Wie kann man mit Kindern über Rassismus sprechen? – das Projekt „POWER ME“ zu Gast beim ufuq.de-Couch Talk
30. August 2023 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung

Screenshot aus dem Couch Talk mit Nuran Yiğit

Das Projekt „POWER ME“ hat sich zum Ziel gesetzt, Kinder mit Rassismuserfahrungen nicht allein zu lassen, sondern Räume des Austauschs und der Solidarität zu schaffen, in denen Selbstsicherheit gefördert wird. Auch für Eltern und Bezugspersonen gibt es Angebote, um sich zu vernetzen und Sensibilität für Rassismus zu schaffen. Doch wie und wann kann man mit Kindern über Rassismus sprechen? Die Projektleiterin Nuran Yiğit stellt die drei Säulen ihrer Arbeit vor und erzählt, was sie sich von Weißen Menschen wünscht.

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Transkript zum Video

Maryam Kirchmann:

Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge vom ufuq.de Couch Talk!

Mein Name ist Maryam Kirchmann und in der heutigen Folge beschäftigen wir uns mit einem Thema, das uns bei ufuq schon länger begleitet: Rassismuserfahrungen von Kindern und Jugendlichen. Meine heutige Gästin ist Nuran Yiğit, Projektleitung vom Projekt „POWER ME“, das Empowerment-Räume für Kinder anbietet. Schön, dass du da bist.

Nuran Yiğit:

Hallo Maryam. Danke für die Einladung.

Maryam Kirchmann:

Mir sind Empowerment-Räume vor allem für Jugendliche oder junge Erwachsene bekannt. Warum braucht es auch für Kinder Empowerment-Räume?

Nuran Yiğit:

Dazu muss ich ein bisschen ausholen… Ich arbeite ja schon sehr lange im Antidiskriminierungs-, Antirassismus- und Empowermentbereich, vor allen Dingen mit Erwachsenen. 2015 habe ich mit dem Projekt „KiDs – Kinder vor Diskriminierung schützen“ angefangen, auch Antidiskriminierungsberatung für Kinder bis zwölf Jahren anzubieten. Dort haben wir gemerkt, dass den Kindern in der Beratung zwar geholfen wird, aber dass dieser Gruppenkontext aus der Empowerment-Arbeit fehlt. Ich habe mich dann nach Empowerment-Gruppenangeboten für Kinder auf die Suche gemacht, aber nichts gefunden.
Und so haben wir uns damals mit anderen Kolleg*innen, u.a. von ReachOut, zusammengeschlossen. Wir haben uns überlegt: Wie könnte so ein Empowerment-Raum für rassismusbetroffene Kinder aussehen? Wir haben zunächst Miniprojekte entwickelt und gemerkt, dass wir da in ein Wespennest gestochen haben. Das war für uns der Beweis, dass es solche Räume geben muss. Das Projekt wurde dankend angenommen und die Kinder haben sich auch sehr wohlgefühlt.

Wir haben schnell gemerkt, wir müssen etwas Größeres daraus machen. Vor zweieinhalb Jahren haben wir deshalb das Projekt „POWER ME“ gegründet, ein Empowerment-Projekt für Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren. Dort haben wir verschiedene Angebote für rassismusbetroffene Kinder. Aber nicht nur für die Kinder, sondern auch für Eltern und Bezugspersonen, für Psycholog*innen und Pädagog*innen. Die Angebote sind aber ein bisschen kleiner, weil unser Fokus eindeutig bei den Kindern liegt.

Maryam Kirchmann:

Ab welchem Alter sollte man oder kann man denn mit Kindern überhaupt schon über Rassismus sprechen?

