Zwischen Analyse, Instrumentalisierung und Praxistauglichkeit: Zur Begriffsdebatte um „Islamismus“, „islamistischen Separatismus“ und „Politischen Islam“
29. Januar 2021 | Radikalisierung und Prävention

Begriffsbestimmungen spiegeln unterschiedliche wissenschaftliche und politische Perspektiven und Zielsetzungen. Dies zeigt sich aktuell in Frankreich und Österreich, wo von den jeweiligen Regierungen ein stärkeres Vorgehen gegen „islamistischen Separatismus“ bzw. den „Politischen Islam“ angekündigt wurde. In Deutschland gibt es zunehmend Warnungen vor einem „legalistischen Islamismus“, der seine Ziele im Unterschied zu gewaltbereiten Strömungen im Rahmen des Rechtsstaates durchzusetzen versucht. In seinem Beitrag gibt Thomas Schmidinger einen Überblick über die unterschiedlichen Begrifflichkeiten und ihre Implikationen. Dabei warnt er vor Verkürzungen und politischen Instrumentalisierungen, die sich in der Auseinandersetzung mit  Ideologien als kontraproduktiv erweisen könnten.

In der Debatte um Islam und Integration, aber auch um dschihadistischen Terrorismus spielen Begriffe wie „Politischer Islam“, „Islamismus“, „Fundamentalismus“ oder neuerdings des „islamistischen Separatismus“ eine wichtige Rolle. Dabei werden die Begriffe uneinheitlich verwendet. Sowohl in der politischen und publizistischen als auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung finden sich unterschiedliche Begriffe für dasselbe Phänomen – aber auch gleiche Begriffe für teilweise unterschiedliche Phänomene. Erschwert wird die Verständigung über die konkrete Problematik durch politische Instrumentalisierungen, keineswegs nur von extremistischen Gruppierungen unterschiedlicher Couleur, sondern auch von manchen europäischen Regierungsparteien. Vielfach dienen die Begriffe als Markierung von Akteuren, die pauschal und statisch als verfassungsfeindlich beschrieben werden ohne dabei Differenzierungen innerhalb des beschriebenen Spektrums zu berücksichtigen. Mit der Markierung als „politisch-islamisch“ oder „islamistisch“ verbindet sich im öffentlichen Diskurs nicht selten die Vorstellung, dass Veränderungen und Anpassungen dieser Akteure an gesellschaftliche Werte und Prinzipien grundsätzlich ausgeschlossen seien.

Begriffsdebatten

Hinter den Begriffen stehen unterschiedliche Konzepte und Vorannahmen über das Phänomen selbst. Dabei ist keiner dieser Begriffe „unschuldig“ und kann losgelöst von den wissenschaftlichen und politischen Debatten, in denen sie benutzt werden, betrachtet werden.

In öffentlichen Diskursen werden die Begriffe trotz der unterschiedlichen Konnotationen und Blickwinkel oft synonym verwendet. Der Begriff des „Politischen Islam“, wie er vor allem im angelsächsischen Raum, aber seit einigen Jahren auch in Österreich verstärkt verwendet wird, nimmt die Vermischung von Religion und Politik in den Blick, also ein Verständnis des Islams als umfassender und absolut gesetzter politischer Ideologie. Im Unterschied dazu fokussiert der in den vergangenen Monaten vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron geprägte Begriff des „islamistischen Separatismus“ auf den Vorwurf einer „Parallelgesellschaft“, also einer Abschließung von Muslim*innen in einer weitgehend islamisch geprägten Parallelwelt. Dagegen betont der Begriff „Islamismus“ die Vorstellung einer übersteigerten und ideologisierten Religion.

Von vielen Muslim*innen wird gerade der Begriff des „Islamismus“ aus sprachlichen Gründen zurückgewiesen, da er eine Nähe von Islam als Religion und Islamismus als Ideologie suggerieren kann. Das Gegenargument, dass ein „–ismus“ immer eine Ideologie kennzeichne – und keine Religion – ist mit Blick auf die Termini Buddhismus, Hinduismus, Shintoismus oder Taoismus unhaltbar.

