Ambiguitätstoleranz – ein zentrales Konzept für Demokratiebildung in diversen Gesellschaften
25. Februar 2021 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung, Jugendkulturen und Soziale Medien, Radikalisierung und Prävention

Eine pluralistische Gesellschaft kommt nicht ohne Widersprüche aus. Das Erkennen und Aushalten von Widersprüchen stellt eine wichtige Kernkompetenz für das Zusammenleben dar. In ihrem Beitrag plädiert die Sozialwissenschaftlerin Claudia Lenz daher dafür, der Förderung von Ambiguitätstoleranz in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit mehr Gewicht zu geben.

Ambiguitätstoleranz beschreibt die Fähigkeit, mit Uneindeutigkeit und Unsicherheit konstruktiv umzugehen. In diesem Beitrag möchte ich aufzeigen, warum diese Eigenschaft für das demokratische Funktionieren von pluralistischen und diversen Gesellschaften entscheidend ist – insbesondere in Zeiten von Krisen und gesellschaftlicher Transformation. Weiterhin möchte ich den Blick darauf lenken, dass eine individualisierende Sicht auf die Entwicklung von Ambiguitätstoleranz im Kontext von Demokratiebildung zu kurz greift, und mit einem Ausblick auf institutionell und systemisch angelegte Herangehensweisen an die Förderung von Ambiguitätstoleranz abschließen.

Doch zunächst zur Aktualität von Ambiguitätstoleranz im Kontext von COVID-19: Die Pandemie stellt Gesellschaften weltweit vor unterschiedliche Herausforderungen und hat verschiedene, miteinander verbundene Krisen ausgelöst: akute Überlastung in der Gesundheitsversorgung, massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die wiederum zu ökonomischen Verlusten führten und viele Menschen in ihrer persönlichen ökonomischen Existenz bedrohten.

2020 stellt für die Menschen somit eine Reihe von Zumutungen dar:

  • Ängste vor den möglichen fatalen Folgen der Pandemie,
  • massive Einschränkungen im persönlichen Leben jedes Menschen mit sozialen, psychologischen und ökonomischen Konsequenzen,
  • eine zeitweilige Außerkraftsetzung geltender Spielregeln und demokratischer Entscheidungsfindung.

Hinzu kommt, dass all diese Zumutungen auf der Grundlage begrenzter wissenschaftlicher Erkenntnisse zu diesem neuartigen Virus ertragen werden mussten. Damit beruhten die Gegenmaßnahmen auf generellen Annahmen und Ansätzen der Pandemiebekämpfung – die sich von Land zu Land unterscheiden können (siehe Schweden als europäischer Sonderweg). Diese Situation stellte und stellt nach wie vor eine weitere, grundlegende Zumutung dar: die Ungewissheit und Unabsehbarkeit des Ausnahmezustands.

COVID-19 hatte auch für das Bildungssystem massive Konsequenzen in Form von monatelangen Schulschließungen. Vielen bildungspolitischen Entscheidungsträger*innen bereiten vor allem die „verlorenen“ Lerninhalte aufgrund des durch den Lockdown bedingten Schulausfalls Grund zur Sorge. Die Folgen der Pandemie sind jedoch auch ein Indikator für die Notwendigkeit einer Stärkung von Demokratiekompetenz und von Ambiguitätstoleranz als zentralem Element einer solchen Kompetenz.

Das Florieren COVID-19-bezogener Desinformation, denen Jugendliche in vielfältiger Weise ausgesetzt sind, ist eines der Beispiele dafür, warum Ambiguitätstoleranz ins Blickfeld rückt.

Angesichts der oben genannten Zumutungen ist die Attraktivität von Informationen, die eindeutige Erklärungen präsentieren und heilende Kuren versprechen, nicht verwunderlich. Die COVID-19-Krise ist die Stunde derjenigen, die sichere Antworten geben (selbst wenn es offene Lügen sind), die den „großen Überblick“ und die „tieferen Zusammenhänge“ versprechen (selbst wenn sie dem gesunden Menschenverstand widersprechen) und klare „Schuldige“ und Feindbilder präsentieren – bieten doch diese Deutungsangebote den Anschein bzw. die Illusion von Orientierung, Vorhersehbarkeit und Kontrolle.