Nuran Yiğit:

Diese Frage kann man nicht pauschal beantworten. Das ist sehr stark vom Kind und von der Familienkonstellation abhängig. Deswegen bieten wir auch die Workshops für Eltern und Bezugspersonen an, weil es in Bezug auf diese Frage eine große Verunsicherung gibt.
Weil man sie nicht pauschal beantworten kann, sollten Eltern und Bezugspersonen in Workshops über diese Fragen, ihre Verunsicherungen, Ängste und Sorgen sprechen können.
Unser Angebot wird vor allen Dingen von Weißen Eltern und Weißen Bezugspersonen in Anspruch genommen, weil da die Verunsicherung sehr stark ist. Diese Gruppe hat selbst keine Rassismuserfahrungen gemacht und wird durch ihr Kind, ihren Partner oder Familienangehörige teilweise zum ersten Mal mit diesem Thema konfrontiert. Dafür sind diese Workshops sehr wichtig.
Es geht eigentlich auch gar nicht darum, dass mit dem Kind direkt über Rassismus gesprochen wird. Es fängt eigentlich viel niedrigschwelliger an. Es geht viel darum, Vertrauen zum Kind aufzubauen, damit es weiß, dass es mit den Eltern oder Bezugspersonen über schwierige Themen sprechen kann. Es geht darum, eine Sensibilität für das Kind herzustellen, zum Beispiel über Spielmaterialien oder Kinderbücher. Es geht auch darum, die Identitätsaspekte, die durch den Rassismus so stark abgewertet werden, positiv aufzuladen, indirekt auch wieder über Spielmaterialien, Kinderbücher usw.

Wenn ein Kind soweit ist, über Rassismus zu sprechen, über diese Erlebnisse oder Gefühle, dann ist es auch so weit, dass man darüber spricht. Natürlich in einer kindgerechten Sprache.
Aber wenn das Kind selbst zu diesen Themen Fragen stellt, vielleicht auch, weil es über Medien etwas mitbekommen hat, sollte man schon mit ihm sprechen. Wenn man selbst verunsichert ist, sollte man sich informieren: Wie kann ich kindgerecht über diese schweren Themen sprechen, ohne das Kind noch mehr zu belasten? Für Kinder ist es eine noch stärkere Belastung, wenn gar nicht darüber geredet wird, weil es dann im Raum steht. Für die kindliche Entwicklung ist noch schwieriger, wenn es Tabuthemen gibt. Wenn Rassismus ein Tabuthema ist, dann ist es sehr schwierig.

Maryam Kirchmann:

Wie läuft es denn konkret ab, wenn ihr ein Angebot für Kinder entwickelt oder umsetzt? Was genau macht ihr mit den Kindern?

Nuran Yiğit:

Der pädagogische Fokus für die Kinder liegt darauf, die Identitätsanteile positiv aufzuladen, die unter anderem durch Schule rassistisch aufgeladen werden.
Z.B. „Du bist schön! Du bist toll, du hast Talente, du kannst was.“ Das erleben die Kinder durch Angebote kreativer, aber auch sportlicher Art. Wir haben zum Beispiel Theater-Workshops oder Kreativ-Workshops, in denen gezeichnet wird – verschiedene Tools, in denen sich Kinder dann ausprobieren können. Das Besondere an diesem Gruppenkontext ist, dass da nur Kinder sind, die auch von Rassismus betroffen sind. Da sind nur Schwarze Kinder oder Kinder of Color, die alle ähnliche Geschichten und ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Wir nennen das einen geschützten oder geschützteren Raum. Die Referent*innen, also alle Erwachsenen, die in diesem Kontext sichtbar sind, sind selbst auch Schwarz oder of Color. Das heißt, allein die Schaffung eines solchen Raumes ist schon etwas Besonderes.

Manche Kinder kommen zum Beispiel in die Workshops und wissen schon ganz genau, warum sie da sind, weil die Eltern eben sehr offen mit ihren Kindern kommunizieren. Dort gibt es schon eine sehr starke Sensibilisierung. Es gibt aber auch Kinder, die gar nicht genau wissen, warum sie jetzt da sind. Sondern sie kommen eher, weil sie das Thema gerade interessiert und sie sich in den Workshops ausprobieren möchten. In eines der letzten Workshops hatten wir zum Beispiel eine Teilnehmerin, die dann zu meiner Kollegin gesagt hat: „Mir ist aufgefallen, hier sind nur Kinder wie ich. Warum eigentlich?“ So kommt man auch über das Thema „Rassismus“ ins Gespräch. Das ist die zweite Säule.

