„Antisemitismus lebt und gedeiht dort, wo Diskriminierung geduldet und akzeptiert wird“
23. Juli 2018 | Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung

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Marina Chernivsky leitet seit 2015 das von ihr gegründete Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment in der Trägerschaft der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Sakina Abushi hat mit ihr über Herausforderungen der Antisemitismusprävention, ihre Arbeit an Schulen und aktuelle Debatten zu Antisemitismus in Deutschland gesprochen.

Sakina Abushi: Ich bin neulich auf einer Veranstaltung auf Sie und Ihre Arbeit aufmerksam geworden. Sie haben gefragt: Ist das Thema Antisemitismus heute in Deutschland überhaupt besprechbar?

Marina Chernivsky: Nach 1945 war es quasi verpönt, sich offen antisemitisch zu artikulieren. Daraus entwickelten sich indirekte Kommunikationsformen, die den Umgang mit Antisemitismus bis heute regulieren. Eine umfassende Beschäftigung mit Antisemitismus fand aus meiner Sicht nie wirklich statt. Die Beschäftigung mit aktuellem Antisemitismus ist bis heute kein Bestandteil der pädagogischen Ausbildung und findet – wenn überhaupt – im Rahmen externer sowie sporadischer Angebote statt. Demzufolge ist es kein Wunder, dass unser »Wissen über Antisemitismus« Leerstellen aufweist.

Meinen Sie hier fehlende Definitionen?

Ich finde Definitionen wichtig, um im praktischen Sinne dem Phänomen beizukommen. Wir brauchen aber ein viel tieferes Verständnis von Antisemitismus, das über die Grenzen einer engen Begriffsbestimmung hinausgeht. Wir müssen eingestehen, dass antisemitische Versatzstücke nicht nur in der Vergangenheit, nicht nur am politischen Rand und auch nicht ausschließlich bei „Anderen“ vorhanden sind, sondern auch mitten in unserem eigenen Umfeld. Es beginnt oftmals ganz subtil, mit diffusen Andeutungen, Sticheleien und Stigmatisierungen und reicht bis zu verbaler Gewalt und physischen Übergriffen. Die Formen sind komplex und überlagern sich zunehmend. Deshalb sind Definitionen wichtige Wegweiser, sie bieten Rahmen an, aber ersetzen nicht die tiefergehende Reflexion über die Mechanismen und Funktionen eines solchen Phänomens.

Das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment

Was macht das Kompetenzzentrum in diesem Themenfeld?

Das Kompetenzzentrum ist ein Bildungs- und Beratungsinstitut mit Sitz in Berlin und bundesweiter Ausrichtung. Unsere Arbeit fußt auf Erfahrungen vorangegangener Projekte und Programme, die wir in den letzten 15 Jahren in den neuen und später auch in den alten Bundesländern kontinuierlich erprobt und umgesetzt haben. Viele Jahre lag unser Fokus auf der Entwicklung und Verstetigung wirksamer Ansätze zwecks Förderung von Fach- und Leitkräften im Bereich der Diskriminierungs- und Antisemitismusprävention. Diese auf einem breiten Wissens- und Erfahrungsbestand fußenden Bildungs- und Beratungsansätze bilden die Basis unserer heutigen Formate unter Einbeziehung eines weiteren Handlungsfeldes – die „Arbeit nach innen“ oder auch Stärkung der jüdischen Community in ihrem Umgang mit aktuellem Antisemitismus.

Wenn man sich die Website des Kompetenzzentrums anschaut, wird Ihr Ansatz, in Communitiys hineinzuarbeiten, sehr sichtbar. Heute Nachmittag findet zum Beispiel noch eine Supervision für Menschen statt, die im Themenfeld Antisemitismus arbeiten. Was sind die größten Herausforderungen für die Praktiker_innen im Feld?

Es gibt viele Herausforderungen: Ein antisemitisches Weltbild konstruiert Jüd_innen als eine homogene, „fremdartige“, „reiche“ und „einflussreiche“ Gruppe. Es gibt kaum „natürliche“ Begegnungen, das heißt antisemitische Vorstellungen stellen eine überindividuelle, nicht selbst gemachte Erfahrung dar. Der aktuelle Antisemitismus steht in engem Zusammenhang mit dem Erbe des NS, und die Beschäftigung damit wird häufig abgewehrt. In der Aus- und Weiterbildung finden Lehr- und Fachkräfte zudem kaum Unterstützung. Die inzwischen gut entwickelten Ansätze der politischen Bildung zu Antisemitismus erreichen die Regelstrukturen noch nicht umfassend. Die jahrzehntelange Thematisierung des Antisemitismus im Kontext der Geschichte und seine Subsummierung unter dem Rassismusbegriff haben die spezifischen Aspekte antisemitischer Ressentiments unsichtbar gemacht und die Entwicklung eines ausdifferenzierten Antisemitismusverständnisses erheblich verlangsamt.

