Zeitgenössische politische Bildung muss den Blick auch auf das Religiöse lenken, damit nicht Religiosität mit Fundamentalismus verwechselt wird. Der katholische Theologe Karl Weber untersucht, wie die politische Bildung sich zu Religion, religiöser Überzeugung und religiösen Inhalten verhält. In diesem Beitrag spricht er sich dafür aus, dass auch in der politischen Bildung ein größeres Interesse daran entwickelt wird, wie sich religiöse Vorstellungen auf die konkrete politische Praxis auswirken.
Wie politisch ist das Religiöse? Für einen konfessionell gebundenen Träger wie die Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke (AKSB) ist der Titel dieses Buches (Das Religiöse ist politisch – Plädoyer für eine religionssensible politische Bildung; Anm. d. Red.) keine Gleichung. Vielmehr stellt eine politische Bildung in kirchlicher Trägerschaft selbst kritische Fragen an die Reichweite von Politik in Religion und umgekehrt. Kruzifixstreite, Kopftucherlasse, Aussagen wie »Der Islam gehört nicht zu Deutschland« oder »Kein heiliges Buch steht über dem Grundgesetz« markieren die Aufgeregtheiten unserer Zeit und zeigen, wie glatt derzeit das Parkett in Religions- und Weltanschauungsfragen ist. Konflikte vor Ort in Schulklassen oder in Stadtteilen um den Bau von religiösen Gebäuden sind Symptome dafür (vgl. dazu NAP 2017). Daran setzt die Mitwirkung der AKSB im Modellprojekt »Respekt Coaches/Antimobbing-Profis« (vgl. dazu den Beitrag von Andrea Keller in diesem Band) mit ihrem Projekt zur »Religionssensiblen politischen Bildung« an (zum Begriff vgl. Brumlik: 2017).
Weltanschauungsneutral heißt nicht wertneutral!
Einleitend gilt es, mit einem Blick auf die verfassungsrechtliche Entwicklung zu erinnern, dass die Trennung zwischen einer religiösen und einer politischen Sphäre den Rahmen für eine Diskussion um das Verhältnis des Religiösen zum Politischen bildet.
»Religionsfreiheit der Bürger und weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates sind die beiden Säulen, auf denen die Säkularität des freiheitlichen Verfassungsstaates ruht«, so hat Horst Dreier vor kurzem die beiden Brückenpfeiler für das Verhältnis des Staates zur Religion in der Moderne benannt. Auch wenn man ihm nicht in allen Punkten folgen will (was genau seine Absicht ist), wird man seiner Schlussfolgerung zustimmen müssen: »Die Verfassung ist ›weltanschaulich neutral, aber nicht wertneutral‹« (Dreier 2018: 117) »… Weltanschaulich-religiöse Neutralität bedeutet mithin Äquidistanz und Nichtidentifikation, aber nicht den Verzicht auf Wertentscheidungen, die sich auf verschiedene Milieus und Gesellschaftsgruppen unterschiedlich auswirken … Neutralität meint nicht Wertungsaskese, Inhaltsleere oder Gleichgültigkeit. Weltanschauliche Neutralität verlangt keine Indifferenz gegenüber den sozialen und politischen Verhältnissen, denn der Staat ist kein Neutrum. Jede Rechtsordnung, auch und gerade eine demokratische, beruht auf bestimmten sozialen, kulturellen und ideellen Grundlagen« (ebd. 109).
Diese Veränderungen der kulturellen und auch ideellen Prägung wird die politische Bildung in der Zukunft offensiv aufgreifen müssen. Diskussionen um Feiertagsordnungen, Kirchentagsfinanzierungen oder Kultpraktiken um die Rolle von Religion allgemein, werden in den kommenden Jahren zunehmen und nicht abnehmen, sie sind Ausdruck eines Kulturwandels, dem sich auch die politische Bildung in kirchlicher Trägerschaft stellen muss.
