Bilder der Gewalt: Künstlerische Auseinandersetzungen als pädagogischer Zugang
26. März 2021 | Geschichte, Biografien und Erinnerung, Jugendkulturen und Soziale Medien, Radikalisierung und Prävention

Die steigende Zahl gewaltvoller Bilder in den Medien prägt unsere Sehgewohnheiten und unseren Alltag. So wird der anhaltende Bürgerkrieg in Syrien in Form von Handybildern und Livestreams auf die Smartphones auch junger User*innen übertragen. Gleichzeitig machen sich dschihadistische Organisationen wie der sogenannte Islamische Staat (IS) digitale Infrastrukturen zu Nutze, um Bilder der Gewalt, die im Namen der Religion verübt wird, in die ganze Welt zu streuen – was unter Muslim*innen weltweit auf Widerspruch stieß. Künstlerische Positionen, die der Bildmacht des IS und anderer dschihadistischer Organisationen etwas entgegensetzen, sind in der breiteren Öffentlichkeit dagegen wenig bekannt. In ihrem Beitrag stellen Alexandra Dick und Larissa-Diana Fuhrmann solche Arbeiten vor und geben Anregungen, wie sie sich in der Bildungsarbeit nutzen lassen.

Unser Dank gilt Dr. Nicole Rieber und Saana Nevala für ihr wertvolles Feedback, das in diesen Beitrag eingeflossen ist.

Durch Medien sind Kinder und Jugendliche täglich nicht altersentsprechenden Nachrichten und Bildern von Gewalt [1] ausgesetzt, was nach mehr Aufmerksamkeit und intensiver pädagogischer Begleitung verlangt [2]. Dabei stellt sich immer wieder die Frage, wie eine Reflexion über medialisierte Gewalt ohne eine erneute Konfrontation mit gewaltvollen Materialien möglich ist. Zunächst möchten wir daher eine Reihe von Künstler*innen und ihre Arbeiten vorstellen, die sich durch unterschiedliche Aneignungstechniken mit unterschiedlichen Formen der Gewalt auseinandersetzen. Im Anschluss zeigen wir Wege auf, wie manche dieser Arbeiten in pädagogischen Kontexten genutzt werden können. Dafür haben wir Beispiele künstlerischer Aneignungen ausgewählt, die sich auf Kriegsberichterstattung und Flucht aus Syrien und Irak, die Propaganda des sogenannten Islamischen Staates sowie antimuslimischen Rassismus beziehen. Dabei sehen wir die Chance, durch künstlerische Auseinandersetzungen über Gewalt und Krieg mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch kommen zu können, ohne uns selbst und insbesondere nicht Kinder und Jugendliche expliziten Bildern auszusetzen. Wir hoffen Pädagog*innen dadurch konkrete Strategien und Übungen an die Hand zu geben, wie sie über gewaltvolle Inhalte altersgerecht und traumasensitiv mit Kindern und Jugendlichen sprechen können.

Künstlerische Auseinandersetzungen mit Bildern der Gewalt

Ein international erfolgreicher Künstler, der in seiner Arbeit immer wieder auch Gewalt thematisiert, ist der politische Cartoonist Khalid Albaih. Als Sudanese wurde er in Rumänien geboren, lebte und arbeitete in Qatar und nimmt zurzeit am Residenzprogramm des International Cities of Refuge Network (ICORN) in Kopenhagen teil. In seinen Cartoons verarbeitet er aktuelle politische Themen, wobei er stets verschiedene Blickwinkel einnimmt und Bilder der Gewalt abstrahiert. Dafür hat er sich diverse ikonische Darstellungen angeeignet und in seinen Arbeiten kommentiert und kontextualisiert.

Der erste Comic (siehe Abb. 1), den wir von ihm vorstellen möchten, trägt den Titel No Choice („Keine Wahl“). Er greift zwei unterschiedliche Formen der Gewalt gegen Kinder im Kontext des syrischen Bürgerkrieges auf, die sich in zwei Fotos niederschlugen, die um die Welt gingen. 2016 wurde das Foto des fünfjährigen Omran Daqneesh nach einem Luftangriff in Aleppo zu einem Sinnbild unschuldiger Opfer des Krieges. Dabei sitzt er schwer verletzt in einem Krankenwagen und schaut direkt in die Kamera [3]. Das zweite Bild zeigt den zweijährigen Alan Kurdi, der 2015 an einem Strand nahe Bodrum in der Türkei nach einem gescheiterten Fluchtversuch seiner Familie tot aufgefunden und zum Symbol der Notlage von Millionen geflüchteter Menschen an den EU-Außengrenzen wurde [4]. Kommentiert ist der Comic mit „Auswahlmöglichkeiten für syrische Kinder“, „wenn du bleibst“ und „wenn du gehst“.  In einem Interview für die Dissertation von Larissa-Diana Fuhrmann erklärte Albaih, dass er sich dafür entschieden hätte, solche Gewaltbilder künstlerisch zu verarbeiten, um es Nutzer*innen zu erleichtern, die Bilder online zu teilen und so auf die Gewalt aufmerksam zu machen, ohne die Opfer erneut zu zeigen.