Es gibt einfach auch Schwierigkeiten, Antisemitismus zu thematisieren, politisch, pädagogisch und privat. Bei Menschen, die zu diesem Thema arbeiten, gibt es daher einen hohen Bedarf an Selbstreflexion, Kommunikation und Austausch. Ein beständiges Angebot an Fortbildung und Beratung ist für uns im Kompetenzzentrum sehr wichtig.

Antisemitistische Vorfälle an Schulen

Das Kompetenzzentrum bietet auch Beratung für Schulen an. Unter anderem bearbeiten Sie auch konkrete antisemitische Vorfälle an Schulen vor Ort. Können Sie uns ein bisschen mehr über diese Arbeit erzählen?

Seit dem Sommer 2017 arbeitet im Kompetenzzentrum die neue Beratungsstelle OFEK. Das heißt, wir beraten Betroffene antisemitischer Gewalt und Diskriminierung und bieten gleichzeitig Schulen die Möglichkeit, sich beraten zu lassen. Wenn wir einen Vorfall an einer Schule haben, dann versuchen wir, die Schule darin zu unterstützen, nicht nur den konkreten Fall zu bearbeiten, sondern auch künftigen Vorfällen vorzubeugen. Fragen wie: Was verstehen Sie unter Antisemitismus? Welche Fälle nehmen Sie wahr? Wie ordnen Sie diese ein? Wie ist der Umgang mit Vorfällen an der Schule geregelt? Wie ist das Leitbild der Schule? Was bedeutet Diskriminierungsschutz und Umgang mit Diskriminierung? leiten uns dabei an. Wir arbeiten aber nach wie vor im präventiv-pädagogischen Bereich und versuchen, langfristige Bildungs- und Beratungsprozesse zu ermöglichen. Für jeden solchen Auftrag entwickeln wir ein eigenes, auf die Bedarfe und Ausgangsbedingungen der jeweiligen Träger abgestimmtes Konzept. Das Ziel ist es, Einzelne und Institutionen darin zu stärken, offen und diskriminierungssensibel zu agieren. Trotz der Bedeutung von Intersektionalität ist es wichtig, Antisemitismus als Phänomen ganz spezifisch unter die Lupe zu nehmen. Gleichwohl reicht die alleinige Thematisierung von Antisemitismus ohne die Bearbeitung anderer Diskriminierungen nicht aus. Antisemitismus lebt und gedeiht dort, wo alle anderen Diskriminierungen auf lange Zeit geduldet und akzeptiert wurden.

Sie verfolgen also einen langfristigen Ansatz.

Es gibt auch andere Formen der Intervention – Workshops, Infoveranstaltungen, Fachberatung nach Vorfällen. An uns werden ja viele Schulfälle herangetragen. In diesem Zusammenhang kommt es häufig dazu, dass wir die Fälle kurzfristig analysieren und beraten. Wir arbeiten systemisch. Wenn möglich, sprechen wir nicht nur mit beteiligten Kolleg_innen, sondern nehmen den konkreten Fall zum Anlass, den Umgang mit Antisemitismus und Diskriminierung im Allgemeinen zu thematisieren und weitere Beteiligte – die Schulaufsicht, die Schulleitung – einzubeziehen. Je nach Möglichkeit schlagen wir eine Reihe von Gesprächen vor, damit es ausreichend Zeit und Raum gibt für einen tiefgreifenden Blick auf das Problem und das Erschließen konkreter Maßnahmen und Veränderungsstrategien. Es soll daher im besten Fall nicht bei den kurzfristigen Interventionen bleiben. Sonst bleibt die Intervention oberflächlich, aber auch die Struktur der Institution bleibt außen vor.

Sie arbeiten nun seit mehr als 15 Jahren an Schulen. Beobachten Sie Veränderungen bei der Bearbeitung von Antisemitismus im schulischen Kontext?