Religiosität ist nicht gleich Extremismus
Wie sehr dieses Feld gerade im Bereich von jungen Menschen im Fluss ist, zeigen ausgewählte Forschungsdaten aus dem Umfeld des 15. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung aus dem Jahr 2017. Darin wird ein sehr differenziertes Bild der weltanschaulichen Präferenzen von Jugendlichen in Deutschland gezeichnet. Zwischen Ost und West gibt es ein erhebliches regionales Gefälle. In den ostdeutschen Bundesländern sind 73,7 % der Jugendlichen (11–25) ohne Religion, im Westen 11,6 %. Bei der Einschätzung zur Intensität der Religionsausübung gibt es eine signifikante Abweichung zwischen gläubigen Christen und Muslimen: Sich zum Christentum bekennende Jugendliche sehen ihre religiöse Aktivität in der großen Mehrheit als niedrig oder mittelmäßig ausgeprägt. Dagegen schätzen muslimische Jugendliche ihre religiöse Orientierung signifikant höher ein als nichtmuslimische Jugendliche: 53 % sagen von sich, sie seien hochreligiös, im Vergleich dazu christliche Jugendliche nur 15,1 % (zu den Zahlen vgl. Streib 2017: 9-14 sowie dort Abbildung 5, S. 14).
Allerdings warnt der Bericht davor, religiöse Aktivitäten mit religiösem Extremismus gleichzusetzen. »Eine pauschalisierende Zuschreibung fundamentalistischer und demokratiefeindlicher Einstellungen an ›muslimische Jugendliche‹ … ist äußerst problematisch und widerspricht den differenzierteren Ergebnissen einschlägiger Studien.« Eine Distanz zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stehe »weniger mit religiösen Orientierungen als vielmehr mit dem Faktor Bildung im Zusammenhang« und »werde umso wahrscheinlicher …, je geringer das Bildungsniveau der Jugendlichen ist« (KJB 2017, 215).
Warum diese Klarstellung? Die Verwechslung von Religiosität und Fundamentalismus greift ein weitverbreitetes Bild auf. Dass es religiösen Extremismus als jugendkulturelles Phänomen vor allem einer radikalisierten gewaltbereiten Gruppe zum Beispiel im salafistischen Milieu gibt, soll dabei gar nicht in Abrede gestellt werden (vgl. mit fundierten Daten zum Salafismus Kiefer u. a. 2018). Eine wichtige Rolle spielt bei der Radikalisierung das Internet; Chats, Foren und soziale Netzwerke sind zentrale Kommunikationsplattformen der Akteure.
Allerdings handelt es sich mit Blick auf den religiösen Fundamentalismus islamischer Jugendlicher weitgehend um gefühlte Wahrheiten. Laut den Materialien zum 15. Kinder- und Jugendbericht wurden zum aktuellen Stand (2017) belastbare Daten zum »Fundamentalismus bislang noch in keiner großen Jugendstudie erhoben« (Streib 2017: 42).
Zum Zusammenhang zwischen religiösen Einstellungen und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit hat allerdings die Vorurteilsforschung Daten erhoben. Ihr Ergebnis: Religiöse Bindung produziert im Durchschnitt stärkere Vorurteile gegenüber Anders- oder Ungläubigen als Einstellungen nichtreligiöser Vergleichsgruppen (Küpper/Zick 2017). Dagegen hat die religionssoziologisch orientierte Forschung mit folgender Beobachtung argumentiert: Religion ist nicht gleich Religion – unterschiedliche religiöse Gottesbilder bedingen unterschiedliche Verhaltensweisen. Wer sich in seinem religiösen Gottesbild an der unbedingten Treue zur Schrift und Wahrheit orientiert und Gott als unbarmherzigen Vollstrecker internalisiert (»Gott ist der Rächer an den Ungerechten«), hat eine größere Bereitschaft zum Vorurteil im Vergleich zu jenen, die Gott als einen liebenden barmherzigen Gott verstehen (Streib 2017: 47 f.).
Deshalb muss auch in der politischen Bildung ein größeres Interesse daran entwickelt werden, wie sich religiöse Vorstellungen auf die konkrete politische Praxis auswirken. Eine besondere Chance der außerschulischen politischen Bildung liegt darin, dies im nonformalen Bereich zu besprechen, weil es hier um sehr private, der schulischen Bewertung entzogene Einstellungen geht. Als politische Bildung wird sie sich bei ihrem Einsatz für Demokratie (vgl. dazu den Beitrag von Siegfried Grillmeyer in diesem Band) für jene Werte starkmachen, die die Verfassung tragen.
