Tschetschenien mit seinen etwa anderthalb Millionen Einwohner*innen gilt als eine konservative, islamisch geprägte Gesellschaft, in der religiöse Werte und Normen mit traditionellen gewohnheitsrechtlichen und säkularen Vorstellungen miteinander konkurrieren. Doch wie stehen Menschen tschetschenischer Herkunft, die in Deutschland leben, zur Religion? Dr. Marit Cremer von MEMORIAL Deutschland präsentiert Ergebnisse einer Studie über junge Tschetschen*innen in Deutschland.
Die tschetschenischstämmige Bevölkerungsgruppe ist in Deutschland erst seit wenigen Jahrzehnten beheimatet. Erst mit dem zweiten Tschetschenienkrieg und fehlenden Zufluchtsorten in der Region erhöhte sich ab 2001 die Zahl der Geflüchteten, die das Land nach Westeuropa verließen. Mittlerweile gibt es größere tschetschenische Diasporagruppen auch in Frankreich, Belgien, Österreich, Norwegen und Polen. In Deutschland leben derzeit etwa 50.000 Menschen tschetschenischer Herkunft, ein Teil von ihnen ist inzwischen eingebürgert.
Deutlicher noch als andere Gruppen von (muslimischen) Geflüchteten steht die tschetschenischstämmige Community in der öffentlichen Wahrnehmung im Verdacht, in besonderer Weise traditionellen und oft gewaltbegünstigenden Werten und Normen anzuhängen. Tatsächlich spiegelt sich in der Community ein breites Spektrum an religiösen Glaubensvorstellungen und Identitätskonstruktionen wider, die sowohl durch die gesellschaftlichen Entwicklungen in Tschetschenien als auch durch die Bedingungen und Erfahrungen in Deutschland beeinflusst werden. Dabei spielen der Zeitpunkt der Einwanderung und das Alter der Eingewanderten eine wichtige Rolle.
Religion und Gesellschaft in Tschetschenien
Die in den 1960er und 1970er Jahren geborenen Tschetschen*innen waren – umso mehr, wenn sie in städtischer Umgebung sozialisiert worden waren – weitgehend vom staatlich verordneten Atheismus und einem durch die Eltern oder Großeltern höchstens zurückhaltend vermittelten Islam geprägt, der sich häufig nur noch auf religiöse Praktiken im familiären Kontext beschränkte. Das Wissen über den Islam ging aufgrund der jahrzehntelangen Verfolgung von Religion in der Sowjetunion weitgehend verloren und wurde nur noch oberflächlich vermittelt. Im Selbstverständnis dieser Generation spielte Religion nur eine untergeordnete Bedeutung.
Großer Einfluss kommt in der tschetschenischen Gesellschaft neben religiösen Werten und Normen bis heute dem traditionellen, patriarchalisch geprägten „Gewohnheitsrecht“ (Adat) zu, das wesentlich auf den Zusammenhalt der Gemeinschaft auch jenseits etablierter staatlicher Regeln und Strukturen ausgerichtet ist. Charakteristisch hierfür ist ein Verständnis der Gemeinschaft, das das Individuum dem Bestand der Gemeinschaft unterordnet und diese auch mit sozialem Druck und Sanktionierungen aufrechterhält. Zusammen mit der säkularen Rechtsordnung, die in Zeiten der Sowjetunion etabliert wurde, bilden das Gewohnheitsrecht und der Islam ein sogenanntes „Rechtsdreieck“, in dem sich individuelle und gesellschaftliche Wert- und Normenverständnisse entwickeln. In Zeiten von gesellschaftlichen Umbrüchen und Wertewandel verbinden sich mit diesen teilweise widersprüchlichen Ordnungsvorstellungen besondere Herausforderungen und Konflikte, die zur gesellschaftlichen Desintegration und sozialen Verwerfungen beitragen können (Cremer 2017, 48-52).
