„Wir können es uns nicht mehr leisten, Diskriminierungsvorfälle zu bagatellisieren“ – Das neue Antidiskriminierungsgesetz in Berlin
2. April 2020 | Diversität und Diskriminierung

In den kommenden Wochen wird Berlin als erstes deutsches Bundesland ein eigenes Anti­diskrimi­nierungs­gesetz verabschieden. Der Entwurf wird derzeit im Abgeordnetenhaus beraten. Die Landes­regierung sieht im Landesanti­diskriminierungs­gesetz (LADG) ein wichtiges gesellschafts­­politisches Signal gegen Ausgrenzungen und Stigmatisierung und für eine offene, solidarische und vielfältige Gesellschaft. Warum ist ein Landesantidiskriminierungsgesetz neben dem Allgemeinen Gleich­behandlungs­­gesetz (AGG) wichtig? Welche Neuerungen enthält das Gesetz? Was bedeutet es für Lehrkräfte und Schüler*innen? ufuq.de-Mitarbeiterin Sakina Abushi hat dazu Sebastian Walter befragt, Mitglied im Ausschuss für Verfassungs- und Rechts­angelegenheiten, Geschäftsordnung, Verbraucherschutz, Antidiskriminierung und Sprecher für Antidiskriminierung und Queerpolitik der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Sakina Abushi: Berlin bekommt demnächst als erstes Bundesland ein Landesanti­diskriminierungs­gesetz. Warum?

Sebastian Walter: Das Landesanti­diskriminierungs­gesetz (LADG) ist für uns, also die Rot-rot-grüne Koalition in Berlin, ein sehr wichtiges Vorhaben. Wir wollen den Schutz vor Diskriminierung stärken, Teilhabe und Chancengleichheit herstellen und einen Wandel in der Verwaltung erreichen. Daneben ist das Ziel eine, wie es im Gesetz heißt, Wertschätzung der Kultur der Vielfalt.

Sakina Abushi: Es gibt doch bereits seit einigen Jahren das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) als Bundesgesetz. Wieso ist ein zusätzliches Landesantidiskriminierungsgesetz notwendig?

Sebastian Walter: Es gibt zwei Gründe: Erstens deckt das AGG nicht alles ab. Das AGG ist für Zivilrecht, Dienstrecht und Arbeitsrecht zuständig, aber der Bereich des öffentlich-rechtlichen Handelns ist damit nicht umfasst. Die Europäische Union hat aber Richtlinien erlassen, die vorgeben, dass es auch in diesem Bereich einen aktiven Diskriminierungsschutz geben muss. Berlin ist das erste Bundesland, das diese Vorgabe aktiv aufgreift und rechtlich umsetzt. Zweitens gibt es ja durchaus berechtigte Kritik am AGG. Das LADG erweitert das antidiskriminierungsrechtliche Grundgerüst, das das AGG bildet. Es enthält beispielsweise ein echtes Verbandsklagerecht, einen umfassenderen Katalog der Diskriminierungsmerkmale, der beispielsweise den sozialen Status, Sprache oder chronische Erkrankung enthält. Unser Ziel ist es, in Berlin antidiskriminierungsrechtliche Impulse zu setzen, die hoffentlich auch in einer überfälligen Novellierung des AGG münden.

Sakina Abushi:: Wie definiert das LADG Diskriminierung?

Sebastian Walter: Bemerkenswert ist zunächst, dass dieses Gesetz zum ersten Mal wirklich von Diskriminierung spricht. Sonst wird oft von ungerechtfertigter Ungleichbehandlung gesprochen. Das LADG formuliert ganz klar ein Diskriminierungsverbot: „Kein Mensch darf im Rahmen öffentlich-rechtlichen Handelns aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, einer rassistischen Zuschreibung, der Religion und Weltanschauung, einer Behinderung, einer chronischen Erkrankung, des Lebensalters, der Sprache, der sexuellen und geschlechtlichen Identität sowie des sozialen Status diskriminiert werden.“ Das Gesetz unterscheidet außerdem zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung, wenn also beispielsweise rechtliche Vorschriften oder Gesetze dazu führen, dass eine Person diskriminiert wird.

Sakina Abushi: Bei wem liegt laut LADG die Beweislast? Muss im Fall der Fälle die betroffene Person nachweisen, dass sie diskriminiert wurde, oder muss die Institution nachweisen, dass sie nicht diskriminiert hat?

Sebastian Walter: Die Lösung, die wir gefunden haben, liegt ein wenig dazwischen. Es gibt eine Vermutungsregelung: Wenn Tatsachen glaubhaft gemacht werden, die eine Diskriminierung wahrscheinlich machen, dann tritt in der Tat eine Beweislastumkehr in Kraft. Die öffentliche Stelle muss dann beweisen, dass es nicht zu einer Diskriminierung kam. Doch nicht jeder Vorwurf löst dieses Verfahren aus, sondern es braucht eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 Prozent. Ob diese vorliegt, entscheidet das Gericht. 

Sakina Abushi: Nehmen wir an, die öffentlich-rechtliche Hand hat mich diskriminiert. Wie gehe ich am besten vor?

