Trauma, Folter, Gewalt und ihre Folgen sind noch immer Themen, die starke Ängste und Unsicherheiten hervorrufen können. Die öffentliche Darstellung Geflüchteter hat sich in den vergangenen Jahren von der Opfer- auf die Täter*innenrolle verlagert und zu der Vorstellung geführt, dass Flucht, Trauma und Gewalt zwangsläufig miteinander zusammenhängen. Dr. Katja Mériau setzt dieser undifferenzierten Perspektive Fakten aus der psychotherapeutischen Praxis entgegen und macht deutlich, wieso die Gleichsetzung von Traumatisierung und erhöhter Gewaltbereitschaft falsch ist.
Die Mehrheit der Klient*innen in den Psychosozialen Zentren (PSZ) hat von Menschen verursachte Gewalt erfahren und überlebt. In den PSZ finden sie psychosoziale und psychotherapeutische Unterstützung, um mit den Folgen dieser traumatischen Erfahrungen besser zurechtzukommen. Aber auch Menschen, die Opfer von Gewalt geworden sind, können selber Gewalt ausüben bzw. wurden in ihrer Biographie gewalttätig. Diese Fälle treten im Alltag der PSZ nur vereinzelt auf [1], können aber zu Handlungsunsicherheiten sowohl auf Seiten der Klient*innen als auch auf Seiten der Therapeut*innen führen. Unter anderem kann die oftmals notwendige Teilnahme von Sprach- und Kulturmittler*innen im Beratungs- bzw. Therapiekontext das Mitteilen scham- und schuldbehafteter Inhalte erschweren.
Neben der psychosozialen Arbeit gehört es zum Selbstverständnis der PSZ, Politik und Gesellschaft über den Zusammenhang von Trauma, Flucht und Gewalt aus einer menschenrechtsorientierten Perspektive aufzuklären. Dabei tragen wir die Erfahrungen und Zeugnisse unserer Klient*innen (nach Möglichkeit gemeinsam mit den Betroffenen) in die (mediale) Öffentlichkeit und in die Politik, um durch politisches Empowerment der Betroffenen und Sensibilisierung der Zivilgesellschaft zu an Menschenrechten orientierten gesellschaftspolitischen Veränderungen beizutragen [2]. In diesem Zusammenhang ist die Art und Weise, wie medial über das Spannungsfeld von Flucht, Trauma und Gewalt berichtet wird, von großer Bedeutung. Auch wenn eine aus dem Jahr 2022 vorliegende Expertise zur Fernseh- und Zeitungsberichterstattung über in Deutschland lebende Eingewanderte und Geflüchtete vorsichtig optimistisch stimmt [3], war in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs zunehmend eine Umkehr der Darstellung Geflüchteter zu beobachten: Sie wurden nicht mehr vorherrschend als Überlebende von Gewalt, sondern zunehmend als „Gewalttäter“ bzw. generell als „Bedrohung“ beschrieben. In einer Expertise aus dem Jahr 2019 für den Mediendienst Integration [4] wird aufgezeigt, dass fast jeder dritte Fernsehbeitrag über Gewaltkriminalität auf die Herkunft der Tatverdächtigen verweist, was fast einer Verdoppelung gegenüber 2017 entspricht. Die Herkunft wird meist nur dann erwähnt, wenn die Tatverdächtigen Ausländer*innen sind. Verglichen mit der Polizeilichen Kriminalstatistik ergibt sich daraus ein stark verzerrtes Bild, das die öffentliche Wahrnehmung prägt.
Im Folgenden sollen die beiden Perspektiven – sowohl die psychosozial-psychotherapeutische als auch die gesellschaftlich-mediale – auf den Themenkomplex Flucht, Trauma und Gewalt näher beleuchtet werden. Ausgehend von zwei Dialogforen mit Praktiker*innen, Autor*innen und Wissenschaftler*innen aus dem Bereich der psychosozialen Arbeit mit geflüchteten und traumatisierten Menschen soll eine kritische Auseinandersetzung mit den Konzepten „Täter“ und „Opfer“ und ihren Implikationen für die therapeutische Arbeit einerseits und der öffentlichen Diskursverschiebung andererseits ermöglicht werden. Ziel und Anspruch ist es, dem gesellschaftlichen Narrativ, in welchem (traumatisierte oder psychisch erkrankte) Geflüchtete pauschal mit einer erhöhten Gewaltneigung in Verbindung gebracht werden, differenziert Fakten entgegenzusetzen. Wir haben uns dabei folgende Fragen gestellt:
1. Können Klient*innen gleichzeitig Opfer und Täter*in sein?
2. Sind es ganz bestimmte Lebenserfahrungen, die Menschen zu Täter*innen machen?
3. Wie kann mit Menschen therapeutisch gearbeitet werden, die Gewalt ausgeübt haben?
4. Welchen Einfluss haben rassistische und kulturalisierende Stereotype auf die Wahrnehmung von „Opfern“ und „Tätern“?
1. Können Klient*innen gleichzeitig Opfer und Täter*in sein?
Dem Selbstverständnis der Psychosozialen Zentren nach wird in erster Linie mit Menschen gearbeitet, die Opfer geworden sind – d.h. mit Überlebenden von Flucht, Folter, Krieg, von sexualisierter oder rassistischer Gewalt. Die meisten Menschen, die Opfer von Gewalt geworden sind und Traumatisierungen erlitten haben, werden nicht gewalttätig oder nur selten – Gewalt gegen sich selbst ausgenommen. Diese kann Folge von inneren Täteranteilen (Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen sprechen auch von „Täterintrojekten“) sein, die verinnerlichten Gedanken, Gefühlen und Handlungen der betroffenen Person entsprechen und welche dem Handeln, Fühlen und Denken der Täter*innen im Außen ähneln. Sie sind oft abgespalten, also dem Bewusstsein nicht zugänglich und können wie ein Dia auf andere Menschen projiziert und dann stellvertretend dort bekämpft werden. Verinnerlichte Täteranteile können somit gegen die eigene Person oder auch gegen andere Menschen wirksam werden und müssen daher in einer Therapie benannt und bearbeitet werden.
Auch Menschen, die Traumatisierungen erlitten haben und Opfer von Gewalt geworden sind, können in ihrer Biographie selber gewalttätig geworden sein, z.B. Kindersoldat*innen (vor allem Jungen), Menschen, die sich vor ihrer Flucht im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen regulären oder irregulären Armeen angeschlossen haben und dort zu Täter*innen wurden oder Personen, die sowohl gefoltert haben als auch selber gefoltert wurden (in beiden Fällen meist Männer).
2. Sind es ganz bestimmte Lebenserfahrungen, die Menschen zu Täter*innen machen – bzw. wieder dazu machen?
Die Aussage, dass Menschen in bestimmten Kontexten zu Täter*innen werden, es aber unter anderen Umständen nicht geworden wären, deckt sich mit der Erfahrung der PSZ und angrenzenden Feldern und soll an den Klient*innengruppen der Kindersoldat*innen bzw. ehemaligen Kämpfer*innen dargestellt werden.
Kindersoldat*innen sind „Personen unter 18 Jahren, die von Streitkräften oder bewaffneten Gruppen rekrutiert oder benutzt werden oder wurden, egal in welcher Funktion oder Rolle, darunter Kinder, die als Kämpfer, Köche, Träger, Nachrichtenübermittler, Spione oder zu sexuellen Zwecken benutzt wurden“ [5]. Diese jungen Menschen bzw. Kinder geraten häufig in eine Situation der Alternativ- und Ausweglosigkeit zu bewaffneten Gruppen, schließen sich diesen in eskalierten Kriegssituationen an oder werden unter Zwang rekrutiert. Dabei müssen sie zahlreiche kontextangemessene Anpassungsleistungen entwickeln, um zu überleben und haben meist extreme Gewalterfahrungen als Opfer, Zeug*innen und als Täter*innen durchlebt. Sie werden also als Opfer zu Täter*innen. Dabei bedeuten die erfahrenen und begangenen Gräueltaten für sie in der Regel einen Bruch im Referenzrahmen: Ihr Verhalten und ihr Erleben entsprechen meist nicht ihren frei gewählten, für sie stimmigen Glaubensüberzeugungen oder Neigungen [6].