Auch wenn sich der Begriff „Islamismus“ im Deutschen weitgehend durchgesetzt hat, ist auch dies nicht immer eindeutig und einheitlich. Nicht selten wird der Begriff „islamistisch“ auch heute noch für „islamisch“ genutzt. Bis ins 19. Jahrhundert stand der Begriff auch unter führenden Theologen und Islamwissenschaftlern synonym für „islamisch“. Bis in die 1970er wurden Fragen aus dem Wissenschaftsbereich der Islamwissenschaft bisweilen mit dem Adjektiv „islamistisch“ umschrieben.

Bei all diesen Unschärfen ist es wichtig, zumindest im jeweiligen Kontext möglichst genau zu benennen, was mit dem jeweils verwendeten Begriff konkret bezeichnet werden soll – und was eben auch nicht.

„Islamistischer Separatismus“

In Frankreich dominierten bis zur Jahrtausendwende die Begriffe „Integralismus“ und „Islamismus“ die Debatten. Historisch bezieht sich der Begriff des „Integralismus“ auf den katholischen Widerstand gegen die Französische Revolution. Die im französischen Staatsverständnis begründete Beschränkung von Religion auf die Privatsphäre führte im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder zu heftigen Konflikten mit der katholischen Kirche, in der sich – in Opposition zum Laizismus – der Intégrisme, also eine ideologische Lesart der christlichen Religion, herausbildete. Seit den 1980er Jahren wurde dieser Begriff in der französischen Debatte zunehmend auch verwendet, um ähnliche gesellschaftlich-ideologische Ansprüche von Muslim*innen und islamischen Regimen zu beschreiben. Grundsätzlich werden kollektiv und öffentlich gelebte Religion in Frankreich wesentlich früher als in säkularen europäischen Ländern, in denen Kirchen und Religionsgemeinschaften als wichtige öffentliche Akteure anerkannt werden, als Bedrohung der staatlichen Ordnung wahrgenommen.

Im Februar 2020 prägte der französische Präsident Macron den Begriff des „islamistischen Separatismus“. Damit wandte er sich zum einen gegen den Einfluss von islamischen Staaten, wie der Türkei, Qatar oder Saudi-Arabien, aber auch gegen das Entstehen von islamischen Parallelstrukturen zum französischen Staat. Nicht überraschend war daher auch die Kritik, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan an den von Macron angekündigten Maßnahmen übte. Für Erdoğan stand das Vorgehen Macrons exemplarisch für eine grundsätzlich „islamophobe“ Politik Frankreichs.

Der von Macron ausgerufene Kampf gegen den „islamistischen Separatismus“ erscheint vielen praktizierenden Muslim*innen in Frankreich als Kampfansage gegen den Islam an sich. So erklärte Macron bei einem Besuch in einem muslimisch geprägten Viertel im südostfranzösischen Mulhouse, es sei nicht zu akzeptieren, dass in bestimmten Vierteln die Werte und Gesetze der Republik abgelehnt würden. Ebenso wenig sei es hinzunehmen, dass Männer sich weigerten, Frauen die Hand zu geben oder dass Kinder nicht zur Schule geschickt würden. Zwangsheiraten oder das Gebot der Jungfräulichkeit beim Eheschluss würden ohne Rücksicht auf das Individuum durchgesetzt. In einer viel beachteten Pressekonferenz rief er danach zur „republikanischen Rückeroberung“ dieser Viertel auf.