Gerade unter jüngeren Einwander*innen spiegeln sich diese Entwicklungen, die in Tschetschenien seit der politischen und gesellschaftlichen Öffnung Ende der 1980er Jahre zu beobachten waren. Die „Perestroika“ stand auch für eine Liberalisierung der Religionspolitik und die Wiederherstellung des Rechts auf freie Ausübung der Religion. Wie in anderen Sowjetrepubliken auch führte dies in Tschetschenien zu einer Renaissance des Islams, die in einer Wiederbelebung von sichtbarer Religiosität im Alltag und der Wiedereröffnung von religiösen Institutionen, sowie schließlich auch in einer Verankerung des Islams als Staatsreligion zum Ausdruck kam. Begleitet wurden diese Entwicklungen von Veränderungen des religiösen Selbstverständnisses. So zeigte sich in wachsenden Teilen der Bevölkerung eine Hinwendung zu einem konservativ ausgelegten Islam, der beispielsweise durch das bis dahin nicht übliche Tragen muslimischer Kleidung in der Öffentlichkeit sichtbar wurde.
Islamistische Gruppierungen stießen vor allem in der jüngeren Generation auf Zuspruch. Vor dem Hintergrund der Verwerfungen und Verwüstungen, die Russlands brutal geführte Kriege gegen Tschetschenien (1994-1996 bzw. 1999-2009) hinterließen, gewannen islamistische Strömungen an Bedeutung. Das repressive Regime von Ramzan Kadyrov, der mit Unterstützung der russischen Regierung im Mai 2007 zum Präsidenten der russischen Teilrepublik Tschetschenien ernannt wurde, steht für die katastrophalen Folgen dieser Entwicklung: Mit autoritärer Herrschaft und willkürlichen Verfolgungen, die auch mit dem Kampf gegen islamistische Milizen und dem im Oktober 2007 ausgerufenen islamistischen „Kaukasischen Emirat“ begründet wurden, zeichnet Kadyrov verantwortlich für eine von Gewalt und Repression durchdrungene Gesellschaftsordnung. Die umfassende Kontrolle der Religionsausübung und Koranauslegung, die beispielsweise eine erhebliche Einschränkung der Handlungsspielräume für Frauen zur Folge hat (Cremer 2017), sowie die staatliche Einmischung in alle Lebensbereiche der Bevölkerung führten zu einer weiteren Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung (Gunya 2019), aber auch zu einer anhaltenden Emigration aus der Republik.
Religion in der zweiten Generation tschetschenischer Immigrant*innen
Im Rahmen einer qualitativen Studie mit jungen erwachsenen Deutschtschetschen*innen wurde in fünfzehn leitfadengestützten Interviews neben Erfahrungen im Migrationsprozess auch das Verhältnis zur Religion erfragt. [1] Die Interviewten waren zwischen 19 und 35 Jahren alt und im Zeitraum von 1996 bis 2008 nach Deutschland gekommen. Die meisten von ihnen waren als Kinder mit ihren Eltern aus Tschetschenien oder einem anderen Teil der Russischen Föderation geflohen, einige von ihnen hatten vor ihrer Migration nach Deutschland in angrenzenden europäischen Ländern gelebt oder waren für einige Jahre nach Tschetschenien zurückgekehrt.
Die folgenden Zusammenfassungen der Interviews geben einen Einblick in unterschiedliche Zugänge zur Religion und ihre Relevanz für persönliche, familiäre und gesellschaftliche Beziehungen.