Kindersoldat*innen, die zwangsrekrutiert wurden, erleben das Handeln der bewaffneten Gruppen und ihre Taten zumeist als Bruch in ihrem Referenzrahmen. - Dima Zito
Aufgrund ihrer Erfahrungen, wozu Menschen in der Lage sind bzw. was sie selber taten, treten sie erfahrungsgemäß im PZS-Kontext eher aggressionsgehemmt oder mit einer generellen Zurückhaltung auf. Charakteristisch ist also vielmehr eine große Angst vor bzw. Vermeidung von Konflikten und eine ausgeprägte Aversion gegen Gewalt, nicht zuletzt aufgrund ihrer massiven Erinnerungsbilder [7]. Es handelt sich bei Kindersoldat*innen aufgrund ihrer besonderen Charakteristiken um eine ausgesprochen belastete bzw. vulnerable Gruppe. Gelingt ihnen der Ausstieg aus den bewaffneten Gruppen, sind sie in Deutschland neben der Verarbeitung des Erlebten mit der asylrechtlichen Behandlung, der Unsicherheit des Aufenthaltsstatus und der damit verbundenen ständigen Abschiebedrohung sowie den häufig schwierigen psychosozialen Rahmenbedingungen konfrontiert. Diese Rahmenbedingungen haben einen relevanten Einfluss auf die Entwicklung der psychischen Verfassung und sollten so gestaltet werden, dass sie ihrer Erholung förderlich sind und nicht einer weiteren Verunsicherung oder gar Retraumatisierung Vorschub leisten.
Auch in der Arbeit mit Menschen (meist Männern), die in Kriegssituationen zu Täter*innen wurden, zeigt sich ein ähnliches Bild. Im Gegensatz zu den Kindersoldat*innen wurden sie nicht unter Zwang rekrutiert, sondern schlossen sich meist aus Überzeugung bewaffneten Einheiten an, um gegen als ungerecht angesehene Machthaber oder Besatzer zu kämpfen. In diesem Kontext wurden sie oft selber zu Opfern und durch Kriegs- oder Gefechtserlebnisse oder infolge von Gefangenschaft und Foltererfahrung traumatisiert. Die Flucht vor dem Krieg nach Deutschland bedeutete dabei auch eine Flucht vor der eigenen Täterschaft, ein Versuch, wieder etwas zur Ruhe zu kommen, nachdem sie den Krieg zurücklassen konnten.
Erkenntnisse zu Kindersoldat*innen, die als Geflüchtete in Deutschland oder anderen Industrieländern leben sowie die wissenschaftliche Datenlage zu ehemaligen Kriegstäter*innen sind sehr dünn. Nichtsdestotrotz wird oftmals im Kontext von ehemaligen Kriegstäter*innen oder gerade auch bei Kindersoldat*innen das Bild der sog. „Zeitbombe“ bemüht. Die Vorstellung, die Konfrontation mit einem „Trigger“ löse automatisch eine Reaktion aus, die zu Gewalt führe, ist jedoch falsch und entspricht nicht der jahrzehntelangen Erfahrung der behandelnden Psychotherapeut*innen in den PSZ.
Anstatt pauschal eine erhöhte Gewaltneigung zu unterstellen, muss vielmehr die Frage in den Vordergrund gerückt werden, ob und warum eine Person wieder gewalttätig wird. Um dies zu verhindern, ist auf der individuellen Ebene die bewusste Beschäftigung mit dem Geschehenen, die Übernahme von Verantwortung für das eigene Tun entscheidend, also die Einsicht in die eigene Täterschaft und die damit verbundene Auseinandersetzung mit dem schmerzlichen Gefühl der Schuld. Sie stellt nicht nur eine Grundvoraussetzung für das therapeutische Arbeiten dar, sondern ist ein starker Indikator dafür, dass eine Person nicht mehr auf Gewalt als Mittel zurückgreifen muss.
