Wie viel Differenz ist möglich? Die Debatte um Nemi El-Hassan und Kontroversität im Nahostkonflikt
16. September 2021 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung

Die Moderatorin Nemi El-Hassan steht unter Druck: Sie hat als junge Frau an einer Al-Quds-Demonstration teilgenommen und muss sich nun erklären. ufuq.de-Co-Geschäftsführer Jochen Müller fragt im Kommentar nach den Folgen einer Kultur des Verdachts und wieviel Differenz die Medienlandschaft der Migrationsgesellschaft eigentlich verträgt.

Nemi El-Hassan ist Ärztin, Gründungsmitglied der Comedy-Gruppe Datteltäter und Journalistin. Als Protagonistin taucht sie in Informationsfilmen der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) über den Islam und in anderen Bildungs-Formaten auf, zuletzt interviewte sie für FUNK (ARD und ZDF) eine Reihe von Spitzenpolitiker*innen zur Bundestagswahl – und sollte demnächst das Wissenschaftsmagazin Quarks im WDR moderieren… Sollte. Jetzt kam nämlich heraus, dass sie 2014 an einer Al-Quds-Demonstration teilgenommen und in dieser Zeit auch Kontakt zum Islamischen Zentrum in Hamburg hatte. Sowohl das IZH als auch die einst von Ayatollah Khomeini initiierten Al-Quds-Demonstrationen, in denen zur „Befreiung“ von Jerusalem (arab. Al-Quds) mobilisiert wird, stehen für den Einfluss des iranischen Regimes auch in Deutschland. Und: Wie die iranische Staatspropaganda sind sie antisemitisch.

Antisemitische Parolen wurden auch auf der Al-Quds-Demonstration in Berlin skandiert, an der im Jahr 2014 Nemi El-Hassan teilnahm, die heute 28 Jahre alt ist. Die Demonstration stand damals stark unter dem Eindruck einer zeitgleichen Offensive der israelischen Armee im Gazastreifen mit vielen Toten unter der Zivilbevölkerung, was weltweit auch viele Jugendliche und junge Erwachsene empörte und auf die Straße trieb. Die Bilder füllten 2014 die Nachrichtenkanäle: sowohl die Bilder von Raketen auf Gaza, als auch die von wütenden bis hasserfüllten, stark von Jugendlichen geprägten Demonstrationen in Berlin und anderswo.

Wer an einer Al-Quds-Demonstration teilgenommen hat und ein Magazin im öffentlich-rechtlichen Medien moderieren möchte, muss sich erklären. Nemi El-Hassan hätte das früher tun können, nicht zuletzt, weil der nun von der BILD-Zeitung losgetretene Skandal erwartbar gewesen ist. Einerseits. Erwartbar wäre andererseits aber auch gewesen, dass sich der WDR dann für eine andere Moderatorin entschieden hätte.

Inzwischen hat sie sich erklärt. Der WDR teilte mit: „Nemi El-Hassan (. . .) hat den WDR jetzt über ihre Teilnahme an der Al-Quds-Demonstration im Jahr 2014 informiert. In einem persönlichen Statement distanziert sie sich nachdrücklich und bezeichnet die Teilnahme als Fehler.“ Sie selbst teilte mit: „An den Al-Quds-Demos vor sieben Jahren in Berlin teilzunehmen, war ein Fehler.“ Sie habe damit ihre Solidarität mit Palästinenserinnen und Palästinensern zum Ausdruck bringen wollen: „Die Mittel waren die falschen, das sage ich heute mit Nachdruck. Ich distanziere mich daher klar und ausdrücklich von den Al-Quds-Demos sowie weiteren Demonstrationen in einem ähnlichen Kontext. Ich verurteile jegliche antisemitischen Äußerungen und Aktionen, sämtliche Arten von Gewalt und insbesondere die Gewalt, die auf diesen Demos stattgefunden hat.“ Heute ist im Spiegel ein Interview mit El-Hassan erschienen unter dem Titel „Ich schäme mich für diese Zeit“.

Noch deutlicher geht es wohl kaum. Auch das bpb-Video von 2015 zu ihrem persönlichen Islam- und Dschihad-Verständnis zeigt auf so freundliche wie entschiedene Weise, wie sie sich zu Grund- und Freiheitsrechten verhält, wie ablehnend sie islamistischer Ideologie gegenübersteht und wie sie all das mit persönlichem Engagement für Gerechtigkeit, Toleranz und gegen Diskriminierung verbindet – eine angesagte Botschafterin für die Jugend auf ARD- und ZDF-Kanälen, die folgerichtig für ihre unterschiedlichen Medienformate u.a. für den Grimme-Preis nominiert wurde. Dem WDR war El-Hassan „als engagierte Journalistin aufgefallen“, der man aufgrund ihrer Tätigkeit als Medizinjournalistin die Moderation von Quarks angeboten habe.

Dennoch sieht sich El-Hassan jetzt einer Flut mal mehr, mal weniger sachlicher, oft selbstgerechter und suggestiver Berichte in verschiedenen Medien ausgesetzt. Viele sind geprägt durch eine Kultur des Verdachts: Dass sie sich in den bpb-Filmen als Role-Model für Jugendliche explizit gegen Extremismus wendet und dabei von ihrem „persönlichen Dschihad“ spricht – d.h. ihrem Bemühen, ein guter und engagierter Mensch zu sein – und „die Wahrheit“ sagen möchte, „auch wenn es weh tut“, wird gegen sie gewendet, um eine mögliche Nähe zu islamistischer Ideologie zu suggerieren. Solche Verdächtigungen lassen einer bewegten, auch von Irrungen und Wirrungen begleiteten Biografie wie der von El-Hassan keine Chance – was die Frage aufwirft, welche Schlüsse Jugendliche mit Migrationshintergrund aus dem öffentlichen Umgang mit der muslimischen Medizinerin und Journalistin ziehen sollen?

Palästina, so berichtet die NZZ, hat die in Bad Saarow-Pieskow geborene El Hassan als ihre Heimat bezeichnet. Tatsächlich ist zu vermuten, dass sie in Sachen Nahostkonflikt wohl parteiisch bleibt – womit sie unter anderen für einen großen Teil von jungen und älteren Deutschen nah- und mittelöstlicher Herkunft stehen dürfte. Diese Parteilichkeit mag man kritisieren, sie ist aber nicht antisemitisch. So bleibt am Ende die Debatte darüber, wieviel Differenz und Heterogenität denn möglich sind in der Medienlandschaft der deutschen Migrationsgesellschaft? Wo sind die roten Linien – und wer setzt sie? Es sind sehr fundamentale Fragen, die gerade auf dem Rücken von Nemi El-Hassan ausgetragen werden. Der WDR hat die Zusammenarbeit mit ihr auf Eis gelegt und eine „sorgfältige Prüfung“ angekündigt.

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