Chemnitz vor.

„NSU? Davon haben wir schon mal gehört, aber was hat das mit meiner Stadt zu tun?“ Diese Frage haben sich Jugendliche in verschiedenen Städten gestellt, in denen der NSU gewirkt und gemordet hat. Sie begannen, sich mit der Geschichte des rechten Terrors vor Ort auseinanderzusetzen. Im Folgenden wird das Projekt „History Reclaimed“ vorgestellt, das der Verein La Talpa entwickelt hat und in dessen Rahmen Jugendgruppen digitale Geschichtspfade, Critical Walks, erstellt haben.

Für alle Jugendgruppen, die sich mit der Geschichte des NSU-Komplexes, mit Rassismus und/oder mit Migrationsgeschichten im lokalen Kontext auseinandersetzen wollen, bietet sich das Projekt „History Reclaimed“ an. Dabei geht es darum, Tatorte, Orte des Widerstands und alltägliche Orte selbst zu erkunden, eigene Fragestellungen und Herangehensweisen zu entwickeln, zu recherchieren und mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Ziel ist es, Geschichte und Erinnerung als dynamischen, selbst gestaltbaren Prozess zu begreifen, eine eigene Sicht und Erzählung zu entwickeln und in Form eines digitalen Geschichtspfades anderen zur Verfügung zu stellen. Im Folgenden werden neben generellen Tipps zur Durchführung Einblicke in die Critical Walks aus Köln-Mülheim, Kassel und Chemnitz gegeben. Für die gemeinsame Erarbeitung eines Geschichtspfads sollte ein Zeitraum von drei bis sechs Monaten eingeplant werden; es ist also ein stabiler Gruppenzusammenhang mit kontinuierlicher Projektarbeit notwendig. Selbstverständlich kann man auch mit den bereits erstellten Critical Walks arbeiten, ihre Pfade verfolgen und eigene Diskussionen daran anschließen: Was habt ihr über die Orte erfahren – was war neu, was hat euch überrascht, was hat euer Bild bestätigt? Was hat Rassismus/rechte Gewalt/Migration mit euch und eurem Umfeld zu tun? Was ist Geschichte und wo wirkt sie fort? Was findet ihr wichtig zu erzählen, und wer ist eigentlich für Erinnerung und Geschichtsschreibung verantwortlich?

Voraussetzungen

Es sollte eine Gruppe von circa fünf bis 15 Jugendlichen und/oder jungen Erwachsenen gebildet werden, die über mehrere Monate hinweg (oder in einer kürzeren Intensivphase) an einem Thema arbeiten möchte. Die Orte des Geschichtspfades sollten in der Umgebung liegen, gut erreichbar sein und Bezüge zur eigenen Lebenswelt haben. Für die Bedienung der App „Action Bound“ werden Smartphones (Android oder Apple) benötigt. Ist die App installiert, kann über die Suchfunktion etwa der Rundgang „History Reclaimed – Der NSU-Komplex in Kassel“ gefunden werden oder über den QR-Code den Geschichtspfad „Geschichte der Migration und des Rassismus in Köln-Mülheim“ gescannt werden. Auf de.actionbound.de ist eine Anleitung zu finden, wie ohne größere technische Vorkenntnisse eigene „Bounds“ beziehungsweise Geschichtspfade erstellbar sind. Die Erstellung von „Bounds“ ist allerdings kostenpflichtig. Für Video-, Foto- und Audioaufnahmen sind Smartphones einsetzbar.

Einblicke und Eindrücke aus Köln, Kassel und Chemnitz – Orten eine Bedeutung geben

Im Jahr 2015 haben Schüler_innen des Hölderlin-Gymnasiums und der Willy-Brandt-Gesamtschule in Köln-Mülheim das Pilotprojekt von „History Reclaimed“ gestartet. Die beiden Schulen und die Wohnorte der Teilnehmenden befinden sich in der Nähe des Friseurladens in der Keupstraße, vor dessen Schaufensterscheibe am 9. Juni 2004 eine Nagelbombe detonierte, die über 20 Menschen teils schwer verletzte. Ausgehend von diesem Ort und Ereignis begannen die Jugendlichen, ihren Blick auszuweiten auf die türkisch und kurdisch geprägte Geschäftsstraße, die maroden Industriestätten in unmittelbarer Nachbarschaft und den Verkehrsknotenpunkt Wiener Platz.