Kulturislam als Bindeglied zur tschetschenischen Herkunft
Für die Eltern von Mansur, die während der Brezhnev-Ära (1964-1982) sozialisiert wurden, spielten religiöse Praktiken und Glaubensvorstellungen kaum eine Rolle. Sie konnten Mansur kein grundständiges Wissen über den Islam vermitteln. Als Student der Naturwissenschaften erklärt Mansur sich die Schönheit und Funktionsweise der Natur mit „etwas Höherem, das ist definitiv nicht aus Zufall entstanden“. Er findet im Koran selbst die Aufforderung zur intellektuellen Auseinandersetzung mit der Schrift: „Nicht dieses äußerliche Leben, sondern versuchen zu verstehen, was ist denn jetzt inhaltlich die Sache, die ich verstehen muss? Das wird ja auch eigentlich im Koran so ganz oft betont. Sprecht über Sachen, hinterfragt Sachen! Das ist auch so etwas, das ich aus der Religion mitgenommen hab.“
Religiöse Verpflichtungen wie die täglichen Gebete und den Fastenmonat Ramadan praktiziert er pragmatisch, „wenn’s möglich ist. Ist halt nicht immer möglich.“ Für Mansur ist Religion eine Lebenshilfe, religiöse Praktiken passt er seinen Lebensumständen an. Dafür benötigt er keine Gemeinschaft der Gläubigen und ist entsprechend nicht Mitglied einer Moscheegemeinde – für seine Zwecke könnte er auch eine andere Religion nutzen. Gleichwohl ist der Islam für ihn das Bindeglied zu seiner Verwandtschaft aus dem muslimisch geprägten Tschetschenien.
Eine tschetschenische Identität jenseits des Islams
Emin wurde in einer Moscheegemeinde, die von Tschetschenen in seiner norddeutschen Heimatstadt gegründet wurde, religiös sozialisiert. Die Gemeinde hatte sich im Laufe der Jahre auch für Gläubige aus anderen Herkunftsländern geöffnet. Als Kind ging er am Wochenende regelmäßig zum Islamunterricht, auch heute noch ist ihm der Besuch der Moschee wichtig, ohne dass er darin allerdings eine Verpflichtung sieht: „Wenn ich Zeit habe und es passt, gehe ich halt dahin [zum Freitagsgebet]. Wenn ich nicht verschlafe, oder so.“ Schließlich sei der Mensch nicht für die Religion da, sondern die Religion für den Menschen. In der Gestaltung der Glaubenspraxis sieht er große Toleranzbereiche: Er selbst achtet auf Vorschriften, die er für muslimisch hält, und lehnt gewohnheitsrechtliche Traditionen ab. Auch von mystischen Traditionen aus dem Sufismus, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten in Tschetschenien Verbreitung fanden, distanziert er sich, sie gehören für ihn nicht zum Islam: „Das ist so ein Ding bei uns, ganz komisch.“ Der Islam sei zwar die Religion der Tschetschenen, Glauben sei jedoch die Entscheidung eines jeden einzelnen.
Islam als Lebenshilfe
Birlant ist als Jugendliche in einer Moscheegemeinde religiös sozialisiert worden. Für sie ist Religion vor allem eine Lebenshilfe in schwierigen Situationen: „Als es Zeiten gab, an denen ich wirklich verzweifelt bin, nicht wusste, wie es weitergehen soll, da gab es meine Religion. Da gab es den Glauben, die Hoffnung. Der Glaube hat mich da wirklich gestärkt.“
Birlant hat einen starken Rückhalt in ihrer Familie, die ihr Kopftuch toleriert. Mit dem Kopftuch schützt sie sich auch vor männlichen Begierden und folgt damit ihrem Verständnis des Koran. Birlant greift auf „Expert*innen“ in der Moschee zurück, um sich selbstbewusst mit ihrer Religion auseinanderzusetzen. Der Glaube beantwortet ihre existenziellen Lebensfragen nach dem Warum. Ihre Gebetspraxis passt sie den Gegebenheiten an und verwehrt sich gegenüber dogmatischen Vorstellungen: „Ich finde das echt schade: Dieser Zwang! Du musst, du musst! Nein, Du musst nicht. Wenn Du kannst, ja okay! Was passiert denn, wenn du jetzt nicht betest? Na, ja, gar nichts! Gott ist nicht grausam, Gott ist barmherzig.“
In ihrer Religionsausübung sieht sie daher keinen Maßstab für andere: „Das ist die eigene Entscheidung, meine Geschwister beispielsweise beten nicht. Und ich will auch nicht wissen, warum sie nicht beten, weil, es ist ihre Entscheidung. Es ist ihr Leben. Warum sollte ich das in Frage stellen? Vor mir muss sich niemand rechtfertigen, und ich muss mich auch vor anderen nicht rechtfertigen. Nur vor Gott muss ich mich rechtfertigen.“
Birlants Verständnis von Religion ist nicht an ihre tschetschenische Herkunft und Community gebunden. Die Gemeinschaft der Gläubigen ist ihr wichtig, sie hält jedoch Abstand zur tschetschenischen Community, um sich der sozialen Kontrolle zu entziehen.