Sebastian Walter: Als erstes sollte man bei der Stelle, wo das vorgekommen ist, Beschwerde einlegen. Die Institution muss zunächst die Möglichkeit haben, ihr Verhalten zu korrigieren. Darüber hinaus würde ich Betroffenen immer empfehlen, sich Unterstützung zu holen, denn es gibt in Berlin eine ganze Reihe von Antidiskriminierungsverbänden, die großartige Arbeit leisten. Dort kann man sich beraten lassen und gemeinsam über die nächsten Schritte entscheiden. Ich muss auch nicht selbst notwendigerweise vor Gericht erscheinen. Das Gesetz sieht sowohl ein Verbandsklagerecht wie auch eine Prozessstandschaft vor. Wir halten es für wichtig, dass ein Verband eine Klage übernehmen kann, denn erstens kann Diskriminierung zu Traumatisierung führen, und zweitens ist es durchaus voraussetzungsvoll, vor Gericht zu klagen, nicht nur finanziell. Mit dem LADG wird außerdem eine Ombudsstelle eingerichtet werden. Damit gibt es eine Ombudsperson, an die man sich wenden und der man seinen Fall vortragen kann. Diese kann gegebenenfalls selbst ermitteln, Gespräche führen und eine Lösung erzielen.

Sakina Abushi: Es gibt durchaus auch Kritik an Ihrem Gesetzesvorhaben. Manche befürchten, dass es zu Klagewellen kommt oder zu einer Überforderung der Verwaltung und der Gerichte. Was entgegnen Sie den Kritiker*innen?

Sebastian Walter: Die Erfahrung zeigt, dass diese Ängste glücklicherweise unbegründet sind. 2005, als das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz auf Bundesebene diskutiert wurde, gab es dieselben Befürchtungen vor Massenklagen, vor allem aus der Privatwirtschaft. Es gibt aber relativ wenige Klagen nach dem AGG, die Entschädigungen sind sehr moderat, einige sagen: zu moderat. Auch beim LADG wird es nicht zu Massenklagen kommen. Die Leute werden sich sehr genau überlegen, ob sie vor Gericht ziehen. Man muss sie vermutlich sogar eher dazu ermutigen, dass sie ihre Rechte wahrnehmen werden.

Ich möchte für das Gesetz werben: Ich glaube, dass wir mit diesem Gesetz Rechtssicherheit schaffen. Es gibt in der Verwaltung durchaus Abläufe, bei denen möglicherweise unklar ist, ob sie eine diskriminierende Wirkung haben. Mit den ersten Gerichtsentscheidungen wird folglich Rechtssicherheit für die Verwaltung entstehen.

Sakina Abushi: Was könnte man tun, damit das LADG auch wirklich umgesetzt wird?

Sebastian Walter: Sobald dieses Gesetz verabschiedet ist, beginnt eine öffentliche Kampagne zur Information der Bürger*innen. Jeder und jede soll wissen, dass es jetzt dieses Gesetz gibt und wie man es in Anspruch nehmen kann. Genauso wichtig ist es, die Mitarbeiter*innen der Verwaltung zu schulen, also unsere über 100.000 Landesbediensteten, die Dienstkräfte in Schulen, bei der Polizei und an anderen öffentlichen Stellen.

Sakina Abushi: Was bedeutet das LADG für Schüler*innen, die Diskriminierung in der Schule erfahren?

Sebastian Walter: Ehrlicherweise bin ich selbst gespannt, wie das LADG im Schulbereich wirkt. Ich hoffe, dass es eine unterstützende Wirkung im Kampf gegen Diskriminierung an Schulen hat. Ich kann mir schon vorstellen, dass es zum Beispiel bei ungerechtfertigten Schulempfehlungen hilfreich sein kann, das LADG als Unterstützung an der Seite zu haben. Andererseits bin ich mir auch bewusst, dass wir im Kontext Schule noch wesentlich mehr brauchen als nur dieses Gesetz, wenn wir Diskriminierungen wirklich etwas entgegensetzen wollen.

Neben Gesetzen sind vor allem klare Regeln und Strukturen, aber auch nachhaltige Präventionsmaßnahmen geeignet, um Diskriminierung zu bekämpfen. Ich spreche von klaren Beschwerde- und Interventionsmechanismen. Am wichtigsten wäre es, wenn jede Schule eine eigene Antidiskriminierungsstrategie für sich erarbeitet: An wen kann ich mich wenden, wenn es zu einer Diskriminierung gekommen ist? Werden Diskriminierungsvorfälle konsequent dokumentiert? Wird Vorwürfen nachgegangen? Wir hielten es für notwendig, dass alle Schulen eine diskriminierungssensible Organisationsentwicklung durchlaufen würden. Genauso wichtig sind konkrete Empowerment-Angebote für Schüler*innen, die marginalisierten Gruppen angehören. Auch unsere Schulmaterialien sind weit davon entfernt, diskriminierungskritisch zu sein. Eine Frau mit Kopftuch sollte im Schulbuch nicht immer das Bild der Geflüchteten bedienen. Sie kann in der Darstellung genauso gut eine Ingenieurin oder eine Professorin sein.

Sakina Abushi: Wie wollen Sie die Berliner Lehrer*innen mitnehmen?

Sebastian Walter: All dies sind keine Maßnahmen gegen Lehrer*innen. Im Gegenteil: Von einem besseren, diskriminierungssensiblen Schulklima und einer demokratischen Schulkultur profitiert die gesamte Schule. Diskriminierungssensibilität führt dazu, dass es zu weniger Konflikten kommt und dass Schüler*innen mehr Wertschätzung haben. Wir können es uns nicht mehr leisten, Diskriminierungsvorfälle zu bagatellisieren. Unsere schriftlichen Anfragen an die Senatsbildungsverwaltung haben gezeigt, dass es an Berliner Schulen ein großes Problem mit Diskriminierung gibt. Davon geht entgegen der öffentlichen Wahrnehmung ein Großteil von Lehrer*innen aus. Das muss sich dringend ändern.

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