Über diese Orte und ihre Geschichte wird klar, wem der Anschlag auf der Keupstraße eigentlich galt: jenen Menschen und ihren Familien, die mit ihrer Arbeitskraft das Nachkriegsdeutschland mit aufbauten und in späteren Jahren aus der Keupstraße eine florierende Einkaufs- und Ausgehmeile machten. Der Angriff des NSU galt also einem erfolgreichen, lebendigen, beliebten Ort der Postmigrationsgesellschaft, der den Nazis nicht in den Kram passte. Und wir sehen heute: Diesen Ort gibt es immer noch. Die Jugendlichen aus Köln-Mülheim beschreiben, dass der rassistisch motivierte Anschlag die Bewohner_innen der Keupstraße letztlich zusammengeschweißt und ihren Zusammenhalt gestärkt hat. Die Geschichtswerkstatt Chemnitz „Jugendarbeit in der Transformationsgesellschaft“ hat in einem Kooperationsprojekt des Kulturbüro Sachsen e. V., der Mobilen Jugendarbeit der Jugendberufshilfe und des Alternativen Jugendzentrums/AJZ Chemnitz einen Geschichtspfad entwickelt, der zunächst als „analoge“ Ausstellung konzipiert war und ab 2018 zu einem digitalen Geschichtspfad erweitert wurde. Dabei geht es um die Frage, wie das NSU-Netzwerk arbeitete und ob überhaupt von einem „Untergrund“ gesprochen werden kann. Indem die Orte, an denen das NSU-Kerntrio gelebt und gewirkt hat, aufgesucht und Hintergründe dazu recherchiert wurden, kamen die Teilnehmenden des Projekts zu dem Ergebnis, dass es schlichtweg keinen „Untergrund“ gegeben hat: Die NSU-Terrorist_innen konnten sich in Chemnitz frei bewegen, hatten funktionierende soziale Strukturen und ein Netzwerk, das sie stärkte.

Sich selbst ins Spiel bringen

Zunächst stellte sich die Frage, wie man überhaupt recherchiert und wen man befragen kann. In Köln und Kassel nahmen die Jugendlichen zu den Initiativen „Keupstraße ist überall“ und „Initiative 6. April“ Kontakt auf, die im Schulterschluss mit Betroffenen und Familienangehörigen für Aufklärung und eine selbstbestimmte Erinnerung kämpfen. In Köln geschah dies zu dem Zeitpunkt, als ausgehend von der Keupstraße eine bundesweite Mobilisierung für den „Tag X“ in München – den Tag, an dem die Keupstraße erstmals im NSU-Prozess verhandelt wurde – in vollem Gange war. Teile der Gruppe beschlossen daraufhin, mit weiteren Schüler_innen nach München zu fahren, um den Prozess zu besuchen und an der eintägigen Kundgebung und Demonstration teilzunehmen. Es entstanden gefilmte Interviews, etwa von einem Jugendlichen, der berichtet, wie beeindruckend es für ihn gewesen sei, „bei so einer großen Sache dabei [gewesen] zu sein“. Eine weitere Teilnehmende erklärte, dass sie „ihre Stimmen lauter machen [wollten], etwas bewirken, zeigen wollten, dass wir mit den Betroffenen mitfühlen und versuchen, sie zu verstehen“.

Interaktiv werden

Die Critical Walks laden dazu ein, die Stationen anhand von kleinen Texten und Videos kennenzulernen, beziehen darüber hinaus aber die Teilnehmenden auch interaktiv ein. Es gibt kleine Quizfragen, bei denen Punkte gesammelt werden können, um im abschließenden Highscore einen Platz zu belegen – und natürlich, um seine eigenen Eindrücke und Einschätzungen auf die Probe zu stellen. So lautet etwa eine Frage: „Wie viele Todesopfer rechter Gewalt gab es in Deutschland seit 1990 (nach Angaben der Amadeu-Antonio-Stiftung, Stand 2014)?“ Die Auswahlmöglichkeiten liegen weit auseinander: „keine“, 17, 184 (richtig) oder 1.478. Diese Quizfrage kann ein guter Diskussionspunkt für eine Nachbesprechung des Critical Walks sein, um die Dimension tödlicher rechter Gewalt zu thematisieren und um Zusammenhänge und Kontinuitäten seit der Wiedervereinigung aufzuzeigen (siehe dazu Dostluk Sineması (Hrsg.): Von Mauerfall bis Nagelbombe, 2014).

