Aufwachsen in salafistischen Familien – Herausforderung für die Jugendhilfe zwischen Religionsfreiheit und möglicher Kindeswohlgefährdung
9. April 2018 | Radikalisierung und Prävention

Wachsen Kinder in salafistisch orientierten Familien auf, stellt dies die Jugendhilfe vor große Herausforderungen. Wie soll sie umgehen mit einem vielschichtigen Phänomen zwischen Religionsfreiheit und einer möglichen Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII? Welche Konfliktpunkte bestehen? Wie sehen die sorgerechtlichen Möglichkeiten aus? Antworten bietet der Beitrag von Nora Fritzsche und Anja Puneßen (AJS NRW). Der Beitrag erschien zuerst im Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb.

Der zeitgenössische Salafismus bildet seit einigen Jahren den Ausgangspunkt einer zwar kleinen, aber schnell wachsenden Jugendsubkultur in Deutschland. Als solche erfährt er mittlerweile viel Aufmerksamkeit. Im Brennpunkt der Wahrnehmung stehen dabei zumeist Jugendliche, die sich eigenständig und meist gegen den erklärten Willen ihrer Eltern radikalisieren.

Das starke Anwachsen der Szene in den letzten Jahren und die Ausreise- und Rückkehraktivitäten ganzer Familien legt aber immer stärker auch die Frage nach der Situation von Kindern und Jugendlichen in salafistischen Familien nahe. „Salafisten erziehen Hass-Kinder“ titelten dazu im vergangenen Jahr zahlreiche Zeitungen. Der Leiter des Staatsschutzes der Frankfurter Polizei, Wolfgang Trusheim, berichtete von Einzelfällen, in denen Kinder Terroristen in Kampfmontur gemalt oder vom Leben als Dschihadist fantasiert hätten. „Sie bekommen zu Hause eingetrichtert, dass sie andere Kinder nicht akzeptieren sollen, weil sie Ungläubige seien“, zitierte ihn die Hessenschau. Forderungen richtete er an Jugendämter; sie seien in der Verantwortung, solche Kinder in Obhut zu nehmen. Auch die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder und FDP-Vize Wolfgang Kubicki forderten, von allen sorgerechtlichen Möglichkeiten Gebrauch zu machen und salafistisch orientierten Eltern das Sorgerecht für ihre Kinder zu entziehen. Doch wie sehen die rechtlichen Möglichkeiten hier überhaupt aus? Welche Familienverständnisse und Erziehungsstile findet man in salafistischen Familien vor und wo liegen Konfliktpunkte aus Sicht des Kinder- und Jugendschutzes?

Nora Fritzsche ist Politik- und Religionswissenschaftlerin und Fachreferentin für Radikalisierungsprävention in der AJS NRW. Anja Puneßen ist Volljuristin der Fachrichtung Kinder- und Jugendschutzrecht in der AJS NRW.

Diese Fragen fanden in der Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Salafismus bisher wenig Aufmerksamkeit. Sie sind aber gerade für den Kinder- und Jugendschutz natürlich von zentraler Bedeutung und werden von dieser Stelle (sowie aus dem Bereich der frühkindlichen Bildungseinrichtungen) seit einigen Monaten verstärkt gestellt. Das hat die Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS) NRW zum Anlass genommen, diesen Aspekt genauer – und differenzierter – in den Blick zu nehmen. Im Februar 2017 fand dazu im Rahmen des landesweiten Präventionsprojekts Plan P. eine erste Fachtagung statt. Sie beleuchtete und diskutierte mit Fachkräften aus ganz NRW vorherrschende Familienverständnisse und Erziehungsstile in salafistischen Familien sowie mögliche Konfliktpunkte aus Sicht des Kinder- und Jugendschutzes. Einige erste Ergebnisse soll dieser Artikel sammeln und darstellen, um sorgerechtliche Möglichkeiten im Kontext Salafismus auszuloten. Dafür ist es zunächst notwendig, sich mit den zugrundeliegenden Rechtsbestimmungen zu beschäftigen.