3. Wie sieht die therapeutische Arbeit mit Menschen aus, die Gewalt ausgeübt haben?
Die Komplexität der Menschen erfordert eine möglichst maßgeschneiderte Therapie, d.h. sie sollte auf den jeweiligen Menschen „zugeschnitten“ sein und ihn in seiner Komplexität erfassen. Vermeintlich vereinfachende Zuschreibungen oder Kategorisierungen, wie z.B. Täter-Opfer, sind dabei wenig hilfreich und stehen einer gelingenden Therapie eher im Wege. Auf Seiten der Klient*innen sind ein gewisser Leidensdruck und Motivation nötig, um überhaupt eine Therapie zu beginnen. Auch die Bereitschaft zur Selbstreflexion ist eine wichtige Voraussetzung für eine gelingende Therapie. Nicht zuletzt sind die äußeren strukturellen Bedingungen entscheidend für den Verlauf bzw. für eine weitestgehende Erholung ganz allgemein. Dazu gehört z.B. der Umgang des Asyl- und Rechtssystems mit Geflüchteten und wie sich die Gesellschaft im Aufnahmeland den Geflüchteten gegenüber verhält. Bei traumatisierten Menschen ist die Zeit nach dem traumatisierenden Ereignis entscheidend und hat bedeutsame Auswirkungen auf den Genesungsprozess: Erfährt er Sicherheit und Schutz, welche nötig sind, um sich psychisch und physisch zu erholen? Inwiefern werden seine Rechte, z.B. auf körperliche Unversehrtheit, Freiheit, Selbstbestimmung, Würde, Vertrauen in den Anderen und die Welt im allgemeinen, welche bei sog. „man-made disasters“ [8] massiv verletzt wurden, im Nachgang gewahrt und wiederhergestellt?
Da Therapeut*innen v.a. in der Arbeit mit Opfern ausgebildet werden bzw. die Arbeit mit Täter*innen im Ausbildungskontext bisher zumindest nicht ausreichend berücksichtigt wird, kann die notwendige Auseinandersetzung mit begangenen Gewalttaten im therapeutischen Prozess mit Handlungsunsicherheiten verbunden sein.
Während bei den Klient*innen die mit Traumatisierungen verbundenen Gefühle von Angst und Panik, der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins zu Beginn einer Therapie im Vordergrund stehen, werden eigene Taten oder Verbrechen oft erst spät in fortgeschrittener Therapie berichtet, wenn sich ein tragendes Vertrauensverhältnis zwischen Klient*in und Therapeut*in etabliert hat und im Äußeren eine gewisse Stabilität herrscht.
Die Gleichsetzung von Traumatisierung mit Radikalisierungs- oder Gewaltpotential ist falsch. - Ingrid Koop
Der Zeitpunkt der therapeutischen Aufarbeitung scheint auch in anderer Hinsicht von Bedeutung zu sein: In der Behandlung von ehemaligen Kriegstäter*innen fiel auf, dass die Bereitschaft zur Bearbeitung der eigenen Gewaltgeschichte in den ersten Jahren nach der Ankunft höher war. Mit dem Verstreichen der Zeit und der Ankunft in einem neuen Leben scheint sich eine stärkere psychische Abwehr aufzubauen. Dies kann ein Risiko darstellen für die transgenerationale Weitergabe [9] von unverarbeiteten seelischen Traumatisierungen von einer Generation auf die Mitglieder einer nachfolgenden Generation.
Ein weiterer wichtiger Punkt in der Therapie mit traumatisierten Menschen, die gewalttätig geworden sind, ist die Bearbeitung der Gefühle von Schuld und Scham. Bei Menschen, die Traumatisierungen erfahren haben, ohne selber gewalttätig worden zu sein, finden sich neben Gefühlen der Angst und Depression auch starke Gefühle von Scham und (Überlebens-)Schuld, insbesondere bei Menschen, die auch Folter überlebt haben. Hier kann es im Rahmen der Therapie heilsam sein, ein Bewusstsein dafür zu erlangen, nicht nur Opfer, sondern auch Zeuge von Menschenrechtsverletzungen zu sein. Mit der Versprachlichung des Unsagbaren im therapeutischen (und z.B. im Rahmen von rechtlichen Klagen im öffentlich-gesellschaftlichen) Raum, also mit der beginnenden „Vergesellschaftung“ der Verbrechen, kann eine Anerkennung der erlebten Gewalt und Menschenrechtsverletzungen erfahren und damit eine Stärkung der Überlebenden erreicht werden. Im Idealfall wird durch eine Anzeige beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte begangenes Unrecht aufgearbeitet, anerkannt und geahndet.
