„Wir sagen nicht: Magst du einen Juden kennenlernen?“ – Der neue ufuq.de Couch Talk mit Yonatan Weizman vom Projekt Shalom Rollberg
17. November 2022 | Diversität und Diskriminierung, Religion und Religiosität

Yonatan Weizman zu Gast beim ufuq.de Couch Talk. Bild: ufuq.de

Im Projekt Shalom Rollberg, das im Neuköllner Rollbergviertel angesiedelt ist, treffen jüdische und muslimische Welten aufeinander. Durch alltägliche Begegnungen und pädagogische Aktivitäten entstehen so Dialoge zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen, die zu einem Abbau von Stereotypen und Vorurteilen beitragen sollen. Projektleiter Yonatan Weizman erklärt uns, warum er und sein Team politische Themen in ihrer Arbeit eher ausklammern und wie man es schafft, polarisierende und emotionale Themen auf Augenhöhe zu besprechen.

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Transkript zum Video

Sakina Abushi:

Hallo und herzlich willkommen zum ufuq.de Couch Talk. Ich bin Sakina. Ich freue mich, dass ihr wieder dabei seid und ich freue mich heute besonders über meinen Gast. Bei mir ist Yonatan Weizman. Er hat es aus Neukölln auf unsere Couch geschafft, um uns von seiner Organisation Shalom Rollberg zu erzählen. Hallo Yonatan, schön, dass du da bist.

Yonatan Weizman:

Danke für die Einladung.

Sakina Abushi:

Yonatan, woran denkst du, wenn du an Neukölln denkst?

Yonatan Weizman:

Neukölln ist für mich eine Art Heimat. Also ich denke an mein Zuhause. Obwohl, ich denke auch daran, wie laut es ist und wie schmutzig und vielfältig. Das gibt es alles hier in Neukölln, unter anderem auch mich und meine Familie und mein Projekt Shalom Rollberg.

Sakina Abushi:

Das Projekt Shalom Rollberg sitzt im Rollberg-Kiez. Ihr seid eine kleine Organisation, die sich für jüdisch-muslimischen Dialog einsetzt. Kannst du uns nochmal erzählen, was das Rollberg-Viertel ist? Was kann man sich darunter vorstellen? Denn wir haben viele Zuschauer, die nicht aus Berlin kommen.

Yonatan Weizman:

Gerne, aber zuerst eine kleine Korrektur: Shalom Rollberg ist ein Projekt von Morus 14 e.V. Das Rollberg-Viertel ist ein sehr besonderes Viertel in Neukölln. Es hat einen ganz hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund und ist vielleicht der einzige Ort in Berlin, der gar nicht gentrifiziert ist, weil die meisten Wohnungen im Rollberg-Kiez Sozialwohnungen sind. Das heißt, dass immer neue Menschen mit Migrationshintergrund in den Rollberg-Kiez kommen, und das ergibt eine sehr besondere Bevölkerungsmischung. Ich glaube, 92% der Leute im Rollberg-Kiez kommen aus arabischen Ländern, aus der muslimischen Welt. Es gibt kaum Menschen mit anderem Hintergrund im Rollberg-Kiez. Wir versuchen die große, weite Welt in den Kiez reinzubringen, denn viele Leute kommen nach ihrer Ankunft in Deutschland direkt in den Rollberg-Kiez und erfahren kaum Anderes. Für viele von unseren Kindern ist zum Beispiel ein Ausflug zum Alexanderplatz etwas ganz Spannendes. Viele Kinder waren noch nie da, obwohl sie schon ganz lange in Berlin wohnen. Wir versuchen, die Vielfalt von Berlin in den Rollberg-Kiez zu bringen.

Sakina Abushi:

Für mich ist das Besondere an Neukölln ja auch, dass viele Israelis dort leben. Das ist irgendwie ganz lustig. Wie war das für dich? Du bist in Israel geboren, aufgewachsen, hast da studiert und bist 2009 nach Berlin gezogen, nach Neukölln. Was hast du da angetroffen? Welche Rolle hat die israelische Community für dich gespielt?

