„Wut ist einfacher zu fühlen als Angst“ – Ein Interview zu Verschwörungstheorien bei Jugendlichen
11. August 2020 | Jugendkulturen und Soziale Medien, Radikalisierung und Prävention

Daniel Can und Matthias Kathan arbeiten für die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg unter Anderem zum Thema Verschwörungstheorien bei Jugendlichen. Im Interview mit ufuq.de-Mitarbeiterin Jenny Omar erklären sie, wie Verschwörungstheorien funktionieren, was sie für Jugendliche attraktiv macht und welche Handlungsmöglichkeiten es in der pädagogischen Arbeit gibt. Sie stellen außerdem ihr Fortbildungsprogramm vor, in dem sich Schüler*innen und Lehrer*innen mit Verschwörungstheorien auseinandersetzen können.

Jenny Omar: Herr Can, Herr Kathan, wie entstehen eigentlich Verschwörungstheorien?

Daniel Can: Vorab: Der Begriff „Verschwörungstheorie“ ist im wissenschaftlichen Diskurs nicht unumstritten. Es gibt einige alternative Vorschläge zur Umschreibung dieses Phänomens. So werden zum Beispiel Verschwörungsmythen, Verschwörungsideologien, Verschwörungsüberzeugungen, aber auch viele andere Begriffe genutzt, die unterschiedliche Aspekte aufgreifen und die auch ihre Berechtigung haben. Wir können im weiteren Verlauf aber gerne den in der Fragestellung verwendeten Begriff „Verschwörungstheorien“ nutzen.

Matthias Kathan: Ausgangspunkt für die Entstehung einer Verschwörungstheorie ist meist ein Ereignis oder eine Veränderung. Dabei wird typischerweise die Frage gestellt, welche Gruppe von Menschen hiervon profitiert. Daraus wird die Behauptung abgeleitet, dass es die Profiteur*innen sein müssen, die diese Entwicklung exakt so geplant und vorangetrieben haben. Gegenargumente können dann der aktiven Verschleierung des Vorhabens zugeschrieben werden, also der bewussten Täuschung bis hin zum Platzieren falscher Indizien. Ihren Ursprung finden Verschwörungstheorien häufig in Momenten der Uneindeutigkeit. Sie überzeugen dann durch eine Erzählung, die ordnend wirkt und Klarheit bietet. Das ist in vielen Fällen auch das Attraktive an ihnen: Einfache Antworten auf erlebte Verunsicherung. Verschwörungstheorien entstehen dabei nicht unbedingt gesteuert und sind nicht zwangsläufig stringent. Sie sind häufig in sich fluide und anpassungsfähig.

Jenny Omar: Was macht Verschwörungstheorien attraktiv für Jugendliche?

Daniel Can: Wie gesagt sind Verschwörungstheorien immer dort anschlussfähig, wo Menschen mit komplexen Sachverhalten konfrontiert sind, für die keine bewährten Erklärungsmuster greifen oder die sich einfachen Interpretationen entziehen. Sie entspringen dem sehr menschlichen Bedürfnis nach Sinnzusammenhängen und eingängigen Erklärungen, vielleicht auch Deutungen von gesellschaftlich oder persönlich herausfordernden Problemlagen. Ausgangspunkt ist dabei oft eine berechtigte und wichtige, kritische Haltung gegenüber Informationen oder Erklärungen unterschiedlicher Quellen, die wir grundsätzlich ja auch fördern möchten.

Matthias Kathan: Bei solchen Abwägungen und der Suche nach besagten Sinnzusammenhängen stoßen Jugendliche auf unseriöse, wissenschaftlich nicht fundierte Quellen und auf Verschwörungstheorien, die durch die Behauptung einfacher Wirkmechanismen, einer Einteilung in Gut und Böse oder auch dem Versprechen der unmittelbaren Herstellung der Handlungsfähigkeit zu überzeugen wissen. Üblicherweise finden sich diese Verschwörungstheorien in Bezug auf unangenehme und beängstigende Themen, wie z.B. Krankheit, Krieg, wirtschaftliche Misserfolge. Ein wichtiger Faktor ist dabei häufig, dass Wut einfacher zu fühlen ist als Angst. Das Gefühl fehlender Kontrolle einer geheimen Opposition zuzuschreiben, anstatt einer komplexen Gemengelage, ist leichter zu ertragen.