Die erste Säule der pädagogischen Arbeit ist diese positive Identitätsaufwertung – ein Gegenstück zu der Realität herzustellen, die viele Kinder in Deutschland erleben. Die zweite Säule ist, wenn Kinder darüber sprechen möchten. Dann sprechen wir auch darüber und wir versuchen das dann auch gut abzurunden, sodass das Kind gestärkt rausgeht und bedanken uns auch für das Vertrauen, das das Kind uns und der Gruppe entgegenbringt. Wir hoffen, dass die Kinder dadurch auch lernen: „Es liegt nicht an mir, ich bin nicht schuld daran.“ Die Kinder stellen sich in diesem Alter oft die Schuldfrage oder suchen die Schuld bei sich: „Was habe ich falsch gemacht?“,  „Es liegt an mir“ usw. Das stimmt nicht. Das versuchen wir den Kindern mitzugeben. In diesem Prozess findet eine ganz starke Entlastung statt, weil sie dann merken: „Ich bin nicht allein. Das erleben auch andere Kinder. Es hat nichts mit mir zu tun. Es gibt Räume, in denen ich darüber sprechen kann.“

Maryam Kirchmann:

Das ist sicher total positiv und super bestärkend für die Kinder, in diesem Raum zu sein. Da kommt direkt so ein wohliges Gefühl bei mir auf. Aber die Realität in den Schulen oder auch im Alltag sieht anders aus – man muss eigentlich nur vor die Tür oder in die U-Bahn gehen. Wie geht ihr damit um? Versucht ihr, die Kinder auch für diese Situation zu stärken?

Nuran Yiğit:

Das wäre sozusagen der dritte Schritt, den wir auch angehen. Wir haben ein Konzept entwickelt, einen Selbstbehauptungsworkshop. Darin geht es um die Aktivierung der Selbstpotenziale, um in schwierigen Situationen in solchen Gruppenkontexten schon mal erste Ideen zu entwickeln: Wie kann ich damit umgehen? Wen kann ich zu Hilfe holen? Welche Gefühle kommen hoch? Mit wem kann ich darüber sprechen? Was kann ich in dem Moment tun, damit es mir gut geht?

Das versuchen wir durch ein Angebot zu erproben und das Erproben ermöglicht uns die Weiterentwicklung. Ich kann mir gut vorstellen, dass wir das auch irgendwann als regelmäßiges Angebot haben. Erstmal möchten wir aber Vertrauen zu den Kindern und Familien aufbauen, weil es sehr viel um Vertrauen geht. Jetzt haben wir das Gefühl, einige Kinder haben schon so oft teilgenommen, Vertrauen aufgebaut. Jetzt können wir auch so einen Selbstbehauptungsworkshop anbieten, in dem es auch wirklich um diese krassen Themen gehen kann, wenn die Kinder das möchten.

Maryam Kirchmann:

Es gibt in einem rassistischen System immer ein Machtverhältnis, also auch eine Weiße Mehrheitsgesellschaft. Welchen Umgang wünschst du dir in Bezug auf Rassismus von Weißen Menschen?

Nuran Yiğit:

Ich würde das erstmal auf Schule runterbrechen. Von den Lehrer*innen und Erzieher*innen und auch generell von Weißem pädagogischem Personal in der Schule würde ich mir definitiv wünschen, dass sie sich zu Rassismus weiterbilden. Es herrscht so eine unheimliche Unwissenheit. Manchmal denke ich, wir bewegen uns in der Steinzeit, was das Wissen zu diesem Thema angeht. Ich wünsche mir, dass da eine Sensibilisierung, ein Wissenszuwachs stattfindet, damit man überhaupt darüber sprechen kann.