Islam als Korrektiv des Menschen
Zelimkhan ist atheistisch aufgewachsen und beschäftigte sich erst als Erwachsener mit dem Islam. Er nutzt dafür das Internet, Bücher und Gespräche mit praktizierenden Muslim*innen, um sich über den Glauben zu informieren. Für ihn ist es entscheidend, selbständig zu einer eigenen Überzeugung zu kommen und sie nicht von anderen ungeprüft zu übernehmen. Es sei wichtig, „dass man auch Dinge in Frage stellt“.
Der Glaube gibt ihm Antworten auf alle Fragen, die mit dem Sinn des Lebens verbunden sind. Er geht zum Freitagsgebet in eine Moschee, fühlt sich aber keiner Moscheegemeinde zugehörig. Die Angst vor dem Gericht nach dem Tod spielt für seine Glaubenspraxis eine große Rolle: „Ich habe wirklich Angstzustände, wenn ich Gebete verpasse. Und ich fühl mich wiederum gut dabei, wenn ich das alles zur rechten Zeit schaffe, wenn ich mich daran halten kann. Das ist für mich eine große Erleichterung.“
Vor dem Hintergrund seiner Kriegserfahrungen in Tschetschenien sieht er religiöse Regeln als Schutz vor menschlichen Verwerfungen, die unendliches Leid verursachen könnten. Sie bieten ihm Struktur und Halt.
Zugleich fühlt er sich auch dem nichtreligiösen Wertekanon verbunden, der in der tschetschenischen Gesellschaft verbreitet ist. Zelimkhan verbindet das Gewohnheitsrecht und den Islam miteinander, ohne dass sich daraus für ihn Wertekonflikte ergeben.
Religion als Meditationstechnik
Für Jusup ist Religion Privatsache, in die sich niemand einzumischen hat: „Es gibt auch sehr viele Möchtegern-Muslime, die einem immer sagen, was man machen soll – und dass man bestimmte Sachen machen soll. Aber das sind halt selbst oft die letzten Vollpfosten! Religion ist meins, sie gehört mir! Ich muss sie mit keinem teilen.“ Diskussionen mit Tschetschen*innen, für die es nur eine richtige Religion gäbe, gehe er daher aus dem Weg. Er ist offen gegenüber anderen Religionen und hat keine Präferenz für eine bestimmte.
Sein Wissen über die verschiedenen Religionen hat er vor allem aus dem Schulfach „Normen und Werte“. [2] Jusup sucht sich die für ihn schönen Leitsätze aus den unterschiedlichen heiligen Schriften heraus und orientiert sich an ihnen. Für ihn geht es darum, so zu Menschen zu sein, „wie du möchtest, dass man zu dir ist.“ Entscheidungen trifft er dabei nicht nach religiösen Vorschriften, sondern – „auch wenn das doof klingt – nach meinem Menschenverstand.“
In schwierigen Situationen „flüchte ich mich nicht in die Religion, und suche da irgendwie nach Hilfe, sondern fokussiere mich dann quasi während des Gebets auf diese Frage, damit ich mir dann einfach die Zeit nehme, darüber nachzudenken.“ Es sei eher eine Form der Meditation als ein Gebet. Jusup distanziert sich von der Vorstellung, sich als gebürtiger Tschetschene zu einer bestimmten Form des Islams bekennen und sein Leben danach ausrichten zu müssen.