Yonatan Weizman:

In Israel habe ich Muslime getroffen, aber kaum mit Muslimen gesprochen, ich hatte keinen Kontakt. Ich kann mich erinnern an einen meiner ersten Tage in Neukölln: Ich habe einen kurzen Austausch gehabt mit einer Frau mit Kopftuch. Das war für mich etwas ganz Besonderes, weil in Israel Juden und Muslime oft ziemlich getrennt voneinander leben; zumindest war es vor zehn Jahren so. Das Leben in Neukölln hat mir die Augen geöffnet und ich habe erfahren und gesehen, wie geschützt und getrennt von Anderen mein Leben vorher war. Für mich ist es nichts Besonderes, Israelis in Neukölln zu treffen, weil ich Israeli bin und viel Kontakt zu Israelis habe und es in meinem Projekt viel um Israel und Israelis geht, aber genau das Gegenteil, der Kontakt zu Muslimen und Nichtjuden, ist das, was für mich spannend ist. Bei Shalom Rollberg versuchen wir, Kontakt zwischen Juden und Nichtjuden zu ermöglichen, in einem pädagogisch positiven Kontext. Das heißt praktisch, dass wir Nachhilfeunterricht oder Gruppenunterricht wie Fußball oder Yoga anbieten und die Lehrkräfte Juden oder Israelis sind. Die Teilnehmer nicht. Dass unser Publikum vorwiegend muslimisch ist, ist nicht absichtlich, sondern nur deshalb, weil die meisten Kinder – wir richten uns an die Kinder im Rollberg-Kiez – Muslime sind oder einen muslimischen Hintergrund haben.

Sakina Abushi:

Wie schwierig ist es für euch, diese Barriere zu überwinden? Wie groß ist überhaupt die Barriere zwischen muslimischen und jüdischen Menschen in Neukölln? Wie getrennt sind diese Welten?

Yonatan Weizman:

Ich persönlich finde, dass wir mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen Juden und Muslimen haben, zumindest mehr Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Muslimen als zwischen Juden und Christen oder Muslimen und Christen. Aber das ist nur meine persönliche Meinung. Der ganze Diskurs ist geprägt von Politik und wir versuchen, das was wir machen, davon zu trennen. Wir schaffen es, diesen Kontakt zu ermöglichen, weil wir kein Thema aus Herkunft, Religion und Hintergrund machen. Wir sagen nicht zu einem Kind: „Magst du einen Juden kennenlernen? Willst du vielleicht Yoga mit einer jüdischen Lehrerin lernen?“ Nein, wir sagen einfach: „Magst du Fußballspielen? Willst du Yoga lernen? Komm mal zu uns, das ist kostenlos und macht viel Spaß. Ach, übrigens, deine Lehrerin, dein Lehrer, hat vielleicht einen anderen Hintergrund und feiert dann andere Feiertage und spricht vielleicht eine andere Sprache.“ Erst später erfahren die Kinder, dass es da einen Unterschied zwischen ihnen und der Lehrerin oder dem Lehrer gibt. Aber erst einmal machen wir kein Thema daraus. Manchmal gibt es Schwierigkeiten, aber die kommen oft nicht von den Kindern.

Sakina Abushi:

Sondern von den Eltern?

Yonatan Weizman:

Genau, und das kann ich auch nachvollziehen. Jeder hat einen Hintergrund mit verschiedenen Erfahrungen, vielleicht nicht ganz positiven. Also bin ich nicht sauer, wenn jemand kaum Kontakt mit mir haben will. Was ich manchmal auch erfahre, ist, dass manche meine Hand nicht schütteln wollen. Ich weiß nicht, ob das so ist, weil ich Jude, Israeli oder einfach ein Mann bin. Manche Frauen geben keinen fremden Männern die Hand.

Sakina Abushi:

Haben du oder deine Freiwilligen Strategien entwickelt, wie ihr umgeht mit solchen schwierigen Situationen?

Yonatan Weizman:

Wir müssen einen Unterschied machen zwischen einer Beleidigungssituation, wenn jemand versucht, mich zu verletzen, weil ich Jude/Israeli bin, und zwischen alltäglichen Missverständnissen oder kulturellen Unterschieden. Wenn eine Frau mir die Hand nicht gibt: kein Thema. Jeder darf über seinen Körper selbst entscheiden. Auf unserem ersten Maifest kam ein Kind zu mir und sagte: „Ah, du bist der Jude.“ Es scheint, als wäre ich der einzige Jude im Rollberg-Kiez, ich bin „der Jude“. Ich bin auch Lehrer an einer Schule. Meine Strategie in diesem Moment war, kein Thema daraus zu machen, sondern eher ein bisschen abzulenken. Ich habe gesagt: „Sie sind der Jude, nicht du bist der Jude“, denn in erster Linie bin ich immer noch sein Lehrer und er mein Schüler. Er soll sich an mich mit „Sie“ wenden. Ich sage auch nicht: „Du bist der Christ“ oder egal was. Erstmal soll er mich als Mensch kennenlernen, als seinen Lehrer. Und wenn wir eine Beziehung und ein bisschen Vertrauen aufgebaut haben, dann können wir darüber sprechen, was Religion bedeutet und wie wichtig es ist, dass wir einander mit Respekt behandeln.