Der Antisemitismus im Klassenzimmer ist kein neues Phänomen. Es beginnt bei der Annahme der Nichtpräsenz, bei Befremdungsgefühlen, bei Distanz und Distanzierung in Situationen, in denen Solidarität und Anerkennung unerlässlich sind. Jüdische Jugendliche erzählen zum Beispiel, dass ihre ersten Differenz- und Antisemitismuserfahrungen im Geschichts- oder Ethikunterricht entstehen, wenn sie sich als Juden zu erkennen geben. Es kommt auch seitens der Lehrkräfte vor – eine veränderte Beziehung, Anspielungen auf den Nahostkonflikt, Stereotypisierungen. Im Zuge der hiesigen Debatten um Antisemitismus an der Schule sprach eine Schulleiterin eine Mutter an: „Wenn etwas ist, bitte sprechen Sie mich direkt an. Aber kommen Sie nicht mit ›Ihrer‹ Presse, das werde ich hier nicht akzeptieren.“ Wenden wir uns dem Thema noch genauer zu, sehen wir, wie die antisemitische Sprache sich im Alltag entfaltet – „Jude“ wird in der Schule zunehmend als ein negativ aufgeladenes Schimpfwort benutzt. Derzeit beobachten wir viele Provokationsangriffe mit positiven Bezügen zum Nationalsozialismus und antizionistische Positionen, die mit verbaler und körperlicher Gewalt verbunden sind. Das Netz eröffnet noch einmal ganz andere Möglichkeiten für antisemitische Kommunikation und holt sie in die Schule rein.

Das anhaltende mediale Interesse für das Thema ist übrigens komplett neu. Ich weiß noch, als wir damit angefangen haben, an Schulen zu Antisemitismus zu arbeiten. Wir haben oft gesagt bekommen: „Wir haben hier keine Juden und auch keinen Antisemitismus.“ Wir haben damals versucht zu vermitteln, dass es gar keiner Juden bedarf, dass die Beschäftigung mit Antisemitismus wichtig ist für alle. Heute sehe ich deutliche Veränderungen. Immer mehr Kollegen sehen sich als Teil der Lösung und sind bereit, sich auf das Thema einzulassen. Die Motivation ist nicht immer intrinsisch, aber es reicht, um erstes Interesse zu wecken und für ein gemeinsames Lernen zu begeistern.

Antisemitismus in der gesellschaftlichen Mitte

Wie verbreitet ist Antisemitismus in der gesellschaftlichen Mitte?

Der Expertenkreis Antisemitismus konstatiert ja in seinem Bericht die Verbreitung und Relevanz des sekundären und israelbezogenen Antisemitismus, aber auch eine erhöhte antisemitische Mobilisierung im Rechts- und Linksextremismus sowie im islamischen Fundamentalismus. In den letzten Jahren ist in der Tat eine Entwicklung zu beobachten, die sehr beunruhigend ist. Die bis dato eher weniger sichtbaren Formen des Antisemitismus werden zunehmend überlagert durch den offenkundigen Hass und die Bereitschaft zur Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden. Sowohl die sogenannte Schuldabwehr und Täter-Opfer-Umkehr als auch die sich zur fundamentalen Judenfeindschaft gesteigerte „Israelkritik“ treten heute in nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen in Erscheinung. Die sekundären und israelbezogenen Ideologieformen liegen dabei sehr nah beieinander, sie resultieren mehr oder weniger aus der Erinnerungsabwehr und reagieren mit Aggression auf Juden und den Staat Israel.

Für mich zeigen antisemitische Karikaturen in renommierten Tageszeitungen, wie tief verwurzelt der Antisemitismus ist. Kinderfressende Monster, Weltherrschaftsphantasien und all das, was solche Bilder eben suggerieren, werfen Fragen auf: Wie kann das „übersehen“ werden? Im Gegensatz dazu haben Jüdinnen und Juden ein sehr differenziertes Gefühl dafür und sehen es sofort. Und diejenigen, die dieses Empfinden „nur“ als Befindlichkeit und nicht als reale Erfahrung markieren, sind sich ihrer Dominanz im Kampf um die Definition nicht bewusst. Wie können wir gegen Antisemitismus bei Jugendlichen vorgehen, wenn Erwachsene in bürgerlichen Medien ihren Antisemitismus „übersehen“ und abdrucken? Wie können wir über den Antisemitismus der „Anderen“ sprechen, wenn der eigene nie bemerkt wurde?

Der Antisemitismus der „Anderen“

Man benutzt den Antisemitismus der „Anderen“ also, um vom eigenen abzulenken?

Die Sprecher_innenperspektive ist hier enorm wichtig. Ich glaube nicht, dass Menschen immer klar ist, was Antisemitismus wirklich bedeutet. Aktuell diskutiert die Mehrheitsgesellschaft über den Antisemitismus der „Anderen“, ohne wirklich imstande zu sein, den tagtäglichen Antisemitismus, der sich in Sprache, in Bildern und Gefühlen festgesetzt hat, kritisch zu dekonstruieren. Es gibt auch in Deutschland im linken und rechtem Spektrum, auch in extremistischen Milieus ganz viel Antisemitismus, und das war nie weg. Wo soll das hin gewesen sein? Da ist zum Beispiel der Begriff „importierter“ Antisemitismus. Ich habe Kritik an diesem Begriff.