Ablehnung des Islams als rationale Entscheidung
Lajla wurde mit etwa zwölf Jahren von ihrer Mutter an muslimische Praktiken herangeführt und fand es zunächst „einfach toll, neu und schön. Ich habe gerne gebetet, gerne gefastet und so.“ In der Schule wurde ihr im Fach „Normen und Werte“ Wissen über verschiedene Religionen vermittelt. Sie bemerkt, „dass der Islam unheimlich divers ist, dass es nicht den einen Islam gibt, sondern ewig viele Richtungen und Schulen. Also sehr komplex! Muss man wirklich studieren, um da irgendwie durchzusehen.“
Während ihres naturwissenschaftlichen Studiums beginnt sie, die Dinge des Lebens zu hinterfragen und setzt sich im Zuge dessen auch kritisch mit ihrer Religion auseinander. Sie wolle nicht religiös sein, „nur weil meine Eltern es mir so beigebracht haben, sondern, weil es tatsächlich Sinn für mich macht. Und ich darin auch eine Logik finde oder so.“ Im Laufe ihrer intellektuellen Beschäftigung mit Religion distanziert sie sich von religiösen Praktiken und stellt fest, dass sie sich nicht mehr als Muslimin bezeichnen könne.
Auf die Frage nach ihrer persönlichen Haltung zur Religion ist sie zurückhaltend: „Kann ich mich enthalten?“ Sie ist sich bewusst, dass ihre Vorstellungen nicht den Erwartungen ihrer Familie oder von vielen in der tschetschenischen Community entsprechen und sorgt sich, damit dem Ruf ihrer Familie zu schaden.
Glauben als Wahlmöglichkeit
Lida bezeichnet sich als „überhaupt nicht religiös. Also gar nicht!“ Auf Wunsch ihrer Eltern musste sie als Jugendliche einige Jahre in Tschetschenien leben. Da sei die Religion „halt so eine kollektive Sache. Wenn die Gebetszeit anfängt, dann haben wir halt alle zusammen gebetet, das war halt so angebracht, das war Teil des Alltags. Und sich dem dann zu entziehen war natürlich mit großen Schwierigkeiten verbunden. Deswegen habe ich es gar nicht erst versucht und hab einfach mitgemacht.“ Sie kenne die Gebetspraktiken, fühle sich aber „der Religion, dem Islam, nicht zugehörig. Ich komm auch gut ohne klar.“
Von ihrer sehr religiösen Familie in Deutschland wird ihre Haltung, anders als noch in Tschetschenien, mittlerweile akzeptiert: „Wenn wir uns alle treffen, mein Bruder und meine Schwägerin, wenn alle dabei sind, und es ist Gebetszeit, dann beten die. Und ich mache dann halt mein eigenes Ding, mich drängt dann keiner zu irgendwas, was ich halt nicht möchte.“
Allerdings schließt sie nicht aus, dass ihr Religion im Laufe ihres Lebens noch einmal wichtig werden könnte, das müsse dann jedoch nicht zwingend der Islam sein. Aus dem Schulunterricht hat sie ein „gewisses Grundverständnis von verschiedenen Religionen, aber mich selbst nochmal mit Religionen zu beschäftigen hab ich mir noch nie vorgenommen.“
Ablehnung des Islams als Emanzipation von patriarchalen tschetschenischen Normen
Auch Hava wurde im Kindesalter das Beten von ihrer Mutter beigebracht. Sie hielt den Glauben an einen Gott für selbstverständlich, „weil ich halt Moslem bin“, bis sie in einer Lebenskrise die Theodizeefrage stellte und sich enttäuscht vom Glauben abwandte. Als Erwachsene begründet sie ihr kritisches Verhältnis zum Islam nun vor allem mit den Versuchen aus der tschetschenischen Community, sie mit religiösen Ge- und Verboten zur Einhaltung vermeintlich verbindlicher tschetschenischer Werte und Glaubensüberzeugungen zu zwingen. Als junge Studentin in Deutschland verwahrt sich Hava gegen diese Versuche der sozialen Kontrolle, die sie als massive Eingriffe in ihr selbstbestimmtes Leben empfindet.