Sakina Abushi:

Wie sehr spielen politische Ereignisse oder politische Konflikte eine Rolle in eurer Arbeit? Der Nahostkonflikt ist etwas, das immer wieder in den Medien ist, was immer wieder hochkocht, wo es Gewalt gibt. Wie geht ihr damit um?

Yonatan Weizman:

Gute Frage. Wir versuchen, die ganzen politischen Themen einfach zu vermeiden. Wir sprechen nicht über Politik. Das ist absichtlich so. Man kann Kritik daran üben, dass wir nicht über die wichtigen Themen sprechen. Wir machen das mit Absicht. Aber manchmal wollen vor allem die älteren Kinder, die Teenager, über Politik sprechen. Ich bin schon mehrmals konfrontiert worden mit Sätzen wie: „Du hast meine Familie ermordet, du hast mein Land gestohlen.“ Ich als Israeli bin gemeint. Wir von Rollberg vertreten keine Regierung und auch keine Religion, sondern nur uns selbst als Menschen. Und wenn jemand so etwas zu mir sagt, sehe ich das als einen guten Moment, um einen Dialog zu starten. Ich sage niemals: „Das stimmt nicht, das kann nicht sein“, weil das für viele ein sehr emotionales Thema ist. Wenn ich sage das stimmt nicht, dann gibt es eine Spannung in diesem Moment. Er oder sie glaubt es stimmt, und ich komme und sage genau das Gegenteil. Ab diesem Moment können wir kein weiteres Gespräch führen. Also versuche ich, Empathie zu zeigen und von diesem Punkt weiter ein höfliches, respektvolles Gespräch zu führen. Aber oft versuchen wir, nur über ganz alltägliche, normale Sachen zu sprechen. Die Sachen, für die Kinder sich interessieren: „Was hast du am Wochenende gemacht?“, „Wie geht es dir in der Schule?“, „Welches Fußballteam magst du nicht?“ Ich sage absichtlich „Team“ und nicht „Mannschaft“, weil eines unserer letzten Projekte ein gemischtes Fußballteam ist, Jungen und Mädchen, jüdische und muslimische Kinder. Ich möchte das Wort „Mannschaft“ vermeiden, weil nicht alle männlich sind.

Sakina Abushi:

Yonatan, wie geht‘s euch nach zwei Jahren Pandemie? Wie geht’s Shalom Rollberg? Habt ihr genug Freiwillige? Kann man euch irgendwie unterstützen, wenn man jetzt Lust bekommen hat, mit euch zusammen zu arbeiten?

Yonatan Weizman:

Gute Frage. Es geht uns immer besser. Die Sonne scheint, die Pandemie ist zu Ende, aber Unterstützung brauchen wir bestimmt. Die letzten zwei Jahre waren ziemlich hart. Wir hatten kaum Kontakt zueinander, keinen zu Freiwilligen und die Kinder brauchen unsere Unterstützung. Das heißt, wir freuen uns sehr über jeden, der oder die sich bei uns engagieren möchte. Und weil unser ganzes Projekt nur von Spenden lebt, brauchen wir natürlich finanzielle Unterstützung. Jede Spende, egal ob groß oder klein, bringt uns viel Freude. Wir bekommen keine öffentlichen Fördermittel. Wir brauchen Unterstützung und freuen uns über Unterstützung. Außerdem kann jede*r, der oder die mehr erfahren möchte, mich einfach über unsere Webseite kontaktieren. Schreibt mir eine E-Mail oder ruft mich an. Ich spreche gerne über Shalom Rollberg.

Sakina Abushi:

Vielen Dank, dass du heute bei uns warst und uns von deinem Projekt und eurer tollen Arbeit erzählt hast.

Yonatan Weizman:

Vielen Dank.

Sakina Abushi:

Das war der ufuq.de Couch Talk. Danke, dass ihr wieder dabei wart und bis zum nächsten Mal!

Gefördert durch die
Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).
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