Ein weiteres Beispiel: Im Kasseler Critical Walk wird die Aufgabe gestellt, ein Gruppenfoto zum Thema Toleranz zu machen. Hier kann die Gruppe diskutieren, was sie unter Toleranz versteht, und einen gemeinsamen Ausdruck dafür finden..

Ausblick

„History Reclaimed“ versteht sich als offenes Projekt, das sich multiplizieren und so selbst fortführen soll. Jugendliche werden darin zu Erzähler_innen und können ihr Wissen an jüngere wie ältere Menschen sowie an nachfolgende Generationen weitergeben. Auf dem Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ in Köln-Mülheim gaben Teilnehmende des Projekts mehr als 50 Erwachsenen eine Führung und kehrten damit das konventionelle Verhältnis von Wissens- und Erfahrungsweitergabe um.

Zur Offenheit des Projekts gehört auch seine freie thematische Ausrichtung. Neben den Orten des rechten Terrors und dem Fokus auf die Migrationsgeschichte gibt es viele weitere Ankerpunkte, an die angeknüpft werden kann, etwa eine postkoloniale Spurensuche oder queere Stadtgeschichten. Die Autorinnen freuen sich auf weitere Geschichtspfade, die aus kritischen und autonomen Jugendprojekten erwachsen.

 

Dieser Text ist ein leicht veränderter Auszug aus Perspektiven emanzipatorischer Jugendbildung – Involvierte Pädagogik und eingreifende Praxis — Heft 7 in der Reihe „Bildungsmaterialien“ und erschien im Mai 2019. Auf der Seite der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist das Heft bestellbar. Wir danken der Rosa-Luxemburg-Stiftung und den Autor_innen für ihre Erlaubnis, den Beitrag hier zu veröffentlichen.


Bildungsangebote digital und analog:


Literatur

  • Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ (2017): Wir klagen an! Anklage des Tribunals „NSU-Komplex auflösen“, Köln: Lückenlos e. V.: www.nsu-tribunal.de/anklage/
  • Önder, Tunay/Umpfenbach, Christine/Mortazavi, Azar (Hrsg.) (2016): Urteile. Ein dokumentarisches Theaterstück über die Opfer des NSU. Mit Texten über alltäglichen und strukturellen Rassismus, Münster: Unrast
  • Şimşek, Semiya/Schwarz, Peter (2013): Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater, Berlin: Rowohlt
  • Virchow, Fabian/Thomas, Tanja/Grittmann, Elke (Hrsg.) (2015): Das Unwort erklärt die Tat – Die Berichterstattung über die NSU-Morde – eine Medienkritik (unter Mitarbeit von Derya Gür Şeker und Ronja Röckmann), Frankfurt a. M., Otto-Brenner-Stiftung: www.otto-brenner-stiftung.de/wissenschaftsportal/informationsseiten-zu-studien/studien-2015/das-unwort-erklaert-die-untat/
  • Karakayali, Juliane/Kahveci, Çagri/Liebscher, Doris/Melchers, Carl (Hrsg.) (2017): Den NSU-Komplex analysieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft, Bielefeld: Transcript
  • John, Barbara (Hrsg.) (2014): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung
  • Bozay, Kemal/Aslan, Bahar /Mangitay, Orhan/Özfirat, Funda (Hrsg.) (2016): Die haben gedacht, wir waren das. MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus, Köln: Pappyrossa
  • Dostluk, Sineması (Hrsg.) (2014): Von Mauerfall bis Nagelbombe. Der NSU-Anschlag auf die Kölner Keupstraße im Kontext der Pogrome und Anschläge der neunziger Jahre, Berlin: Amadeu Antonio Stiftung
  • Aust, Stefan/Laabs, Dirk (2014): Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU, München: Pantheon
  • Schöneburg, Volkmar (2018): Kein Schlussstrich unter NSU-Aufklärung. Anmerkungen zum „NSU-Prozess“ und zum Brandenburger Untersuchungsausschuss: www.rosalux.de/publikation/id/39124/kein-schlussstrich-unter-nsu-aufklaerung/
  • Dossier NSU-Komplex der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Beiträgen zur Prozessberichterstattung von Fritz Burschel (u. a.), unter: www.rosalux.de/dossiers/nsu-komplex/

Filme, Videos

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