Hava lehnt die Vorstellung ab, der Islam sei die „Religion der Tschetschen*innen“, hält sich aber die Option eines persönlichen Glaubens an einen Gott offen. Allerdings schränkt sie ein: „Wenn es ihn gibt, dann macht er seine Arbeit sehr, sehr schlecht! Vielleicht macht er Urlaub all die Jahre, die ich auf dieser Welt bin.“
Islam als Instrument zur Harmonisierung der Welt
Für Hadizhats Eltern hat das tschetschenische Wertesystem in Verbindung mit dem Gewohnheitsrecht Priorität vor dem Islam, der jedoch auch in der Familie in seiner traditionellen tschetschenischen Variante praktiziert wird.
Hadizhats Beschäftigung mit dem Islam beginnt erst im Jugendalter und findet über Freunde und das Internet statt. Sie ordnet sich keiner bestimmten Rechtsschule zu und ist in keiner Moscheegemeinde beheimatet. Ihr religiöses Wissen ist oberflächlich und ungenau.
Gegen den Willen der Familie entscheidet sie sich als junge Erwachsene für die Religion als übergeordnetes Regelwerk und will dies auch durch das Tragen eines Hidschabs nach außen zeigen. Mit dem Hidschab verbindet sie Schutz vor männlichen Übergriffen, aber auch eine emotionale Verbundenheit und bedingungslose Zugehörigkeit zur umma, der Gemeinschaft aller Muslime: „Du hast überall einfach Brüder und Geschwister, das ist einfach ein schönes Gefühl.“ Die umma versteht sie als eine in Harmonie lebende Familie, in der alle die gleichen Werte teilen und respektvoll miteinander umgehen. „Ich finde den Respekt, der mir von muslimischen Männern draußen erwiesen wird, das ist es auch nochmal wert, das wirklich nach außen zu zeigen.“
Hadizhat ist der Auffassung, dass ihr persönlicher Wille für ihre Lebensgestaltung unerheblich sei. Das Gebet dient ihr zur psychischen Entlastung und ist ihr geschützter Raum, der frei von sozialer Kontrolle und den Versuchen der Einflussnahme durch ihre Familie ist:
„Egal, wie schlecht es mir geht, ich stell mich auf meinen Gebetsteppich und lasse einfach alles raus, was ich rauslassen will. Und das ist einfach so ein Gefühl, wo ich mich, selbst wenn ich noch so allein auf der Welt wäre, aufgefangen fühlen würde. Das Wichtigste ist wirklich, Gefallen von meinem Herrn zu finden, weil damit für mich sich alles andere so ausgleicht und in Ruhe legt und alles so weniger ängstlich ist.“
Mit Gott als übermenschlicher Instanz wählt sie den ihrer Meinung nach stärksten möglichen Verbündeten an ihrer Seite, der ihre Konflikte zwischen den unterschiedlichen Erwartungen zwischen Familie, Community und Gesellschaft befrieden soll.