Tatsächlich spiegelt der Begriff des „islamistischen Separatismus“ die Realität in einigen französischen Großstädten, in denen nicht selten islamische Institutionen jene Lücken füllen, die in den sozial segregierten und vom Staat vernachlässigten Stadtteilen entstanden sind. Begünstigt wurde diese Entwicklung dadurch, dass in Frankreich, anders als zum Beispiel in Deutschland, häuslicher Unterricht erlaubt ist und Eltern, die z.B. die Schulen des laizistischen Staates ablehnen, ihre Kinder selbst unterrichten können. Darüber hinaus erwies sich die Möglichkeit des häuslichen Unterrichts für viele muslimische Eltern, die das Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen aus religiösen Gründen ablehnen, als Alternative zum staatlichen Schulsystem. In einigen muslimisch geprägten Banlieues übernehmen islamische Vereine mittlerweile den Unterricht von Kindern aus religiös-konservativen Familien, die durch das Kopftuchverbot aus staatlichen Schulen verdrängt wurden.

Die Verantwortung für die Entstehung dieser parallelgesellschaftlichen Strukturen beschränkt sich allerdings nicht auf muslimische Akteur*innen, sondern liegt auch in den sozialen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen begründet. Hierzu zählen auch historische Erfahrungen aus der Zeit des französischen Kolonialismus, wie etwa das Massaker an Algerier*innen in Paris vom 17. Oktober 1961, das wie viele französische Staatsverbrechen gegen Nordafrikaner*innen nie gesellschaftlich aufgearbeitet wurde. Diese historischen Belastungen und die einseitige Schuldzuweisung an Muslim*innen unter Ausblendung sozio-ökonomischer Rahmenbedingungen erschweren den Diskurs zwischen Muslim*innen und dem französischen Staat.

Kontroverse um den „Politischen Islam“

Im deutschsprachigen Raum wird die Debatte über die Begrifflichkeit derzeit an einer Kontroverse zwischen zwei Universitätsprofessoren an der Universität Wien und der Universität Münster sichtbar. Rüdiger Lohlker, Professor für Orientalistik an der Universität Wien, lehnt die Verwendung des Begriffs „Politischer Islam“ grundsätzlich ab, auch wenn er diesen in der Vergangenheit durchaus in seinen Schriften verwendet hat. So kritisierte Lohlker kürzlich im Zusammenhang mit der Etablierung einer „Dokumentationsstelle Politischer Islam“ durch die österreichische Bundesregierung die Unschärfe und eine fehlende wissenschaftliche Fundierung des Begriffes.

Als wichtigster Gegenspieler tritt in dieser Debatte der islamische Religionspädagoge und Soziologe Mouhanad Khorchide auf. Khorchide ist Professor für islamische Religionspädagogik am Centrum für Religiöse Studien (CRS) und Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster und seit Sommer 2020 Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der „Dokumentationsstelle Politischer Islam“. Khorchide reagierte Mitte November auf die Kritik an der Schwerpunktsetzung der Dokumentationsstelle mit folgender Begriffsbestimmung: „Der Politische Islam ist eine Herrschaftsideologie, die die Umgestaltung bzw. Beeinflussung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von solchen Werten und Normen anstrebt, die von deren Verfechtern als islamisch angesehen werden, die aber im Widerspruch zu den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaates und den Menschenrechten stehen.“ (Mouhanad Khorchide im November 2020 in Die Presse).

Unklar blieb auch hier, was unter einer „Herrschaftsideologie“ genau zu verstehen wäre, aber auch, warum mit diesem Begriff ausdrücklich nicht die Phänomene Salafismus und Dschihadismus gemeint seien. Der Politische Islam, so Khorchide an anderer Stelle, sei letztlich „viel gefährlicher als der Dschihadismus und Salafismus.“

Dabei lässt sich der Begriff „Politischer Islam“ durchaus in einem weiteren Sinne fassen, um das Phänomen zu beschreiben und zugleich vom Islam als religiösem Glaube und religiöser Praxis abzugrenzen. Charakteristisch für den „Politischen Islam“ wäre nach einer solchen Begriffsbestimmung ein Verständnis des Islams als Gesellschaftsordnung, Ideologie und politischer Ordnung. In „Handbuch des Politischen Islam“, das bereits 2008 einen Überblick über das Phänomen und darin vertretene Strömungen lieferte, definierten wir den Begriff als „Sammelbegriff für alle Bewegungen und Gruppierungen, die den Islam nicht als reine Religion verstehen, sondern ein – wie auch immer im Detail ausgeprägtes – politisches Konzept des Islams verfolgen, den Islam also als Richtschnur politischen Handelns verstehen und eine wie auch immer geartete Islamisierung von Gesellschaft und Politik anstreben.“ [1] Dies beinhaltet eine Differenzierung nach Ideologien und Methoden der jeweiligen Strömungen.

