In der politischen Bildungsarbeit im Bereich der universellen Prävention religiös-begründeter Radikalisierung kommen nicht selten Fragen religiöser oder theologischer Natur auf. Mustafa Ayanoğlu von ufuq.de zeigt Perspektiven auf, wie solche Fragen in der Politischen Bildung aufgegriffen werden können, ohne endgültige Antworten zu präsentieren.
Islam und muslimisches Leben sind mittlerweile ein festes Thema der politischen Bildung in Deutschland. Akteur*innen der politischen Bildung haben insbesondere den Bedarf von pädagogischen Fachkräften hinsichtlich ihrer Fragen rund um das Thema Islam erkannt und entwickelten in den vergangenen Jahren entsprechende Angebote. ufuq.de konzentriert sich bei der Entwicklung pädagogischer Materialien und Fortbildungen unter anderem auf pädagogisch herausfordernde Situationen, in denen Schüler*innen im Unterricht ihre Positionen zu unterschiedlichen Themen religiös begründen. Wir stellen zwar oft fest, dass hinter solchen Äußerungen in den meisten Fällen weniger eine religiöse Motivation, als vielmehr der Wunsch nach Anerkennung und Teilhabe steht. Jedoch sollte man eine genuin religiöse Motivation hinter Handlungen und Fragen auch nicht ausschließen. So kann die eigene Religiosität die treibende Kraft für Jugendliche sein, sich gesellschaftlich zu engagieren und gegen Ungerechtigkeiten wie Rassismus vorzugehen [1]. Allerdings können nicht alle Jugendlichen ihre Position normgerecht formulieren, also ihre Positionen und Wünsche in akzeptabler Form ausdrücken, so dass religiös geprägte Äußerungen bei Lehrkräften als Provokation oder gar als Propaganda ankommen können.
In unseren Fortbildungen für Multiplikator*innen, die wir selbst durchführen, passiert es öfter, dass die Teilnehmer*innen spezifisch religiöse Fragen zum Islam stellen. Ebenso ergeht es unseren Teamer*innen, also den jungen Erwachsenen, die von uns ausgebildet werden, um Workshops an Schulen und Jugendeinrichtungen für Jugendliche umsetzen. Zunächst einmal ist es grundsätzlich gut, wenn solche Fragen auftauchen. Diese liegen dann „auf dem Tisch“ und können aus einer pädagogischen Perspektive aufgegriffen und thematisiert werden. Doch wie sieht es aus, wenn auf eine konkret religiöse Antwort gewartet wird?
Hier stehen politische Bildner*innen vor gleich mehreren Herausforderungen:
- Politische Bildung hat an erster Stelle den Auftrag, ihre Adressat*innen dazu zu befähigen, eigene Fragen stellen und Antworten darauf entwickeln zu können.
- Politische Bildner*innen sind keine Theolog*innen – theologisches Wissen ist keine Voraussetzung, um sich in der politischen Bildung Fragen mit Bezügen zum Islam anzunehmen. Zudem gibt es im Islam eine Vielzahl von Schulen und Strömungen, die auch in Alltagsfragen teilweise sehr unterschiedliche Ansichten vertreten.
- Bei einer Thematisierung von religiösen Fragen können Teilnehmer*innen bzw. Jugendliche, die keinen Bezug zu einer religiösen Weltanschauung haben, dies als unangenehm empfinden und sich in ihrem Recht der negativen Religionsfreiheit, also Freiheit „von Religion“ angegriffen fühlen. Gleichzeitig können sich Teilnehmer*innen mit religiösen Bezügen verletzt fühlen, wenn Religion bewusst aus dem Seminar und damit symbolisch aus der Öffentlichkeit verdrängt wird.
- Es macht einen großen Unterschied, wer als Referent*in eine Veranstaltung leitet und wer die Zielgruppe ist: Spricht in einer Fortbildung ein weißer nichtmuslimischer Referent vor einer ausschließlich weißen nichtmuslimischen, einer heterogenen oder einer ausschließlich muslimischen (religiösen oder nichtreligiösen) Zielgruppe? Oder leitet eine muslimische Referentin einen Workshop mit einer ausschließlich muslimischen (religiösen oder nichtreligiösen), einer heterogenen oder einer ausschließlich weißen (nichtmuslimischen) Personengruppe? Und wenn religiöse Fragen an eine*n Referent*in herangetragen werden, der oder die sich selbst als muslimisch definiert: Wo verlaufen die persönlichen Grenzen? Wieviel soll man von sich selbst, der eigenen Religiosität und eigenem religiösen Wissen preisgeben?