Daniel Can: Verschwörungstheorien bieten oft radikale Gegenpositionen zu etabliertem Wissen oder Alltagswissen. Hier wird auch das identitätsstiftende und selbstüberhöhende Potential dieser Erzählungen deutlich: Wir gegen die, gut gegen böse, rechtschaffen gegen hinterlistig, und so weiter. Außerdem bieten Verschwörungstheorien ganz banal gesprochen in der Regel die spannendere und außergewöhnlichere Erklärung für komplexe Situationen und anstrengende Themen. Das macht sie oft interessanter und auch einfacher zu multiplizieren, als es für reale Zusammenhänge möglich wäre. Die Beschäftigung mit der Frage nach einer alternativen Realität birgt ja auch das Potential radikaler Veränderung, das je nach Einschätzung der eigenen Lebensperspektive, des gefühlten Erfolges, der Selbstwirksamkeitserwartung usw. für Jugendliche reizvoll sein kann. Auch wenn Ihre Frage auf die Arbeit mit Jugendlichen abzielt, ist uns an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass all das keinesfalls exklusiv auf Jugendliche zutrifft – auch Erwachsene sind anfällig für Verschwörungstheorien.

Jenny Omar: Warum sind Verschwörungstheorien problematisch?

Daniel Can: Problematisch sind sie vor allem, weil die Trennung zwischen der kleinen Gruppe der Verschwörer*innen und allen anderen oft mit menschenverachtenden und diskriminierenden Weltanschauungen einhergeht und in daraus resultierendem Handeln münden kann. Häufig erfolgt dabei auch der Rückgriff auf althergebrachte rassistische und antisemitische Erklärungs- und Abwertungsmuster. Zudem können Verschwörungstheorien durchaus auch gezielt und aus politischer Motivation heraus behauptet und gestreut werden. Die fatalen Folgen, die sich aus antifeministischen, antisemitischen oder rassistischen Verschwörungstheorien ergeben können, sind uns jüngst auch durch Terroranschläge in Deutschland vor Augen geführt worden.

Matthias Kathan: Ein weiterer, ganz grundsätzlich problematischer Aspekt ist: Demokratische Gesellschaften streben einen gleichberechtigten Aushandlungsprozess über die Gestaltung der Gesellschaft an. In diesem Prozess gibt es Raum für Pluralität, für den Wettstreit von Werten und Interessen, usw. Für Anhänger*innen von Verschwörungstheorien schließen sich gesellschaftliche Diskussions- und Aushandlungsräume, also real existierende Möglichkeiten der Teilhabe und auch der Mitgestaltung und der Glaube an die Verschwörungstheorie aber häufig gegenseitig aus. So kann das Misstrauen in demokratische Strukturen, Institutionen oder auch in die freie Presse so groß werden, dass nur noch ein Handeln außerhalb und gegen diese Strukturen erfolgversprechend erscheint. Dieser Vertrauensverlust erstreckt sich oft auch auf die Wissenschaft. Im Extremfall kann das dann beispielsweise bis hin zur Ablehnung von notwendigen medizinischen Eingriffen führen.

Jenny Omar: Was sind zurzeit die bekanntesten Verschwörungstheorien unter Jugendlichen?

Matthias Kathan: Diese Frage alleine illustriert den Reiz von Verschwörungstheorien. Sie sind durch ihre Radikalität und durch das Abweichen vom Gewöhnlichen für viele Menschen fast automatisch von teils geradezu voyeuristischem Interesse. Diesem Gefühl nachzugehen ist aber nicht zielführend. Es kann natürlich hilfreich sein, sich über Spezifika aktueller Verschwörungstheorien zu informieren, mit denen Jugendliche in Kontakt kommen, wenn man in pädagogischen Settings arbeitet. Viel wichtiger ist es aber, ihre angesprochenen Wirkmechanismen und Funktionen zu erkennen, um einschätzen zu können, an welcher Stelle welches pädagogische Handeln geboten ist. Das bedeutet beispielsweise auch, strukturellen Antisemitismus, der in Verschwörungstheorien nahezu immer mindestens anschlussfähig ist, zuverlässig zu erkennen und zu bearbeiten.

Jenny Omar: Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es in der pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen, um auf Verschwörungstheorien zu reagieren und sie möglicherweise zu entkräften?

Daniel Can: Zunächst muss man festhalten, dass es hierfür leider kein Patentrezept gibt. Idealerweise versucht man, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, dass Jugendliche eine Affinität zu Verschwörungstheorien entwickeln. Man sollte das Thema proaktiv angehen und den Jugendlichen selbst Werkzeuge an die Hand geben, mit denen sie Verschwörungstheorien analytisch durchdringen. Man muss die Anschlussfähigkeit von Verschwörungstheorien zu beispielsweise Antisemitismus, Rassismus und Antifeminismus aufzeigen und den menschenverachtenden Charakter sichtbar machen. Menschen, die die Gefahren von Verschwörungstheorien und deren Funktionsweisen kennen, sind besser vor solchen Ideologien geschützt.