Arbeitsblatt „Bürgerkrieg“ (5 Seiten, aktualisierte Version von Dezember 2021, barrierefrei, pdf)

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Im zweiten Comic (siehe Abb. 2) verarbeitet Albaih Bilder von Exekutionen durch den IS. Videos wie die Ermordung des US-amerikanischen Journalisten James Foley im Jahr 2014 wurden bei YouTube hochgeladen und über soziale Medien geteilt. Sie konfrontierten Zuschauer*innen mit einer neuen Form medialisierter Gewalt. Da der IS seine terroristischen Akte religiös legitimierte, bewirkten diese Bilder neben Angst vor allem auch Hass gegenüber Muslim*innen und einen Anstieg an antimuslimisch, rassistisch motivierten Übergriffen. Der Comic trägt daher den Titel Discrimination („Diskriminierung“) und bezieht sich sowohl auf die Gewalt des IS als auch auf die daraus resultierende Zunahme antimuslimischer Gewalt. Dabei greifen die Kreuze um die Hälse der zwei knienden Opfer sowie die Überschrift „Diskriminierung ist nicht Islam“ die durch den IS verfestigten Stereotype auf, die unter Nicht-Muslim*innen gegenüber Muslim*innen zu beobachten sind.

Der dritte Comic (siehe Abb. 3) mit dem Titel In Between („Dazwischen“) thematisiert eine Erfahrung von vielen Muslim*innen: Einerseits sind sie der Gewalt des IS ausgesetzt, der sie nicht als „richtige“ Muslim*innen betrachtet. Andererseits sehen sie sich ohne eigenes Zutun häufig mit Vorwürfen und dem Zwang konfrontiert, sich von der Gewalt des IS distanzieren zu müssen. Da dieser Comic, anders als die vorherigen Beispiele, keine Gewaltszenen enthält, eignet er sich auch für die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Konkrete Anregungen dazu, wie Sie ihn in Ihrer Arbeit nutzen können, finden Sie am Ende des Artikels [5].

Abb. 1: Khalid Albaih (2016) – No Choice Abb. 2: Khalid Albaih (2015) – Discrimination Abb. 3: Khalid Albaih (2015) – In Between

Im Gegensatz zu dem Comic-Künstler Albaih widmet sich Piers Secunda in seinen Werken nicht der Verarbeitung soziopolitischer Diskurse, sondern der Dokumentation und Rekonstruktion zerstörter Kulturgüter. Secunda ist ein in London geborener Künstler, der an der Schnittstelle zwischen Malerei und Skulpturen arbeitet. In der hier ausgewählten beispielhaften Arbeit (siehe Abb. 4) mit dem Titel ISIS Bullet Hole Painting („ISIS Einschussloch-Gemälde“) zeigt er den Abdruck eines Reliefs, das vom IS zerstört wurde: Das rechte Paneel zeigt eine von Geschossen durchlöcherte Engelsdarstellung, während die linke eine Rekonstruktion derselben darstellt. Die Arbeit gehört zu einer 2009 begonnen Reihe, in der Secunda die absichtliche Zerstörung von Kulturgütern in Kriegsgebieten dokumentiert. Diese durch Gewalt und Zerstörung entstandenen kulturellen Leerstellen füllt Secunda mit seiner Kunst. Die Rekonstruktion steht für den Widerstand und die Handlungsmacht des Künstlers.

Abb. 4: Piers Secunda (2016) – ISIS Bullet Hole Painting (Double Panel)

Auch Morehshin Allahyari beschäftigt sich mit der Zerstörung von kulturellen Artefakten. Doch anders als Secunda nutzt sie hierfür modernste Technologien, um ihre Konzepte umzusetzen. Allahyari ist eine im Iran geborene und in den USA arbeitende Künstlerin, Dozentin und Aktivistin. In ihren Arbeiten setzt sie sich mit politischen, sozialen und kulturellen Widersprüchen auseinander. Sie nutzt beispielsweise 3D-Drucke und versteht diese als Werkzeug, um unser persönliches und kollektives Sein im 21. Jahrhundert zu dokumentieren. In ihrer Reihe Material Speculation: ISIS bezieht sie sich auf 2015 vom IS veröffentlichte Videos, in denen die Zerstörung verschiedener Statuen und Artefakte zu sehen ist. Sie rekonstruiert dabei nicht nur die zerstörten Objekte in Form von 3D-Drucken, sondern historisiert und kontextualisiert diese, indem sie Informationen über die Artefakte anhand eines USB-Sticks in die Rekonstruktionen einschreibt. Damit erzählen die Objekte ihre eigene Geschichte. Die hinterlegten Informationen können zum Beispiel über einen Laptop, wie in Abb. 5 dargestellt, direkt ausgelesen werden und sind teilweise sogar online abrufbar.