Ein Beispiel: In einer von mir geleiteten Fortbildung für Multiplikator*innen wurde ich von einer Lehrkraft gefragt, was es mit dem Verweigern des zwischengeschlechtlichen Händedrucks bei manchen Muslim*innen auf sich habe und nannte das konkrete Beispiel eines Schülers in ihrer Klasse. Nun kann dies je nach Person sehr unterschiedliche Gründe haben, eine allgemeingültige Antwort gibt es nicht, was auch meine erste Antwort darstellte. In der Pause kam die Lehrkraft Person erneut auf mich mit der Frage zu, ob es eine religiöse Motivation für das Verweigern des Händedrucks zwischen Frau und Mann gäbe. Ich bemerkte das ehrliche Interesse der Person und verwies auf eine Überlieferung, in welcher der Prophet Muhammad auf eine Gruppe Frauen traf, sie grüßte und hierbei seine rechte Hand aufs Herz legte – als Symbol der Wertschätzung [2]. Ausgehend von dieser Überlieferung hat die Verweigerung des Händedrucks mit Wertschätzung und der Anerkennung von körperlicher Unversehrtheit bzw. dem Respektieren von (körperlichen) Grenzen zu tun. Ich riet der Lehrkraft, das Verhalten des Schülers zunächst einmal zu akzeptieren, wenn er es auf diese Weise legitimiert (auch wenn dies den mehrheitlich praktizierten gesellschaftlichen Konventionen scheinbar widerspricht). Die Lehrkraft dankte für diesen theologischen Hinweis, mit dessen Hilfe sie nun unaufgeregter auf das Verhalten ihres Schülers schauen wollte.
Doch kann es einen großen Unterschied machen, wer über religiöse Themen spricht: Denn nicht selten werden solche Antworten ‚muslimischer‘ (aber auch nichtmuslimischer) Referent*innen von nichtmuslimischen Teilnehmer*innen als ein „Schönreden des Islams“ gewertet (bis hin zu verbalen Angriffen), während sie bei religiösen muslimischen Teilnehmer*innen wohlwollender aufgenommen werden. Umgekehrt reagieren religiöse muslimische Teilnehmer*innen mitunter skeptisch oder ablehnend auf Aussagen zum Islam von nichtmuslimischen Referent*innen. Für die politische Bildung weisen solche Szenarien auf die Notwendigkeit hin, dass möglichst divers aufgestellte Teams von Referierenden sich möglichst offen auf die unterschiedlichen Zusammensetzungen der jeweiligen Zielgruppe einstellen, um eine die Ansprache unterschiedlicher Adressat*innen zu ermöglichen.
Ein weiteres Beispiel: In einer Fortbildung, die sich ausschließlich an eine muslimische Zielgruppe richtete, führte ich eine Übung durch, in der die Teilnehmer*innen unterschiedliche Bilder, die auf dem Boden lagen, den Kategorien Islam, Tradition, Islamismus, Antimuslimischer Rassismus und Sonstiges zuordnen sollten. Dafür hatten sie zehn Minuten Zeit. Nachdem die Teilnehmer*innen einige der Bilder zugeordnet hatten, unterbrachen sie die Übung plötzlich und setzen sich vor Ablauf der Zeit auf ihre Plätze. Sie begründeten den Abbruch der Übung damit, dass das Bild eines Koranverses auf dem Boden lag und dies eine Respektlosigkeit darstelle. Das Stück Pappe, auf dem das Bild des Koranverses aufgeklebt war, mache das Ganze nicht besser. Die Teilnehmer*innen betonten, dass sie dies oder Ähnliches auch nicht akzeptieren würden, wenn es um andere Religionen ginge. Die Kritik war aus meiner Sicht durchaus berechtigt und eröffnete im Weiteren den Raum für das Gespräch über religiöse Bedürfnisse und Gefühle sowie deren Verletzbarkeit. Dennoch leitete ich daraus ab, die Übung zukünftig anders zu gestalten (etwa indem Bilder nicht auf den Boden, sondern auf einen Tisch gelegt werden). Auch hier stellt sich die Frage, ob die Teilnehmer*innen des Seminars ihre Kritik an der oben skizierten Übung anders zur Sprache gebracht hätten, wenn es sich bei der Seminarleitung um eine weiße nichtmuslimische Person gehandelt hätte. Vielleicht hätten sie ihre Kritik zurückhaltender formuliert? In jedem Fall lohnt es sich, solche Erfahrungen aufzugreifen und in die Vorbereitung folgender Seminare einzubeziehen, die – wenn möglich – von einem diversen Team geleitet werden.