Matthias Kathan: Medienkompetenz spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Hier geht es darum, postulierte Wahrheiten zu hinterfragen: Warum beispielweise sind die Quellen der Verschwörungstheoretiker*innen glaubwürdiger als etablierte Quellen oder Quellen der Gegenposition? Wenn dieser kritische Zugang zur Gewohnheit wird, dann ist es relativ unwahrscheinlich, dass man sich von falschen Informationen hinters Licht führen lässt. Wichtig in der pädagogischen Arbeit ist in jedem Fall, potenziell Betroffene zu schützen, Diskriminierungen und menschenverachtende Äußerungen als solche zu benennen, eine klare Haltung gegen menschenverachtende Positionen einzunehmen und sie sichtbar zu machen, da wo sie subtil daherkommen. Gleichzeitig ist es wichtig, die Jugendlichen nicht als schlechte Menschen zu brandmarken – also die Aussagen problematisieren, nicht aber die Jugendlichen selbst.

Daniel Can: Wir haben es in den allermeisten Fällen mit Jugendlichen zu tun, die keine gefestigten menschenverachtenden Einstellungen haben, sondern mit Menschen, die sich mit allerlei unterschiedlichen, oft komplexen, fordernden und auch überfordernden Lebensrealitäten konfrontiert sehen. Niemand ist gefeit oder immun gegen Verschwörungstheorien und der Glaube an oder die Beschäftigung mit solchen Theorien machen noch keine aluhuttragenden Verrückten. Wichtig ist es, dem Gegenüber weder durch eine Pathologisierung die Zurechnungsfähigkeit, noch die grundsätzliche Ehrlichkeit der Motive abzusprechen. Es ist wichtig, dass Jugendliche in ihren Sorgen, vielleicht auch in ihrer Wut, ernstgenommen werden und das auch spüren.

Matthias Kathan: Zudem ist es dringend angesagt, sich das jeweilige pädagogische Setting und die Beziehung zwischen Pädagog*in und Jugendlichen und gegebenenfalls weiteren Beteiligten anzuschauen. Je nach Konstellation kann die Beschäftigung mit Verschwörungstheorien auf verschiedenen Ebenen erfolgen. So haben Lehrkräfte oder Sozialpädagog*innen in widerkehrenden Settings die Möglichkeit, langfristig an den Themen zu arbeiten, in anderen Settings geht das nur kurzfristig. Manchmal kann eine bereits vorhandene stärkere Beziehung zwischen Jugendlichen und Pädagog*innen hilfreich sein. Gewissermaßen geht es also um den ureigenen Ansatz der Sozialen Arbeit, den Menschen mit der Gesamtheit seiner Lebensrealitäten und seiner Bedürfnisse ernst zu nehmen.

Jenny Omar: Die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg bietet Fortbildungen für Fachkräfte zum Thema Verschwörungstheorien an. Was genau passiert in diesen Fortbildungen? Mit welchen Fragen kommen die Fachkräfte zu Euch?

Daniel Can: In unseren Fortbildungen versuchen wir zunächst, der Frage nachzugehen, was Verschwörungstheorien eigentlich sind. Welche Eigenschaften sind für sie charakteristisch, welche Funktion erfüllen sie, was kann problematisch an ihnen sein? Wir thematisieren auch die bereits angesprochenen pädagogischen Handlungsmöglichkeiten zur gezielten, aktiven Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien. Tatsächlich kommen viele Pädagog*innen also mit ähnlichen Fragen auf uns zu, wie sie hier im Interview aufgeworfen wurden. Interessant ist wohl noch zu erwähnen, dass wir uns in Zeiten von Corona – in denen es ja einen wirklich bemerkenswerten Aufschwung des Themas gab und gibt – mit einer erhöhten Nachfrage digitaler Angebote konfrontiert sehen. Wir bieten deshalb seit kurzem auch Webinare und Online-Vorträge zu diesem Thema an.

Jenny Omar: Zusätzlich bietet ihr einen offenen E-Learning-Kurs für Schüler*innen zu Verschwörungstheorien an. Wie können Lehrkräfte dieses Angebot mit Schüler*innen nutzen und wo sind möglicherweise die Grenzen eines solchen Angebots?

Matthias Kathan: Genau, wir haben auch einen frei zugänglichen E-Learning-Kurs. Der Kurs kann vor allem als Einstieg in das Thema genutzt werden, um Aspekte von Verschwörungstheorien und den Umgang damit zu thematisieren. Ein Fokus des E-Learning-Kurses liegt auf dem Ausbau von Medienkompetenzen. Selbstverständlich kann der Kurs kein Ersatz für Diskussionen sein, die Lehrkräfte mit ihren Schüler*innen führen sollten, er kann aber als unterstützendes, methodisch ansprechendes und abwechslungsreich gestaltetes Element zum Einstieg genutzt werden.

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