Was in der Schule, aber auch in anderen Bereichen oft passiert: Weiße Personen fühlen sich sich sofort angegriffen und sofort gehen die Weißen Abwehrmechanismen los. Dann arbeitet man sich erstmal an diesen Abwehrmechanismen ab und es geht gar nicht um das Kind. Es geht nicht um das Erlebte, um den rassistischen Vorfall, den das Kind erfahren hat, sondern um die Befindlichkeiten der Weißen Dominanz. Das geht nicht! Wir müssen uns das so wie eine Kinderschutzverletzung vorstellen. Wenn ein Kind in der Schule Rassismus erlebt, rassistisch beleidigt und angegriffen wird, ist das eine Kinderschutzverletzung. Dann muss das Kind im Zentrum stehen. Die Erwachsenen müssen ihre eigenen Befindlichkeiten wegstecken und woanders bearbeiten. Sie können sie gerne bearbeiten, sie können auch ihre Befindlichkeiten haben, sie können ihre Verletzungen haben – das ist menschlich, das ist okay. Aber dann sollen sie das in einem anderen Raum bearbeiten.
Das wünsche ich mir nicht nur, ich fordere das auch!
Schließlich vertrauen wir dem deutschen Schulsystem unsere Kinder an. Dann kann ich auch sagen: „Ich fordere von euch, dass mein Kind nicht rassistisch verletzt und angegriffen wird. Wenn es passiert, dann fordere ich von euch, dass ihr das adäquat bearbeitet und dafür sorgt, dass es abgestellt wird, dass mein Kind das nicht nochmal erleben muss und auch andere Kinder nicht.“ Das findet nicht statt.

Manche Schulen haben sich auf den Weg gemacht, aber das sind wirklich eher Einzelfälle, die ich beobachte. Das hat sehr viel mit Engagement einzelner Lehrer*innen, Erzieher*innen oder Schulleitungen zu tun. Da funktioniert das auch. Aber sobald diese Person wegbricht, sagen wir, die Schulleitung geht in Pension oder die Lehrerin wechselt die Schule, dann sind wir wieder ungefähr um fünf Jahre zurückgeworfen. Das System Schule muss sich ändern. Grundlegend. Aber darauf können wir nicht warten. Denn die Kinder sind jetzt da und sie waren schon immer da.
Wir müssen überlegen: Wenn das System Schule sich nicht in absehbarer Zeit verändern wird, wie können wir es schaffen, im Hier und Jetzt Veränderungen herzustellen? Diese Veränderung kann nur durch uns passieren.

Die Kinder brauchen starke Erwachsene, egal ob Weiß-positioniert oder BIPoC-positioniert. Die Kinder brauchen starke, erwachsene Partner*innen an ihrer Seite, die achtsam sind, die für Rechte einstehen, die Kinder unterstützen, die ein Auge darauf haben, um den Kindern auch das Gefühl zu geben: „Ihr seid nicht alleine.“ Die Kinder sollen ein eigenes Bewusstsein entwickeln: „Ich lasse mir das von euch nicht nehmen, ich gehöre hierher und kämpfe auch dafür.“ Diese Solidarität versuchen wir durch unsere Angebote zu fördern: „Seid solidarisch miteinander, seid nicht vereinzelt an den Schulen, wenn ihr was beobachtet, geht hin, unterstützt euch!“

Maryam Kirchmann:

Für alle Eltern oder auch Kinder, die uns zuhören: Wo kann man euch denn finden?

Nuran Yiğit:

Auf unserer Website kann man lesen, wer wir überhaupt sind und was wir machen. Dort gibt es auch die Rubrik „Programm“ und in diesem Programm sieht man, welche Angebote wir haben.

Man kann sich in den Newsletter eintragen, sodass man immer die neuen Angebote und Informationen mitbekommt. Oder man kann uns auf Instagram folgen. Aktuelles kriegt man dort immer mit, da sind wir ganz gut dabei.

Maryam Kirchmann:

Vielen Dank, Nuran, dass du euer tolles Projekt „POWER ME“ vorgestellt hast.

Vielen Dank, liebe Zuschauer*innen, dass Sie wieder beim ufuq.de Couch Talk dabei waren. Bis zum nächsten Mal!

Gefördert durch die
Logo des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX)
Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).
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