Hier kommt die Ambiguitätstoleranz ins Spiel. Denn die Alternative zu alles erklärenden Konspirationstheorien ist nicht die kritiklose Annahme und Befolgung von „offiziellen“ Wahrheitsversionen und Maßnahmen, sondern die Fähigkeit, sich kritisch und reflektierend mit ihnen auseinanderzusetzen. Dies setzt jedoch die Fähigkeit voraus, Ungewissheit und Uneindeutigkeit für eine gewisse Zeit ertragen zu können. Und genau das ist die Grunddefinition von Ambiguitätstoleranz.

Was ist Ambiguitätstoleranz?

Das Konzept der Ambiguitätstoleranz wurde 1949 von der Psychoanalytikerin Elsa Frenkel-Brunswik entwickelt, deren Forschungen in Verbindung mit dem Konzept der autoritären Persönlichkeit standen. Stangl (2020) beschreibt Intoleranz der Ambiguität als „das Nicht-ertragen-Können von Mehrdeutigkeit“ und als Unfähigkeit, „mehrdeutige und gegensätzliche Sachverhalte [zu] ertragen“, wodurch „eine starre, unflexible, zwanghafte Haltung vorherrscht. Dabei werden Zwischentöne und komplexe Sachverhalte abgelehnt, da sie die Menschen irritieren, eine Abwehrtendenz, die eng verwandt ist mit einer negativen Einstellung gegenüber Andersartigem und der Ablehnung des kulturell Fremden.“

Entscheidend ist also eine Tendenz zur Abwehr von Wirklichkeitsaspekten, die sich nicht in rigide Ordnungssysteme und eindeutige Identifikationen einfügen. Diese Abwehr geht oftmals einher mit einer feindlichen Einstellung gegenüber Personen/Gruppen, die als Träger*innen dieser Eigenschaften betrachtet werden. Viele Autor*innen weisen darauf hin, dass diese Abwehr auch aus einer Überforderung angesichts der Komplexität und Dynamik sich rasch verändernder, moderner Gesellschaften entsteht.

Die Moderne ist geprägt von der aufklärerischen Überzeugung, dass sich das Individuum selbstverantwortlich in sozialen und gesellschaftlichen Wirklichkeiten zu orientieren vermag und in der Lage ist, darin eigenständige Entscheidungen zu treffen. Dies ist ein Freiheitsversprechen – aber auch eine Herausforderung. Zygmunt Baumann (2005) verweist darauf, dass dieser moderne Grundzustand unweigerlich mit Ambivalenz einhergeht. Schließlich bieten die Deutungen und Orientierungsmuster der Vergangenheit nur begrenzt Antworten auf die Widersprüche und Mehrdeutigkeiten der Gegenwart und Zukunft. Kiehl und Schnerch (2018) bemerken:

„Akzeptiert man nun, dass gesellschaftliche Moderne unweigerlich Widersprüche, Doppel- und Mehrdeutigkeiten produziert, versteht man auch, warum das Gefühl von Dissonanz zum ständigen Begleiter wird.“

Aus einer solchen Perspektive betrachtet, ist es verständlich, dass ideologische Deutungsangebote, die eindeutige Identitäts- und Zugehörigkeitsangebote machen und endgültige Antworten versprechen, sehr attraktiv erscheinen können. Das verdeutlicht auch die zentrale Rolle der Demokratiebildung für die Befähigung, die Ambiguität konstruktiv in eine Gestaltungsoffenheit zu übersetzen. Dies kommt in der Beschreibung der Ambiguitätstoleranz im Referenzrahmen „Kompetenzen für demokratische Kultur“ (Council of Europe 2018:45) zum Ausdruck:

„ [T]he term ‚tolerance‘ should be understood here in its positive sense of accepting and embracing ambiguity (rather than in its negative sense of enduring or putting up with ambiguity).“

Aspekte der Ambiguitätstoleranz

In der Literatur wird Ambiguitätstoleranz auch als Unsicherheitstoleranz, Mehrdeutigkeitstoleranz oder Toleranz für Ambivalenz bezeichnet. Mit diesen Begriffen rücken jeweils unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund:

  • Ungewissheit und Mehrdeutigkeit als Grenzen der Erkenntnis

Als Menschen treffen wir unsere Entscheidungen, ob individuell oder kollektiv, immer auf der Grundlage von begrenzter Information und begrenztem Wissen. Neue Informationen können hinzukommen, die andere Perspektiven oder gar eine Revision des getroffenen Urteils erforderlich machen. Zuweilen ermöglicht die Wissensgrundlage mehrere, vielleicht widersprüchliche Schlussfolgerungen, dennoch ist ein Handeln erforderlich. Ein Bewusstsein dieser Begrenztheit und Vorläufigkeit bedeutet eine Offenheit für Erweiterungen, Korrekturen und Revisionen. Dies ist eine wichtige Dimension von Ambiguitätstoleranz.

  • Unvorhersehbarkeit

Eine Konsequenz des vorigen Punktes besteht darin, dass menschliches Handeln nur in begrenztem Maße planbar und die Folgen niemals gänzlich vorhersehbar sind. Dies gilt auf der Ebene individueller Lebensentscheidungen und erst recht dort, wo kollektives, soziales und politisches Handeln ins Spiel kommen. In komplexen Gesellschaften und angesichts des raschen technologischen, sozialen und ökologischen Wandels werden Zukunftserwartungen und -planungen zusehends ungewiss. Trotz dieser Unvorhersehbarkeit dennoch nicht handlungsunfähig zu werden, erfordert Ambiguitätstoleranz.

  • Uneindeutigkeit als Identitätserfahrung

Kein Mensch lässt sich endgültig auf eine Reihe von statischen Eigenschaften reduzieren. Jede Person läuft Entwicklungen durch, die unterschiedliche Identifikationen, Rollen und Zugehörigkeiten mit sich bringen – die zuweilen auch in Widerspruch zueinander geraten können. Die Abwehr dieser „inneren Vielfalt“ sowie der zuweilen damit verbundenen emotionalen Ambivalenz führt zu polarisierenden und manichäischen Orientierungen: Die Welt wird in Freunde und Feinde unterteilt. Ambiguitätstoleranz bedeutet, etwas von dem „Anderen“ auch im „Eigenen“ erkennen und aushalten zu können.

Unvorhersehbarkeit, Unsicherheit und Unabgeschlossenheit sind somit Grundaspekte menschlicher Existenz schlechthin. Sie kommen jedoch verstärkt in demokratischen, pluralistischen Gesellschaften zum Tragen – und können geradezu als Kennzeichen von Demokratie bezeichnet werden.

Ambiguitätstoleranz als Voraussetzung von Demokratie

Die Tatsache, dass Menschen „in der Mehrzahl“ existieren, wie es die Philosophin Hannah Arendt (1956) ausdrückte, stellt eine grundlegende Voraussetzung des Politischen und folglich der Demokratie dar. Menschen in ihrer Verschiedenheit haben unterschiedliche Sichtweisen auf die Wirklichkeit, voneinander abweichende Einstellungen und widersprüchliche Interessen. Das bringt die Notwendigkeit von Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen mit sich. Eine lebendige Demokratie basiert nicht nur auf dem Pluralismus von Meinungen, sondern auch darauf, dass es Raum für unterschiedliche Lebensweisen gibt. Umgekehrt ist autoritäre politische Herrschaft dadurch gekennzeichnet, dass politische Einheit und kulturelle Konformität erzwungen werden.