In ähnlicher Weise, nur quasi mit verkehrtem Vorzeichen, geschieht dies bei der therapeutischen Aufarbeitung von Realschuld und Scham mit Menschen, die gewalttätig wurden. Die Täter*innen müssen individuell dafür die Verantwortung übernehmen wollen, wobei der gesellschaftliche Aspekt zu beachten ist: Wofür ich mich schäme oder welche Taten mit Schuld verbunden sind, kann sich in Gesellschaften unterscheiden. Dies gilt es zu verstehen und zu kontextualisieren.
Die Vergesellschaftung einer Tat entsteht angesichts eines Gegenübers, der die Tat bezeugt und sie damit sichtbar macht. Dies geschieht zunächst zwischenmenschlich in der therapeutischen Beziehung bzw. in der Triade mit den Dolmetschenden. Die Triade stellt bereits die kleinste Form der Gruppe, also im übertragenen Sinne die kleinste Form der Gesellschaft dar. Wenn Täterschaft in diesem Rahmen ausgesprochen und benannt wird, kommt dabei dem*der Therapeut*in und den Dolmetschenden die Rolle der Bezeugenden zu: Die Tat ist in diesem Sinne schon ein Stück weit veröffentlicht und anerkannt, die Übernahme der Verantwortung hat begonnen.
Auch auf Seiten der Therapeut*innen ist der Umgang mit tatsächlich ausgeübter Gewalt oftmals tabuisiert. Dies ist u.a. der bereits angesprochenen Täter-Opfer-Dichotomie geschuldet, wodurch eine notwendige Auseinandersetzung mit von Klient*innen ausgeübter Gewalt verhindert und der therapeutische Prozess erschwert werden kann. Zudem können eigene blinde Flecken auf Seiten der Therapeut*innen, wie die Ablehnung eigener aggressiver Impulse oder Vorurteile, in einer mangelnden Offenheit für entsprechende Inhalte resultieren, so dass diese von Therapeut*innen nicht angesprochen bzw. von den Klient*innen (unbewusst) zurückgehalten werden. Es braucht also eine selbstreflexive Offenheit und Auseinandersetzung mit den eigenen ungeliebten Anteilen auf Seiten der Therapeut*innen. Neben der dafür notwendigen Selbsterfahrung der Therapeut*innen sollte die Arbeit mit Täter*innen im Ausbildungscurriculum von Therapeut*innen stärker berücksichtigt werden, um diese für das Ausbalancieren der komplexen Dynamik zu befähigen.
4. Welchen Einfluss haben rassistische und kulturalisierende Stereotype auf die Wahrnehmung von „Opfern“ und „Tätern“?
Neben der Bedeutung von Täterschaft in der Biographie von Klient*innen und in der Therapie spielen die in der Öffentlichkeit und medial geprägten Narrative eine bedeutende Rolle für den Umgang der Gesellschaft mit (traumatisierten) Geflüchteten: Wer wird von wem als Täter*in bezeichnet und warum? Welche Narrative und Bedeutungen stehen dahinter und inwiefern sind diese von (rassistischen Vor-) Urteilen geprägt?
Ein Beispiel ist hier die mediale Berichterstattung über die Sylvesternacht 2015/2016 in Köln. Hier wurden durch einen bestimmten Mix von Anmoderation und Zusammenschnitt von Interviews und Handyvideos schon recht früh bestimmte Deutungsmuster angeboten, die Migranten und Geflüchtete als mutmaßliche Täter festlegten. Diese legen nahe, dass sexualisierte Gewalt mit einem bestimmten Kulturkreis und einer bestimmten Gruppe in Verbindung gebracht werden kann. Damit erscheint diese Gewaltform als eine, die „außen“ die deutsche Gesellschaft bedroht, während gesellschaftliche Strukturen in Deutschland kaum in den Blick genommen werden, die bestimmte Männlichkeitsentwürfe favorisieren sowie Belästigungen und sexualisierte Gewalt an Frauen tabuisieren [10].