Möglichkeiten der Berücksichtigung religiöser Fragen im Kontext politischer Bildung
Politische Bildung hat den Auftrag, ihre Adressat*innen zu ermächtigen, eigene Antworten auf eigene Fragen zu entwickeln und in diesem Rahmen Pluralismus und Widerspruchstoleranz zu fördern. Doch gilt das auch für religiöse Fragen? Ja, sofern es sich um Antworten und nicht um eine Antwort handelt. Für den Umgang mit einer spezifisch religiösen Frage an den Islam bedeutet dies, dass – auch von nichtmuslimischen Teamer*innen oder Referent*innen – obligatorisch auf die innerislamische Diversität zu verweisen wäre, Muslim*innen also auf beinahe jede Frage schon immer unterschiedliche ‚islamische‘ Antworten gefunden haben und weiterhin finden. Wer als Referent*in kann und will könnte dies mit Hinweisen unterfüttern, dass bereits die ersten Muslim*innen im 7. Jahrhundert sich mit Fragen der Interpretation religiöser Quellen beschäftigt haben und aufgrund der Meinungsverschiedenheiten im Laufe der Zeit diverse Gruppierungen und Strömungen entstanden sind, die sich zu religiös-rechtlichen Fragen unterschiedlich positioniert haben. Durch die Vermittlung dieser historischen Entwicklung erhalten die Teilnehmer*innen von Fachkräftefortbildungen eine Idee von der Pluralität des Islams und erkennen, dass es zu spezifisch religiösen Fragen viele Antworten geben kann. In der Arbeit mit Jugendlichen schließt sich die Frage nach den konkreten Formen des Zusammenlebens von Menschen im Hier und Jetzt an: Wie wollen wir leben?
Unsere Erfahrung zeigt: Religiös begründete und nichtreligiöse Positionen widersprechen sich meist nicht, sondern stehen nebeneinander – und im Einklang mit den Zielen politischer Bildung. Ausnahmen bestätigen die Regel und bieten Gelegenheiten für Gespräche, Kontroversen in der Gruppe und pädagogische Angebote.
Literatur
Gärtner, Christel und Hennig, Linda: „Religion als Ressource zur Krisenbewältigung unter Bedingungen von Migration“. In: Heimbach-Steins, Marianne (Hrsg.): Religion(en) in der Einwanderungsgesellschaft. Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, 58. Band, 2017, S. 91-113.
o.V.(o.J.): Politische Bildung. https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/gesellschaftlicher-zusammenhalt/politische-bildung/politische-bildung-node.html
Elger, Ralf/Friederike Stolleis (Hg.): Kleines Islam-Lexikon. Geschichte – Alltag – Kultur. München: 6., aktualisierte und erweiterte Auflage 2018.
Könemann, Judith: Religion. In: Zimmermann, Mirjam und Lindner, Heike (Hg.): Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet (WiReLex). (https://www.bibelwissenschaft.de/fileadmin/buh_bibelmodul/media/wirelex/pdf/Religion__2018-09-20_06_20.pdf)
[1] Vgl. Gärtner und Hennig (2017). Eine solche Motivation beschränkt sich nicht auf Jugendliche.
[2] S. Tirmiḏī, Istīḏān 9.; Abū Dāwūd, Adab 148 und Buḫārī, Istīḏān 15.