Ich zitiere einmal, was die Kanzlerin vor einigen Wochen gesagt hat: „Wir haben jetzt auch neue Phänomene, indem wir Flüchtlinge haben oder Menschen arabischen Ursprungs, die wieder eine andere Form von Antisemitismus ins Land bringen.“ Sie spricht von einer anderen Form, andere sprechen von importiertem Antisemitismus. Sie distanzieren sich von solchen Begriffen?

Sie spricht über die veränderten Formen des Antisemitismus, die wir nicht verleugnen können. Antisemitismus und Antizionismus sind in manchen Ländern im Nahen Osten auf der politischen Agenda. Das prägt Menschen und schleicht sich in ihr Denken ein. Aber es gibt gleichzeitig eine bemerkenswerte Kontinuität antisemitischer Ressentiments über die Jahrzehnte und Generationen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Der Begriff „importiert“ negiert diese Kontinuität und vermittelt den Eindruck, das Problem wäre neu und von außen zugetragen.

Stigmatisierung vermeiden

Wie kann man diese Fragen besprechen, ohne Menschen zu stigmatisieren?

Diese Frage ist für die Pädagogik unglaublich wichtig. Jugendliche verinnerlichen die gesellschaftlichen Diskurse, sie wissen, wie man über sie spricht. Antimuslimischer Rassismus schleicht sich auch in das Denken der Lehrkräfte ein. Stigmatisierungen im Mikrokosmos pädagogischer Einrichtungen sind oftmals das Ergebnis gesellschaftlicher Debatten. Kein Ansatz wird funktionieren, wenn Jugendliche nicht als gleichwertige Akteure und handelnde Subjekte angesprochen werden. Es muss uns klar sein, dass eine solche Pauschalisierung rassistisch ist. Bei der aktuellen Debatte um den Antisemitismus wird Muslimen pauschal ihr Deutschsein abgesprochen. Das löst bei muslimischen Jugendlichen noch mehr Abwehr aus.

In der Pädagogik bedeutet das grundsätzlich, dass wir suggestive und zuschreibende Arten, Inhalte zu vermitteln, vermeiden müssen. Ein solcher Ansatz verfehlt das eigentliche Ziel und versetzt die Adressat_innen in die Rolle von passiven Rezipient_innen. Aber Menschen sind emanzipierte und handelnde Subjekte. Sie haben die Macht, diese Art der Interaktion zu sabotieren und ihre bisherigen Ansichten zu behalten. Das heißt, wir müssen sie erreichen, begeistern, inspirieren. Wir können sie mit ihren Geschichten ansprechen, mit ihnen gemeinsam ihre Fragen eruieren, Widersprüche aufdecken. Ein solches Lernen hat Grenzen, manche Situationen und Meinungen sind nicht verhandelbar. Aber ein solches Lernen bietet auch die Chance, Emanzipationsprozesse anzustoßen, die weit über die Grenzen dieses gemeinsamen Lernens reichen. Menschen bleiben am Ball, wenn sie merken, dass es sich besser lebt ohne Hass und Voreingenommenheit, aber sie müssen auch verstehen, dass sie es stets aufs Neue aushandeln müssen.

Empfehlungen für Pädagog_innen

Was heißt das konkret für die Pädagog_innen?

Es ist wichtig, jede Gruppe als heterogen zu betrachten. Pädagog_innen können Kinder und Jugendliche darin unterstützen, sich als handelnde und wandelnde Subjekte zu begreifen, die sich von monolithischen Vorstellungen vielleicht peu à peu verabschieden und sich aktiv gegen Ausgrenzung einsetzen. Das kann aber nicht kognitiv vermittelt werden. Hierfür bedarf es einer dialogischen, prozesshaften und erfahrungsbasierten Kommunikation, die Anerkennung ermöglicht, aber auch konfrontiert, wenn Bedarf an Intervention besteht. Schule war noch nie ein sicherer Ort, wo solche Dinge korrigiert werden. Schule ist leider eher ein Ort, wo alles aufeinanderprallt.