In einer Demokratie konstruktiv interagieren zu können, bedeutet daher, in einem Kontext der Vielfalt interagieren zu können und dabei die als anders Wahrgenommenen als Gleichwertige anzuerkennen. Wird jedoch die Andersartigkeit als verunsichernd und bedrohlich empfunden, wird sie abgelehnt und schlimmstenfalls zu einem Feindbild.

Pluralität im Sinne von Interessen- und Meinungsvielfalt sowie auch Diversität im Sinne von Vielfalt von kulturellen Orientierungen, Identifikationen und Lebensweisen erfordern das Aushalten und die Fähigkeit zur konstruktiven Gestaltung von Mehrdeutigkeit und Unabgeschlossenheit.

Ambiguitätstoleranz kann dementsprechend als Kernelement von Demokratie- und Diversitätskompetenz betrachtet werden. Hierzu zählen – unter anderem – folgende Dimensionen:

  • Anerkennung von und Offenheit für die divergierenden Sichtweisen, Interessen und Argumente von anderen,
  • Kompromissbereitschaft als Modus der Entscheidungsfindung und Einigung,
  • Bereitschaft zur Änderung eigener Standpunkte,
  • Aushalten und Anerkennung des/der Verschiedenen als gleichwertig,
  • Wertschätzen des Nichtverstehens als Ausgangspunkt für neue Einsicht,
  • Bereitschaft zur Änderung bestehender Deutungsmuster und Einstellungen.

Wie kann Ambiguitätstoleranz durch Demokratiebildung entwickelt werden?

Die aufklärerische Antwort auf die Komplexität, aber auch Gestaltungsoffenheit menschlicher Wirklichkeit ist die Bildung mit dem Ziel der Mündigkeit, die in der Definition Wolfgang Klafkis (1999) bereits eine dreifache und damit auf Komplexität ausgerichtete Orientierung beinhaltet: Autonomie, Mitbestimmung und Solidarität.

Bezogen auf die zuvor ausgeführten Aspekte der Ambiguitätstoleranz umfasst Mündigkeit zum einen die Fähigkeit zum unabhängigen, selbstständigen Denken, zur Eigenverantwortlichkeit, also auch zur Übernahme von Verantwortung für die eigene Begrenztheit. Zum anderen bedeutet sie jedoch die über die eigene Person hinausgehende Verantwortlichkeit – für andere und für eine mit anderen geteilte Welt. Mündigkeit ist somit immer sowohl inner- also auch intersubjektiv ausgerichtet und umfasst den bewussten und reflektierten Umgang mit den damit einhergehenden Spannungen, Widersprüchen und Dilemmata.

Wie kann schulische und außerschulische Bildung die Entwicklung von Ambiguitätstoleranz in ihren unterschiedlichen Facetten fördern? Es ist klar, dass es hier nicht einfach um einige wenige Methoden in einer Sozialkundestunde gehen kann. Stattdessen muss es sich um eine Bildungsorientierung handeln, die sämtliche Aspekte des Lernprozesses und dessen institutionelle Rahmenbedingungen umfasst und in der folgende Punkte von zentraler Bedeutung sind:

1. Gleichwertigkeit in Diversität erfahren

Da Ambiguitätstoleranz so stark an Identitätsbildung und grundlegende, internalisierte Mechanismen der Anerkennung und Abwertung von Andersartigkeit gebunden ist, muss ein „Erlernen“ an Erfahrungen von Diversität als „Normalzustand“ und Gleichwertigkeit von Andersartigem gebunden sein. Solche Erfahrungen helfen, in den Spannungen und Widersprüchen zu manövrieren und darin Handlungsräume zu erschließen.

2. Demokratische Prozesse erfahren

Auf die gleiche Weise muss auch ein Umgang mit den Herausforderungen und Möglichkeiten demokratischer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung, das Aushalten von Interessenkonflikten sowie die Fähigkeit zur Kompromissbildung durch Erfahrung reeller demokratischer Teilhabe erlernt werden. Hier sind sowohl die Einübung verschiedener Formen wie Argumentation, Dialog und politischer Debatte im Unterricht eingeschlossen als auch das reelle Einüben von Entscheidungsfindung und Mitbestimmung im Klassenraum, in der Schule oder in Verbindung mit Lokaldemokratie. Schulische und außerschulische Bildung können nicht nur Erfahrungsräume, sondern auch Räume zur Bearbeitung und Reflexion jener Erfahrungen bieten, die für den/die Einzelne herausfordernd und verunsichernd sind.