In ähnlicher Weise wird in der Berichtserstattung von Attentaten, die in den letzten Jahren von Geflüchteten begangen wurden (beispielhaft die Attentate von Würzburg (06/2021), Herten (12/2018) und Ansbach (06/2016)), die Annahme nahegelegt, dass traumatisierte Geflüchtete eine potenzielle Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Eine genauere Betrachtung der drei angesprochenen Attentate und ihrer Berichterstattung zeigte zwar, dass alle drei Attentäter auch psychiatrisch behandelt wurden, jedoch auch, dass die psychiatrischen Krankenhäuser erst zu einem späten, teilweise schon eskalierten Zeitpunkt in die Versorgung eingeschaltet wurden, als sich für alle Personen eine Situation der Ausweglosigkeit abzeichnete, sie sich z.B. mit einer drohenden Abschiebung konfrontiert sahen bzw. ein Klient – obwohl vorher in der Psychiatrie – zwischenzeitlich gar nicht mehr versorgt wurde.
Eine nachhaltige Stabilisierung der Personen wurde in allen drei Fällen nicht erreicht. Hier stellt sich die Frage, inwiefern die Versorgungslandschaft in der Lage ist, auch mit Hinblick auf Selbst- und Fremdgefährdung Prävention und Vorsorge leisten zu können und inwiefern eine Verantwortungsdiffusion bzgl. der Behandlung (traumatisierter) Geflüchteter die nötige Versorgungskontinuität gefährdet. Missliche strukturelle Bedingungen in der Versorgung im Vorfeld wie eine Aussetzung der Therapie aufgrund mangelnder Finanzierung, diskriminierende Zuschreibungen und Vorurteile durch Behandelnde in der Psychiatrie, die eine adäquate Versorgung der (teils suizidalen) Person verhindern, und Sprachbarrieren im Gesundheitssystem können die Zuspitzung einer psychischen Krise maßgeblich befördern.
Zielfördernder wäre es, die Prävention von Fremd- und Selbstgefährdung so zu gestalten und zu fördern, dass sie Teil der Behandlung ist. Die Anfälligkeit für paranoides Denken einer Person steigt, wenn die Sprache, die Umgebung, der (stationäre) Behandlungskontext nicht vertraut sind, wenn sie große Unsicherheiten bzgl. ihrer Bleibeperspektive hat oder bereits im Vorfeld Opfer von diskriminierenden Anfeindungen oder Übergriffen geworden ist. Dieser spezifische Kontext muss in der Behandlung von traumatisierten Menschen mitgedacht werden und dies bereits, bevor sie in Krisensituationen geraten.
Es gibt keine „Zeitbomben“ im Menschen. Es gibt Zusammenhänge. Es ist wichtig, dass man diese rassistische und gewalttätige Normalität mit in den Blick nimmt. - Ariane Brenssell
Häufig entsteht in der öffentlichen Wahrnehmung der unzulässige Kausalschluss, dass die Tatsache, dass die Personen in der Psychiatrie angebunden waren, ursächlich für die Tat war. Hat die Person einen Fluchthintergrund, wird die Tat häufig zudem kulturalisiert, bzw. dem „Anderen“ zugeschrieben („Othering“), was zu Feindbildern, Stigmatisierungen und weiterer rassistischer Ausgrenzung und schließlich in die Legitimation von Ungleichbehandlung führt.
Auch verhindert diese Gleichsetzung eine kritische Auseinandersetzung mit den vorhandenen diskriminierenden und gewalttätigen Strukturen des Systems, die Teil der Normalität sind und, wie oben dargestellt, Situationen eskalieren lassen können. Hier ist ein Verweis auf die Zusammenhänge wichtig, nicht die Individualisierung von Verantwortung oder ihre Delegation an das Hilfesystem.
Man darf die Verantwortung nicht individualisieren und auch nicht nur an das Hilfesystem delegieren. Ich glaube, es ist wichtig, mehr die kollektive, gesellschaftliche Verantwortung von allen einzufordern, Menschen, die in schwierige, potentiell destabilisierende Zustände geraten können, zu halten und auch auszuhalten. - Usche Merk
Fazit
Das Konzept der sequenziellen Traumatisierung verweist explizit auf die entscheidende Bedeutung der auf erlittene Traumata folgenden Lebensphasen für die Entstehung und Überwindung psychischer Symptome. Das bedeutet, dass traumatische Erlebnisse und die damit verbundenen Folgen in einem Kontext gesehen und als Prozess aufeinander folgender Phasen beschrieben werden müssen, der von den Wechselwirkungen zwischen sozialer Umwelt und der psychischen Befindlichkeit der Menschen bestimmt wird. Dieser Wechselwirkung muss auch in der Versorgung und Behandlung traumatisierter Personen Rechnung getragen werden.