Es gibt Fälle, in denen Sanktionen unumgänglich sind. Der Schutz der Betroffenen geht vor. An vielen Stellen ist es aber auch möglich, pädagogisch zu intervenieren und an Positionen zu rütteln. Werden solche Zwischenfälle nicht thematisiert, bekommen die Jugendlichen die Botschaft, dass das, was sie denken, akzeptiert ist. Es ist aber wichtig, Jugendliche nicht gleich zu verurteilen, sondern ihnen Raum zu geben ihre Positionen hinterfragen zu lernen. Taten können wir unterbinden, aber Einstellungen nicht. Deshalb brauchen wir eine antisemitismuskritische Pädagogik, die nicht entlarvt, sondern Motive in den Blick nimmt und Optionen bietet, Wege aus dem Antisemitismus zu beschreiten.

In der pädagogischen Praxis mit Jugendlichen sind die Schnittstellen zwischen Prävention und Intervention fließend, insbesondere im Kontext der Schule und Jugendsozialarbeit. Hierfür sind interdisziplinäre Bündnisse und Kooperationen (bspw. mit Opferberatungsstellen) wie auch die Zusammenarbeit zwischen Schule, Jugendhilfe, Polizei und Justiz ein wichtiger Bestandteil der Präventionsarbeit.

Es gibt ja auch Stimmen wie Wolfgang Benz, den ehemaligen Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, die sich für einen komparativen Ansatz zwischen gegenwärtigem antimuslimischem Rassismus und historischem Antisemitismus aussprechen. Benz stellte viele Parallelen in Diskursen über Jüd_innen und Muslim_innen fest und sagte unter anderem, dass die vermutete „Parallelgesellschaft“ der Muslime dem Konstrukt des jüdischen „Staat im Staates“ entspricht.

Vergleiche sind, glaube ich, nicht der richtige Weg. Es geht uns vielmehr um Verflechtungen, um die Möglichkeit, Phänomene zueinander in Beziehung zu setzen. Es ist wichtig, sich die Entwicklungslinien, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten genauer anzuschauen, denn in der Gegenwart bedingen sie sich gegenseitig. Wenn Juden als Juden angegriffen werden, dann ist es wichtig, das antisemitische Motiv konkret zu benennen. Das ist sehr bedeutsam für die Betroffenen, aber auch für das analytische Verständnis eines solchen Falles. Wir müssen verstehen, was dazu geführt hat und welche Motive, Inhalte und Wirkungen der Fall mit sich bringt. Wir müssen in der Lage sein, die Phänomene in ihrer Spezifika zu sehen, aber nicht isoliert voneinander.

Es ist zudem wichtig, Antisemitismus und Rassismus nicht gegeneinander auszuspielen. Wir können lernen, gesellschaftliche Schieflagen zu besprechen, ohne Menschen pauschal zu Tätern zu stilisieren und dieses Verhalten an ihrer Herkunft oder Religion festzumachen. Bei der Debatte um den sogenannten muslimischen Antisemitismus werden Zugehörigkeiten geregelt und Identitäten reguliert. Wir müssen lernen, uns durch diese Diskurse zu navigieren und unsere Positionen zu verteidigen. Wir alle tragen die Verantwortung für diesen Diskurs.

Funktioniert eigentlich die Bekämpfung von Antisemitismus durch Bildungsangebote an Schulen? Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, denkt zum Beispiel, dass der Nahostkonflikt eine reine Projektionsfläche für Konflikte in der Migrationsgesellschaft ist und es in der Antisemitismus-Prävention gar nicht nötig sei, Aufklärung zum Nahost-Konflikt zu betreiben. Was denken Sie?

Wenn der Antisemitismus ein Gerücht über Juden ist, dann ist der Antizionismus ein Gerücht über Israel. Mit faktischem Wissen über den Nahostkonflikt alleine kommen wir leider nicht weiter. Wir haben es bei diesem Thema mit Emotionen und Perspektiven zu tun, die identitätsstiftend sind. Es braucht daher eine tiefergehende Beschäftigung mit Bedürfnissen und Motivationen, die ein solches Identitätsverständnis mitbedingen. Wir brauchen auch Ersatznarrative und Vorbilder, die einen multiperspektivischen Blick auf den Konflikt ermöglichen und die Voreingenommenheit entschärfen. Wir müssen dieses Thema bearbeiten, die Frage ist nur, wer macht es und wie. Die Behandlung des Nahostkonfliktes können die Lehrkräfte oftmals nicht ohne Unterstützung leisten. Das Thema ist viel zu komplex und weit weg von unseren Realitäten hier.

Eine Schülerin hat einmal zu mir gesagt: „Ich will nicht hassen, aber ich weiß nicht, wie.“ Dieser Satz hat mich gepackt. Das war so mutig, so offen, aber auch schwer zu ertragen. Für mich ist es eine Art Auftrag, den ich sehr ernst nehme und an dem ich meine Arbeit orientiere.

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