3. Wissenskonstruktion und Wahrheitssuche als intersubjektives Unterfangen

In Zeiten, in denen eine unbegrenzte Anzahl „alternativer Wahrheiten“ die Echokammern des Internets verlassen und in den öffentlichen Raum gelangen, erlangt die Einübung von kritischem Denken als Komponente der Ambiguitätstoleranz einen zentralen Stellenwert. Kritisches Denken muss Kriterien für Wahrheits- und Plausibilitätsansprüche anwenden und zugleich in der Lage sein, die Begrenztheit dieser Kriterien zu reflektieren. Die „Black Lives Matter“-Bewegung, die nach dem Mord an George Floyd durch einen Polizisten in den USA wieder verstärkt aufgekommen ist, hat beispielsweise die Aufmerksamkeit auf Formen des alltäglichen und systemischen Rassismus auch in Europa gelenkt und „blinde Flecken“ der Mehrheitsgesellschaft aufgezeigt. Hier spielt das Bewusstsein um die Positioniertheit von Wissen eine Rolle.

4. Empathie/Perspektivübernahme

In Ergänzung des vorigen Punktes erfordert Ambiguitätstoleranz ein Sich-hineinversetzen-Können in Standpunkte, Sichtweisen und Erfahrungen von anderen. Wo der Mangel an Ambiguitätstoleranz zu rigider Abgrenzung und Abwehr führt, um Eindeutigkeit und starre Deutungsmuster aufrechterhalten zu können, erfordert das Einüben von Ambiguitätstoleranz das Vermögen zur Perspektivübernahme (kognitiv) und zum „Hineinleben“ (affektiv), ohne jedoch in eine „Über-Identifikation“ zu geraten und den Abstand zur eigenen Erfahrung zu verlieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist Geschichtsunterricht, in dem der Versuch, sich in die Erfahrungen von Menschen der Vergangenheit hineinzuversetzen, für selbstverständlich Gehaltenes und eigene Normvorstellungen infrage stellen kann. Gleichzeitig muss jedoch das Bewusstsein gewahrt werden, dass sich der Vergangenheit immer aus der Gegenwart und heutigen Deutungsmustern heraus angenähert wird.

5. Dilemmatraining

Ein sehr effektiver Weg, Ambiguitätstoleranz zu fördern, ist die Arbeit mit moralischen Dilemmata. Alle Menschen erleben zuweilen, dass sie vor Entscheidungen gestellt werden, in der jede Handlungsalternative eigene moralische Prinzipien verletzen und/oder ungewollte Konsequenzen mit sich bringen würde. Schulische und außerschulische Bildung können reale/erfahrene oder fiktive Situationen zum Gegenstand von Reflexion machen und einen Dialog sowohl über Handlungsalternativen als auch den Umgang mit den begleitenden Heraus- und Überforderungen ermöglichen.

6. Dialog: „Sich selbst aufs Spiel setzen“

Die intersubjektive Dimension des Lernprozesses ist entscheidend für die Entwicklung von Ambiguitätstoleranz. Die Erfahrung des/der konkreten anderen als gleichwertigen Gegenübers (siehe Punkt 1) erlaubt es, in einen Dialog einzutreten, in dem die Grenzen von „Eigenem“ und „Fremden“ untersucht, verschoben und aufs Spiel gesetzt werden. In der intersubjektiven Kommunikation, in der gegenseitige Anerkennung und Vertrauen gewährleistet sind, kann somit vermeintlich Fremdes oder Abgewehrtes zunächst zugelassen und in einem darauffolgenden Schritt vielleicht sogar in das Eigene integriert werden. Dies kann ein überzeugendes Argument einer/eines vermeintlichen „Meinungsgegner*in“ oder das Sich-Erkennen in der Erfahrung einer Person, mit der man meinte, keine Gemeinsamkeiten zu haben. Solche Prozesse sind riskant, da sie klare Grenzen in Bewegung bringen, gefällte Urteile hinfällig werden lassen und Neuorientierung erfordern.