Islam und Adat als Instrumente zur Herstellung von Gemeinschaft
Ilyas wurde in einer Moscheegemeinde sozialisiert, „wo wir nur hauptsächlich tschetschenische Jungs waren.“ Für ihn sind die kulturellen Traditionen aus dem Adat und der Islam untrennbar mit seiner tschetschenischen Identität verbunden und müssen auch an die nächste Generation weitergegeben werden. Allerdings sollten die Regeln angepasst werden: „Viele Sachen vom Adat find ich halt auch nicht richtig. Zum Beispiel dürfen wir uns nicht mit Frauen treffen. Wir leben jetzt in einer modernen Zeit, nicht mehr in der Vergangenheit oder im Krieg. Deswegen muss man auch gucken, wie man vorankommt und wie man am besten lebt in dieser Zeit, oder?“ Für die Praxis heißt das, dass eine Übertretung der tschetschenischen Verbote möglich ist unter Vorbehalt: „Mach das, aber halt nicht so, dass es irgendwie jeder sieht.“ Ilyas möchte junge „Tschetschenen, die hier leben, jetzt auch kriminell geworden“ sind und damit dem Ruf der Community schaden, zu einer disziplinierten männerbündischen Gruppe zusammenfügen. Dafür nutzt er Teile der gewohnheitsrechtlichen und islamischen Traditionen, um über bekannte Kulturpraktiken Zugang zu jungen Tschetschenen zu bekommen und sie zu einer Gruppe zu vereinen. Gleichzeitig toleriert er die Übertretung rigider Regeln, die nicht mehr der Lebensweise dieser jungen Männer entsprechen und gewinnt sie damit für sich. Er trainiert sie in Kampfsport und eröffnet ihnen eine berufliche Perspektive im Sicherheitsbereich. In der männlichkeitsbetonten tschetschenischen Gesellschaft hat Kampfsport eine lange identitätsstiftende Tradition. Die Arbeit in einer Sicherheitsfirma wird mit kraft- und gewaltbetonten Tätigkeiten, Körperbeherrschung und Disziplin assoziiert und entspricht weit verbreiteten tschetschenischen Männlichkeitsbildern. Zusammen mit gewohnheitsrechtlichen und islamischen Traditionen versucht Ilyas, eine verschworene männerbündische Gruppe zu formen, die sich loyal zu seinem autoritären Ordnungssystem verhält.
Zusammenfassung
Im tschetschenischen Kontext ist die Identität eng an den Islam gebunden. Unter jungen Tschetschen*innen in Deutschland spiegelt sich dies in unterschiedlichen Umgangsweisen mit Fragen von Identität, Religion und Werten und Normen des traditionellen Gewohnheitsrechts (Adat).
Das Verhältnis zum Islam bei der jungen, in Deutschland sozialisierten Generation ist vielschichtig und divers, wie die Generation selbst. Es ist gekennzeichnet von einer persönlichen Beschäftigung mit religiösem Wissen und Glaubenspraxis. Eine große Rolle bei der religiösen Sozialisation spielen die Familie, Moscheegemeinden und Bekanntenkreise, aber auch die individuelle Beschäftigung mit Literatur und Quellen aus dem Internet.
Die Positionierungen zur Religion, die in der Befragung zum Ausdruck kamen, spiegeln auf der einen Seite die Art der Beziehung zur Herkunftsidentität. Befragten, denen eine Verbindung mit ihrer Herkunftskultur wichtig ist, bekennen sich zum Islam und entwickeln eine – unterschiedlich intensive – muslimische Glaubenspraxis. Auf der anderen Seite wird die Entscheidung für den Islam aber auch unabhängig von der ethnischen Herkunft praktiziert.
Das Verhältnis zum Islam ist jedoch distanziert bis ablehnend, wenn die Religion als Sammlung von Ge- und Verboten verstanden wird, die dem eigenen Lebensentwurf entgegensteht. Diese Gruppe wendet sich auch gegen das patriarchale Gewohnheitsrecht. Sowohl die religiöse als auch die traditionelle Rechtsordnung werden von ihnen als Machtinstrumente erlebt, mit denen das segmentäre Gesellschaftssystem innerhalb der tschetschenischen Diaspora aufrechterhalten werden soll. Nicht selten spiegelt sich dies in einer bewussten Distanzierung von der tschetschenischen Community, deren Einfluss als Form des sozialen Druckes erlebt wird. Als zusätzliche Belastung wird dabei die Sorge beschrieben, die eigene Distanz zur Community könne auf den Ruf der Familie zurückfallen – was das Abwägen und Aushandeln eigener Umgangsweisen erschwert.