Die Auseinandersetzung mit Trauma, Folter, Gewalt und ihren Folgen sind individuell und gesellschaftlich noch immer mit Tabus belegte Themen, sie schüren starke Ängste und Unsicherheiten und provozieren Abwehr und Widerstand. Vermutlich trifft dies in einem noch größeren Ausmaß auf das komplexe Phänomen von Täterschaft und ihren Zusammenhang mit strukturell-gesellschaftlichen Gegebenheiten zu. Umso notwendiger scheint eine gemeinschaftliche und fachlich differenziert geführte Diskussion zu diesem Thema.
Fußnoten
[1] Da sich die Psychosozialen Zentren als Schutzraum für traumatisierte Gewaltopfer verstehen, ist dort eine therapeutische Arbeit mit Menschen, die aktuell aggressiv, übergriffig oder bedrohlich agieren, aus einer Fürsorgepflicht gegenüber der Gesamtgruppe der Klient*innen nicht möglich.
[2] https://www.baff-zentren.org/baff/leitlinien/
[3] https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/
[4] https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Expertise_Hestermann_Herkunft_von_Tatverdaechtigen_in_den_Medien.pdf Medienanalyse_Hestermann_Berichterstattung_Migration_2022_Mediendienst.pdf
[5] Pariser Prinzipien 2007.
[6] Ein Gegenbeispiel stellen überzeugte Täter*innen wie die angeklagten Nationalsozialist*innen in den Nürnberger Prozessen dar, deren Taten für sie im Einklang mit ihrem Referenzrahmen einer antisemitisch-faschistischen Grundüberzeugung standen und die keine Zeichen psychischer Belastung zeigten.
[7] Erinnerungsbilder sind Folgeerscheinungen des Traumas, bei denen unwillkürlich auftretende, vorübergehende und intensiv wieder erlebte Erinnerungen, die plötzlich nach einem Schlüsselreiz (Trigger) auftreten, von Neuem durchlebt werden müssen.
[8] Man-made disasters (durch Menschenhand verursachte Traumata) sind andauernde oder sich wiederholende traumatische Erlebnisse wie Folter oder Missbrauch und ziehen häufig tiefgreifende und schwere Störungen bzw. psychische Probleme nach sich.
[9] Dabei handelt es sich in der Regel um ein unbeabsichtigtes, oft unbewusstes und nicht selten auch ungewolltes Geschehen.
[10] https://www.gwi-boell.de/sites/default/files/web_161122_e-paper_gwi_medienanalysekoeln_v100.pdf
Literatur
Brenssell, Ariane; Hartmann, Ans; Schmitz-Weicht, Cai (2020): Kontextualisierte Traumaarbeit. Beratung und Begleitung nach geschlechtsspezifischer Gewalt – Forschungsergebnisse aus der Praxis feministischer Beratungsstellen. Berlin: bff.
Koop, Ingrid Ingeborg: Narben auf der Seele: Integrative Traumatherapie mit Folterüberlebenden. https://www.refugio-bremen.de/wp-content/uploads/2014/04/2001-Koop-integrative-traumatherapie-folteropfer.pdf
Kosijer-Kappenberg, Sladjana (2018): Verständnis von Täterschaft im Kontext von Krieg und Flucht: Zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und individueller Schuld. Vandenhoeck & Ruprecht.
Zito, Dima (2015): Überlebensgeschichten. Kindersoldatinnen und -soldaten als Flüchtlinge in Deutschland. Eine Studie zur sequentiellen Traumatisierung. Beltz Juventa.
Dieser Text erschien zuerst in der von der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF e.V.) herausgegebenen Publikation „Mächtige Narrative - Was wir uns nicht erzählen. Über den Zusammenhang von Gewalt, Stress und Trauma im Kontext Flucht“. Wir danken den Herausgeber*innen und der Autorin für die Erlaubnis, den Beitrag hier in Teilen wiederzuveröffentlichen.