Der Vorteil einer solchen breiten Definition besteht gerade in der Betonung der Heterogenität und Ausdifferenzierung dieses Spektrums, das sich im Verständnis der Religion als politischer Ideologie trifft, ansonsten aber durch unterschiedliche ideologische Ausprägungen und Zielsetzungen, Organisationsformen und Handlungsstrategien geprägt ist.

Dabei wendet sich diese Definition ausdrücklich auch gegen politische Instrumentalisierungen, in denen der Begriff als verallgemeinernde Feindmarkierung verwendet wird und die teilweise erheblichen Unterschiede zwischen einzelnen Organisationen und Strömungen ausgeblendet und diese pauschal als existenzielle Gefahr für die Gesellschaft beschrieben werden.

So verweist die oben wiedergegebene Definition des „Politischen Islams“ auch auf historische und ideologische Parallelen zum Phänomen des „Politischen Katholizismus“, der als Gegenposition zu Laizismus und Säkularismus vor einem Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichte. Auch im „Politischen Katholizismus“ war das Bekenntnis zur Demokratie keineswegs von Anfang an selbstverständlich. So errichtete die Christlichsoziale Partei in Österreich von 1933/34 bis 1938 ein von ihren Gegner*innen als „Austrofaschismus“ bezeichnetes autoritäres System. Auch in Spanien und Frankreich unterstützten große Teile des „Politischen Katholizismus“ die autoritären Regime unter Francisco Franco und Marschall Philippe Pétain. Dennoch gelang es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in diesen Ländern, den größten Teil des „Politischen Katholizismus“ im Rahmen staatstragender Volksparteien in pluralistische demokratische Systeme zu integrieren.

Ob eine solche Entwicklung auch für Teile des „Politischen Islams“ denkbar ist, ist keineswegs ausgemacht. Die Geschichte des „Politischen Katholizismus“ zeigt allerdings, dass es grundsätzlich möglich ist, auch solche politischen Kräfte, die den säkularen Staat zunächst ablehnen, durch die Integration in ein gefestigtes demokratisches politisches System zu zähmen. Solche Prozesse benötigen Zeit und Raum für politische Auseinandersetzungen, die von den extremistischen Rändern dieser Bewegungen nicht mitgetragen werden. Hinderlich ist dabei auch die Diasporapolitik von Staaten wie z.B. der Türkei, die Veränderungs- und Anpassungsprozessen hiesiger Akteure entgegenwirken.

Der gesellschaftliche und politische Umgang mit den verschiedenen Ausprägungen des „Politischen Islams“ in Europa erfordert daher letztlich unterschiedliche, an den jeweiligen Kontext und die betreffenden Akteure angepasste Ansätze, die der Heterogenität des Spektrums gerecht werden. Dies betrifft beispielsweise eine Differenzierung zwischen legalistischen und gewaltbereiten Strömungen und den damit jeweils verbundenen Herausforderungen, aber auch die Bereitschaft, die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen zu thematisieren, die die Entstehung von politisch-islamischen Strömungen begünstigen. Eine Politik, die allein auf Repression setzt und dabei nicht zwischen Organisationen wie der Muslimbruderschaft und dschihadistischen Strömungen unterscheidet, ist kontraproduktiv und bestärkt das ideologische Angebot einer islamischen Gegenkultur, das dem „Politischen Islam“ zugrunde liegt.


Anmerkungen

[1] Thomas Schmidinger/Dunja Larise (Hg.): Zwischen Gottesstaat und Demokratie. Handbuch des politischen Islam. Deuticke: Wien, 2008: 31f

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