Zwei Arten der erhobenen Islamperzeptionen erscheinen jedoch problematisch. Die eine betrifft den Versuch, den Islam zur Wiederherstellung einer erodierenden segmentären Gesellschaftsordnung zu (be)nutzen. Im konkreten Fallbeispiel (Ilyas) soll eine alle verbindende Religion die Etablierung einer exklusiven männerbündischen Struktur unterstützen, die sich gegenüber Konkurrenten in einem umkämpften Arbeitsmarktsegment durchsetzen kann. Dies erscheint fragwürdig und gefährlich vor dem Hintergrund, dass insbesondere junge Männer rekrutiert werden, die mit den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland in Konflikt geraten sind und dass derartige exklusive, den Einsatz männlicher Kraft- und Gewaltanwendung legitimierende Strukturen kaum integrativ in die Gesellschaft wirken können.
Die zweite, ebenfalls als kritisch anzusehende Perzeption des Islam verspricht scheinbar die Befreiung von den Herausforderungen einer sich ständig im Wandel befindlichen Gesellschaft (Fallbeispiel Hadizhat). Hier obsiegt der Wunsch nach einem nicht verhandelbaren Wertesystem und einer bedingungslosen Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Verunsicherte Personen, die nicht ausreichend Unterstützung aus ihrem sozialen Umfeld generieren können und an einem geringen Selbstwertgefühl leiden, können sich von fundamentalistischen Ideologien angezogen fühlen. Für sie ist die „eine richtige“ Befolgung von Regeln entscheidend, die sie in ihrer Überforderung an der komplexen Welt innerhalb einer imaginierten umma stabilisiert.
In der pädagogischen Arbeit mit jungen Deutschtschetschen*innen lässt sich diese Heterogenität von Selbstverständnissen und religiösen Bezügen sichtbar machen, um die damit verbundenen Herausforderungen aufzugreifen, aber auch, um selbstbewusste, reflektierte und eigenständige Aneignungen dieser Traditionen und Bezüge zu ermöglichen.
Fußnoten
[1] Die Studie wurde 2019 unter Leitung der Autorin von MEMORIAL Deutschland e.V. durchgeführt und aus dem Programm „Östliche Partnerschaft und Russland“ des Auswärtigen Amtes finanziert. Die wissenschaftliche Auswertung des erhobenen Materials erfolgte nach der Methode der objektiven Hermeneutik (Oevermann 2000). Ein besonderer Dank gilt hier der Berliner Forschungswerkstatt für die fundierte Interpretation zahlreicher Interviewsequenzen, namentlich Dr. Jutta Lütten-Gödecke, Dorit Birkenfeld und Dr. Michael Hainz.
[2] Ersatzfach zum Religionsunterricht in Niedersachsen ab der 5. Klasse.
Literatur
Cremer, Marit (2017): Angekommen und integriert? Bewältigungsstrategien im Migrationsprozess, Frankfurt a. M., Campus.
Durkheim, Émile (1992): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. (Original 1893: De la division du travail social). Suhrkamp, Frankfurt a. M.
Gunya, Alexey (2019): Radikalisierung und gewaltsame Konflikte im Nordkaukasus: Eine Faktorenanalyse. In: Russland-Analysen Nr. 370, 03.05.2019, 8-13.
Malashenko, Aleksej/Trenin, Dmitrij (2002): Vremja juga. Rossija v Čečne. Čečnja v Rossii. (dt.: Zeit des Südens. Russland in Tschetschenien. Tschetschenien in Russland). Moskau.
Matveeva, Anna (1998): The Islamist Challenge in Post-Soviet Eurasia.
Oevermann, Ulrich (2000): Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis. In: Klaus Kraimer (Hg.): Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung, Frankfurt a. M., 58-156.