Angesichts dieses Risikos müssen solche Lernprozesse in einem Klima der Anerkennung und stärkenden Unterstützung stattfinden. Die Lehrkraft muss ständig abwägen, ob und wie weit er/sie die Lernenden dazu einladen und herausfordern soll, sich in dieser Weise „aufs Spiel zu setzen“ und damit persönlich vielleicht notwendige Schutzmechanismen aufzugeben.

Ambiguitätstoleranz und/als Privileg?

Ambiguitätstoleranz als „Forderung“ an das sich selbst steuernde und regulierende Individuum kann an neoliberale Engführung auf die alleinige Selbstverantwortlichkeit des Subjekts unter Ausblendung oder Verschleierung von Rahmenbedingungen erinnern.

Ohne Zweifel sind eine gesicherte ökonomische Lebensgrundlage, ein sozialer und Bildungshintergrund, der das persönliche Fortkommen begünstigt, bessere Voraussetzungen, um Unsicherheit offen und tolerant zu begegnen, als eine Position der Armut und sozialen Deklassierung. Zynisch ausgedrückt, kann die Beschreibung von Ambiguitätstoleranz wie ein bourdieusches soziales Distinktionsmerkmal erscheinen – ein Luxus für die gebildete Mittelschicht.

Eine wichtige Einsicht, die aus einer solchen Anfrage entstehen kann, gilt den systemischen und institutionellen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen, die die Entwicklung von Ambiguitätstoleranz fördern – oder erschweren.

Eine Perspektive auf Ambiguitätstoleranz als Privileg unterschlägt jedoch, dass sich Status und Privilegien auch einschränkend auf das Vermögen auswirken können, andere als die eigene Perspektive wahr- und einzunehmen und offen für Veränderung zu sein. Die Frage ist somit, wie schulische und außerschulische Bildung sowie deren institutionelle und systemische Rahmenbedingungen dazu beitragen können, dass Lernende jeglicher Herkunft und jeglichen Hintergrundes Ambiguitätstoleranz entwickeln können.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Rahmen des Educational Briefing 2020 auf der Webseite der der Schwarzkopf-Stiftung. Wir danken der Stiftung und der Autorin für die Erlaubnis, den Beitrag hier wiederveröffentlichen zu dürfen.


Literatur

Bauman, Z. (2005) Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburger Edition, Hamburg 2005.

Council of Europe (2018) Reference Framework Competences for democratic culture, Vol. 1, http://rm.coe.int/prems-008318-gbr-2508-reference-framework-of-competences-vol-1-8573-co/16807bc66c.

Frenkel-Brunswik, E. (1949): Intolerance of Ambiguity as an Emotional and Perceptual Personality Variable. In: Journal of Personality 18, S. 108–143.

Kiehl, Carolin & Schnerch, Barbara (2018) Demokratiekompetenzen auf dem Prüfstand – Schule als Erfahrungsraum für Mündigkeit und Ambiguitätstoleranz?

Klafki, Wolfgang (1999): Schlüsselprobleme und Schlüsselqualifikationen – Schwerpunkte neuer Allgemeinbildung in einer demokratischen Kinder- und Jugendschule. In: Hepp, Gerd/Schneider, Herbert [Hrsg.]: Schule in der Bürgergesellschaft. Demokratisches Lernen im Lebens- und Erfahrungsraum der Schule, Wochenschau Verlag: Schwalbach/Ts., S. 30–49.

Stangl, W. (2020). Stichwort: ‚Ambiguitätstoleranz‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/12220/ambiguitaetstoleranz/.

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