Abb. 5: Morehshin Allahyari (2015-2016) – Material Speculation: ISIS Dead Drops

Unser letztes Beispiel Living Aleppo ist noch stärker narrativ ausgelegt. Dabei handelt es sich um eine interaktive Ausstellung, die 2017 in Amsterdam zu sehen war. Sie stellte die Konsequenzen des syrischen Bürgerkrieges am Beispiel der Stadt Aleppo in Miniaturformat dar. Für dieses Projekt schloss sich die Amsterdamer Plattform Power of Art House mit 12 (ehemaligen) Bewohner*innen der Stadt zusammen. Bengin Dawod, ein in Amsterdam lebender Architekt und Designer, und der in Aleppo geborene und aufgewachsene Husam Muhajer, der 2014 vor gewaltsamen Ausschreitungen in seinem Stadtteil in die Türkei floh, arbeiteten gemeinsam am Projekt. Muhajer fertigt schon lange Miniaturen an und hat für Living Aleppo die Zitadelle der Stadt als Miniatur zum Leben erweckt. Trotzdem durfte er selbst nicht für die Ausstellung in die Niederlande einreisen. Dabei schlug sich Muhajers persönlicher Bezug zur Stadt Aleppo maßgeblich in dieser Installation nieder, die nicht nur die Zerstörung, sondern auch das Alltagsleben (siehe Abb. 6) während des Krieges zeigt. Die Ausstellung rekonstruierte Straßenzüge und erzählte die Geschichten der verschiedenen Stadtteile und ihrer Bewohner*innen, die auch online nachzulesen sind. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Frage, wie Aleppo wieder zu einer bewohnbaren Stadt werden könnte.

Abb. 6: Power of Art House (2017) – Living Aleppo

 

Künstlerische Auseinandersetzungen als pädagogischer Zugang

Gerade an solchen alltäglichen Dimensionen von Krieg sind Kinder und Jugendliche interessiert. Gleichzeitig sind vor allem Kinder mit Bildern von Gewalt überfordert. Sie lösen bei ihnen häufig Ängste und Ohnmachtsgefühle aus – „besonders, wenn es sich um Bilder der Opfer handelt und wenn Blut zu sehen ist“ (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2020).[6] Kinder beziehen diese Bilder auf ihre eigene Lebenswelt und fürchten, dass ihnen oder ihren Eltern etwas Ähnliches widerfahren könnte (ebd.). So erreichte die Redaktion von frieden-fragen, einem Online-Portal für Kinder zu den Themen Krieg, Frieden, Streit und Gewalt, in den letzten Jahren vermehrt die Frage, ob auch in Deutschland bald ein Krieg ausbrechen könnte. Seitens der Kinder besteht offensichtlicher Bedarf, über dieses Thema zu sprechen. Den Erwachsenen auf der anderen Seite fehlen hierfür jedoch häufig die Worte.

Hier können künstlerische Auseinandersetzungen einen Zugang bieten, um mit Kindern und Jugendlichen überhaupt über Krieg und Gewalt ins Gespräch kommen zu können.

Kunst ist ein Mittel, um Erlebtes auszudrücken und zu verarbeiten, weshalb sie in verschiedenen Therapieformen zum Einsatz kommt. Das eigene Schaffen ermöglicht es, eigene Grenzen zu definieren. Wer dahingegen die Kunst anderer nutzen will, um mit Kindern oder Jugendlichen über Krieg und Gewalt zu sprechen, muss dabei vier Grundsätze beachten:

1. Die künstlerischen Arbeiten enthalten keine gewaltvollen Darstellungen.

2. Kinder und Jugendliche können ihre eigenen Grenzen setzen. Dazu zählt auch, dass sie selbst entscheiden können, ob sie auf der Sachebene bleiben und über Fakten sprechen oder auf die emotionale Ebene wechseln und auf ihre eigenen Gefühle eingehen wollen oder nicht (Cheema 2020).
Kinder und Jugendliche können sich jederzeit der Situation entziehen.