Nützlichkeit ist keine Kategorie
Zugleich muss sie aber gerade im Sinne dieser Verfassungswerte darauf hinweisen, dass Nützlichkeitserwägungen des Staates nicht die primäre Motivation für ein religiös motiviertes Engagement in der politischen Bildung sein können. Denn es zeichnet unsere Verfassung aus, dass sie von Religion keine Nützlichkeit für den Staat erwartet. Das wäre Staatsreligion. »Wirksamkeit einer Religion im politischen Gemeinwesen und für es lässt sich nicht auf Legitimation oder Integration festlegen, sie kann ebenso auch Legitimation entziehen oder desintegrierend wirken, indem etwa die Unvereinbarkeit eines bestimmten Handelns oder gar bestimmter Strukturen in Staat oder Gesellschaft mit religiösen Grundforderungen aufgedeckt wird« (Böckenförde, zitiert nach Dreier 2018: 125).
Für eine religionssensible politische Bildung in kirchlicher Trägerschaft bedeutet dies: »Letzte Dinge« sind ihre Sache nicht, das unterscheidet Bildung von Verkündigung. Sie plädiert für die Benennung von Gründen für weltanschauliche Überzeugungen in einer offenen Gesellschaft. Religiös begründete Anliegen bringt sie aus einer Selbstverpflichtung heraus in der Öffentlichkeit einer pluralen Gesellschaft zur Sprache. Diese Verpflichtung kann sich durchaus aus der Glaubenseinsicht speisen, dass Solidarität weit über die eigene Gruppe hinausgehen muss. »Christen verurteilten jede Gewalt und jeden Hass, der religiös oder politisch begründet werde und der sichtbar werde, wenn Menschen angegriffen, Kirchen, Synagogen oder Moscheen angezündet und geschändet werden«, so der Tenor einer Karfreitagspredigt im Jahr 2018 (Marx 2018). Selbstverständlich ist eine solche Haltung nicht, zumal in früheren Zeiten in Kirchen für die »treulosen« und »verblendeten« Juden gebetet wurde. Innere Überzeugungen lassen sich nicht verordnen. Aber vielleicht bilden.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Buch „Das Religiöse ist politisch – Plädoyer für eine religionssensible politische Bildung“, herausgegeben von Siegfried Grillmeyer und Karl Weber im Echter Verlag, Würzburg (2019, Seite 33 ff.). Wir danken dem Autor und dem Echter Verlag sehr herzlich dafür, ihn hier veröffentlichen zu dürfen.
Literatur
Brumlik, Michael; Schulte, Axel; Lechner, Martin; Weiße, Wolfram; Freise, Josef; Bohmeyer, Axel u.a. (2017): Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit. Positionen, Theorien, Praxisfelder. Hg. v. Matthias Nauerth, Kathrin Hahn, Michael Tüllmann und Sylke Kösterke. Stuttgart. Online verfügbar.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2017): Bericht der Bundesregierung über Arbeit und Wirksamkeit der Bundesprogramme zur Extremismusprävention. Online verfügbar (pdf).
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2016): Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung. Berlin. Online verfügbar (pdf).
Dreier, Horst: Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, München 2018.
Kiefer, Michael; Hüttermann, Jörg; Dziri, Bacem; Ceylan, Rauf; Roth, Viktoria; Srowig, Fabian; Zick, Andreas (Hg.) (2018): »Lasset uns in sha’a Allah ein Plan machen«. Fallgestützte Analyse der Radikalisierung einer Whats-App-Gruppe. Wiesbaden: Springer VS (Islam in der Gesellschaft).
(KJB) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2017): Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. 15. Kinder- und Jugendbericht und Stellungnahme der Bundesregierung. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Online verfügbar (pdf).
Küpper, Beate; Zick Andreas (2017): Religion und Menschenfeindlichkeit. In: Religiosität: Die dunkle Seite. Beiträge zur empirischen Religionsforschung. Hg. v. Christian Zwingmann, Constantin Klein, Florian Jeserich, Münster, S. 117–137.
Marx, Reinhard: Karfreitagspredigt 2018. Online verfügbar (zuletzt abgerufen am 1.12.2018).
(NAP) Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend; Bundesministerium des Inneren (Hg.) (2017): Nationaler Aktionsplan gegen Rassismus. Positionen und Maßnahmen zum Umgang mit Ideologien der Ungleichwertigkeit und den darauf bezogenen Diskriminierungen. Stand: Juni 2017, Kabinettbefassung am 14. Juni 2017. Berlin. Online verfügbar (pdf).
Streib, Heinz (2017): Religiöse Orientierungen, spirituelle Konstruktionen und Formen religiöser Vergemeinschaftung bei Jugendlichen. In: Sachverständigenkommission 15. Kinder- und Jugendbericht (Hg.): Materialien zum 15. Kinder- und Jugendbericht. DJI München. Online verfügbar (pdf).