Art. 6 Abs. 2 GG

„Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“


Elternautonomie

Artikel 6 des Grundgesetzes bestimmt Elternautonomie als das Recht und die Pflichtvon Eltern zur Pflege und Erziehung ihrer Kinder. Er berechtigt sie also, ihre Kinder frei von staatlichen Eingriffen und nach ihren Vorstellungen zu erziehen. Aus der Erfahrung des Nationalsozialismus heraus, der Erziehungsstile im Sinne der politischen Ideologie vorschrieb, hat die elterliche Autonomie heute einen hohen Stellenwert. Eltern können „grundsätzlich frei von staatlichen Einflüssen und Eingriffen nach eigenen Vorstellungen darüber entscheiden, wie sie die Pflege und Erziehung ihrer Kinder gestalten“ (BVerfG 59, 360). Dem liegt die Annahme zugrunde, dass „in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution“ (BVerfGE 59, 360). Dies gilt auch im religiösen Kontext, hier gewähren Art. 4 GG und § 1 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung entsprechende Freiheiten und Rechte.[1]

Aus dem Elternrecht nach Art. 6 GG resultiert aber auch eine Pflicht, die Elternverantwortung, über deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht. Eltern sind als Garanten für die Förderung, die Versorgung und den Schutz ihrer Kinder verantwortlich (Möller, Praxiskommentar SGB VIII, § 8a, Rn. 1). Das Elternrecht findet daher dort seine Grenzen, wo Eltern in dieser Rolle versagen oder ihre elterliche Sorge missbrauchen.

Kindeswohlgefährdung

Voraussetzung für jede Art von staatlichem Eingriff in die Elternautonomie ist die Gefährdung des Kindeswohls auf seelischer und/oder körperlicher Ebene und die fehlende Gefahrenabwehr durch die Eltern. Von Kindeswohlgefährdung spricht man im Falle einer „gegenwärtige[n], in einem solchen Maß vorhandene[n] Gefahr, dass sich bei weiterer Entwicklung ohne Intervention eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“ (BVerfG in FamRZ 15, 112; BGH in FamRZ 16, 1752). Jeder Fall bedarf also einer individuellen Einschätzung nach Art der Gefährdung, der Erheblichkeit der Schädigung und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Dieser muss nicht bereits eingetreten, aber begründet vorhersehbar sein.

Das heißt: Bei Maßnahmen im Kontext einer Kindeswohlgefährdung geht es nicht um einen wie auch immer definierten Erziehungsstil, sondern darum, eine ganz konkrete Gefahrensituation abzuwenden. Diese muss nicht körperlicher Art sein. Gefährdungen des Kindeswohls können auch in Entwicklungsrückständen, Verwahrlosung, psychischen Schwierigkeiten wie der Neigung zur Gewalt, sozialer Unverträglichkeit oder in einer Traumatisierung Ausdruck finden. Zudem lässt sich eine Kindeswohlgefährdung selten an einer singulären Situation oder einem isolierten Tatsachenmerkmal festmachen, sondern beschreibt in der Regel ein umfassendes Versagen der Elternverantwortung oder einen Missbrauch der elterlichen Sorge.

An dieser Stelle tritt der Schutzauftrag des Jugendamtes in Kraft (§ 8a SGB VIII), das Maßnahmen zur Abwendung der Gefahr zu treffen hat. Dies beinhaltet in der Regel zunächst den Versuch, Eltern zur Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung zu bewegen. Die Entziehung des Sorgerechts und die Inobhutnahme ist das letzte und härteste Mittel. Es gelten der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Vorrang von Leistungen vor Eingriffen. Dies gilt auch im Kontext des Themas Salafismus.

Salafismus und Kindeswohlgefährdung

Es lässt sich hier zunächst festhalten, dass das Aufwachsen im Salafismus nicht per se eine Kindeswohlgefährdung darstellt. Zwar besteht im Salafismus auch abseits einer Militanz durchaus das Risiko einer potentiell konfliktträchtigen Erziehung, jedoch muss auch hier eine ganz konkrete und gegenwärtige Gefährdung des Kindeswohls im Rahmen einer Einzelfallprüfung festgestellt werden, bevor staatliche Eingriffe gerechtfertigt sind. Insoweit lassen sich Parallelen zum Aufwachsen im rechtsextremen Spektrum sowie sogenannten Sekten ziehen. Beides rechtfertigt nicht per se ein Eingreifen in die elterlichen Befugnisse.

Mögliche Merkmale

Abgesehen von extremen Fällen, wie einer bevorstehenden Ausreise in ein Kriegsgebiet zum Zweck der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung,[2] können – angelehnt an die Erfahrungen aus dem Themenfeld der sogenannten Sekten – folgende Verhaltensweisen in salafistischen Familien das Kindeswohl möglicherweise gefährden:

  • beträchtliche gesellschaftliche Isolation und Außenseiterrolle,
  • Unterdrückung persönlicher Bindungen, zum Beispiel zu Andersgläubigen (nach dem salafistischen Grundsatz al-Walā‘ wa-l-barā, Loyalität und Lossagung)
  • Kontrollpraktiken und Beschwörung von Schuldgefühlen,
  • stark angsterzeugende Erziehungsstile durch dämonische Bilder,
  • überzogene Verhaltensregeln,
  • Einschränkung der kindlichen Autonomie,
  • Zwangsehen beziehungsweise Kinderehen, die nicht unbedingt typisch sind, aber in bestimmten salafistischen Milieus vorkommen können,
  • körperliche „Züchtigung“ von Kindern und/oder Zeugenschaft häuslicher Gewalt gegen Frauen, die ebenfalls in einigen salafistischen Milieus als religiös legitimiert angesehen werden können,
  • dauerhafte Konfrontation mit Gewaltdarstellungen (beispielsweise in Terrorpropaganda oder der Darstellung von Kriegsgräuel).

Auch aus dem Bereich rechtsextremer und völkischer Familien lassen sich einige Parallelen ziehen. Hier werden neben den bereits genannten Punkten noch überfordernde Loyalitätskonflikte und autoritäre, auf Gehorsam und Unterwerfung abzielende Erziehungsstile genannt. All diese Punkte können in salafistisch geprägten Familien auftreten, müssen es aber nicht.[3] Auch hier gilt es also genau hinzuschauen, wie die konkrete Erziehungssituation aussieht.

Fazit

Radikale religiöse Überzeugungen oder sogar die Zugehörigkeit der Eltern zu extremistischen Strömungen sind keine ausreichenden Merkmale einer Kindeswohlgefährdung. Erziehungsleitbilder sind den Eltern überlassen. Auch daraus resultierende Nachteile für das Kind, die im Falle salafistisch orientierter Erziehung bestehen können, müssen hingenommen werden, soweit sie keine konkrete Kindeswohlgefährdung darstellen.

Staatliche Institutionen haben weder die Pflicht noch das Recht, für jedes Kind die bestmögliche Förderung oder auch nur eine gute Erziehung zu gewährleisten. Sie haben lediglich das Recht, sie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Diese Lage kann frustrieren, wenn im Falle sogenannter Sekten Kinder in ihrer freien Entwicklung beeinträchtigt werden oder wenn rechtsextreme Eltern eine Ideologie der Ungleichwertigkeit und des Hasses vermitteln. Und eben auch im Themenfeld salafistischer Erziehungsstile, die für Kinder erhebliche Konflikte und Nachteile mit sich bringen können.

Für sie muss es stets alternative und emanzipatorische Einflüsse außerhalb des Elternhauses geben; andere Lebensentwürfe, demokratische Werte, Gleichberechtigung und Pluralität müssen in ihrem Leben sichtbar sein. Die Schulpflicht spielt hier als ausgleichender Faktor eine ganz entscheidende Rolle. Aber auch die Jugendhilfe muss auf die Konfrontation mit solchen Eltern vorbereitet und entschlossen sein, mit ihnen einen gemeinsamen Weg zu finden und sie beispielsweise zur Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung zu motivieren, so schwierig dies in salafistisch orientierten Familien auch im Einzelnen sein mag.

Gerade in Familien im lediglich streng religiösen Spektrum besteht die Chance, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen. Denn auch hier gilt: Die salafistischen Eltern gibt es nicht. Auch hier werden Erziehungsziele ganz unterschiedlich umgesetzt. Wie bereits 1996 die Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ feststellte: „Faktisch ist von einer großen Streubreite des Umgangs mit Kindern und der Qualität der Eltern-Kind-Beziehung auch in diesen neuen religiösen Milieus auszugehen.“ Daran zu appellieren, dass auch viele dieser Eltern das subjektiv Beste für ihr Kind wollen, kann helfen, ihnen die nötigen Hilfen zukommen zu lassen.


Anmerkungen

1. Hier ist zu bedenken, dass Jugendliche ab dem 14. Lebensjahr uneingeschränkt religionsmündig sind. Bereits vorher gesteht die Gesetzgebung Kindern und Jugendlichen jedoch ein Mitbestimmungsrecht in religiösen Fragen zu.
2. Hier liegen jedoch bisher keine Präzedenzfälle vor. Einem Fall, in dem einen salafistisch orientierten Vater 2013 das Sorgerecht entzogen wurde (OLG Köln Urteil mit Az. 25 UF 9/13) lag vor allem der begründeten Befürchtung zugrunde, er könne das Kinder entgegen dem Willen der Mutter außer Landes bringen.
3. Darüber hinaus können selbstverständlich auch andere (nicht Salafismus typische) Arten der Kindeswohlgefährdung wie Vernachlässigung, körperliche und sexualisierte Gewalt, seelische Misshandlung etc. in salafistischen Familien auftreten.

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