3. Um dies zu gewährleisten, ist eine zweite erwachsene Person einzubeziehen, beispielsweise ein*e Vertrauenslehrer*in, Schulsozialarbeiter*in oder Schulpsycholog*in.

4. Die Zusammensetzung der Gruppe ist stets zu bedenken.

Wenn sich in einer Gruppe Kinder oder Jugendliche mit eigener oder familiärer Fluchtgeschichte befinden, ist die Herausforderung, aber auch die Verantwortung der Pädagog*innen besonders groß. Kinder und Jugendliche mit eigener Fluchterfahrung haben häufig traumatisierende Situationen erlebt, die weitreichende „Folgen für die psychische Gesundheit, die Entwicklung und das soziale Verhalten der Heranwachsenden haben (Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer). Bei ihnen kann eine Konfrontation mit diesem Thema heftige Reaktionen auslösen („triggern“). Vor einer unvermittelten Konfrontation sind sie daher unter allen Umständen zu schützen. Dies gilt auch für Kinder bzw. Jugendliche mit familiärer Fluchtgeschichte [7]. Hier ergibt sich jedoch die Besonderheit, dass ein generelles Interesse der Kinder und Jugendlichen auf eine gewisse Sprachlosigkeit der Eltern angesichts eigener Traumatisierungen treffen kann. Suchen Sie daher mit all diesen Kindern und Jugendlichen vorab in geschützter Atmosphäre ein Einzelgespräch, erläutern Sie das Thema und den groben Ablauf und stellen Sie, wenn möglich, die Teilnahme frei. Sprechen Sie die Kinder und Jugendlichen während der Veranstaltung nicht auf ihre Erfahrungen an und erwarten Sie keine „Betroffenen-Berichte“ [8]. Denn für alle Kinder und Jugendlichen gilt, dass sie ihre Grenzen selbst bestimmen können.

Arbeitsblatt „Islamischer Staat und Terrorismus“ (10 Seiten, aktualisierte Version von Dezember 2021, barrierefrei, pdf)

Arbeitsblatt „Islamischer Staat und Terrorismus“ (10 Seiten, aktualisierte Version von Dezember 2021, barrierefrei, pdf)

Werden diese Grundsätze berücksichtigt, kann Kunst eine Möglichkeit sein, einen altersgerechten und traumasensitiven Zugang zu Themen zu finden, die medial meist nicht altersgerecht und traumasensitiv kommuniziert werden. Über den Umweg künstlerischer Arbeiten werden Kinder und Jugendliche zusätzlich geschützt – nicht nur vor gewaltvollen Bildern, sondern auch vor realen oder real anmutenden Bildern [9]. Diese Abstraktion kann eine Auseinandersetzung mit den Themen Gewalt und Krieg erleichtern.

Der Zugang über Werke muslimischer Künstler*innen wie Albaih und Hamed erfüllt in diesem Zusammenhang einen besonderen Zweck, denn die Auseinandersetzung mit dem syrischen Bürgerkrieg oder dem sogenannten Islamischen Staat kann antimuslimische Stereotype reproduzieren. Hier bieten muslimische Künstler*innen mit ihren Werken ein Gegengewicht, indem sie auch auf die negativen Auswirkungen dschihadistischer und rassistischer Gewalt hinweisen, von denen sie als Muslim*innen unmittelbar betroffen sind.


Anmerkungen

[1] An dieser Stelle verzichten wir auf eine ausführliche Definition des Begriffs „Gewalt“. Anstöße dazu bieten verschiedene wissenschaftliche und kindgerechte Auseinandersetzungen.

[2] Mehr Informationen zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen finden Sie bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (2019).

[3] Mehr zu Omran Daqneesh finden Sie hier.

[4] Mehr zu Alan Kurdi finden Sie hier.

[5] Ähnliche Karikaturen stammen von der in Berlin lebenden muslimischen Künstlerin Soufeina Hamed, auch bekannt als Tuffix.

[6] Zur Wirkung ängstigender Nachrichten und Bilder je nach Altersstufe siehe auch Maya Götz 2005.

[7] Zur Frage nach vererbten Traumata siehe beispielsweise MDR Wissen (2020).

[8] Saba-Nur Cheema (2020) beschreibt, wie ein Lehrer nach einer antisemitischen Tat eine Schülerin vor der Klasse fragte, „ob sie und ihre Familie denn Angst hätten, in Deutschland zu leben.“

[9] Zum Vergleich: „Etwa mit dem neunten Lebensjahr beginnen Kinder, fiktionale und reale Geschichten unterscheiden zu können. Eine distanzierende Wahrnehmung wird damit möglich.“ (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft)

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