Wer ist WIR? – Fragwürdige Botschaften aus dem Innenministerium
28. Juni 2022 | Demokratie und Partizipation

Für ihre Teilnahme an einem Bildungsprojekt im Bundestag bekamen ca. 150 Schüler*innen vom Bundesinnenministerium Urkunden verliehen. Auf dem abschließenden Gruppenfoto präsentierten sich einige Schüler mit politischen Gesten – es folgte eine teils empört geführte Debatte über die Jugendlichen. Das BMI löschte daraufhin das Foto und entzog den Schülern ihre Urkunden. Ein Kommentar von ufuq.de-Co-Geschäftsführer Jochen Müller.

Neulich auf den Social Media-Kanälen des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI): 150 sogenannte „Verfassungsschüler“ aus Berlin, Nordrhein-Westfalen und Sachsen werden mit einer Urkunde ausgezeichnet, weil sie an einem Bildungsprojekt für Jugendliche und junge Erwachsene teilgenommen haben. Das BMI postet ein Foto der Gruppe im Parlament – das allerdings am Tag darauf gleich wieder gelöscht wird. Menschen, die genau hinsahen, hatten auf dem Bild ganz hinten in der letzten Reihe eine gute Handvoll Jungs entdeckt, die irgendwie nicht mittun wollten: Einer von ihnen reckt den Zeigefinger (im Islam ein Symbol der Einheit Gottes, das auch vom IS verwendet wird), drei andere halten vier Finger in die Luft (das Rabia-Zeichen, das Solidarität mit den vor allem von der Muslimbruderschaft getragenen Protesten gegen den Militärputsch in Ägypten ausdrückt), einige zeigen Fäuste und einer versucht sich – so sieht es jedenfalls aus – am Wolfsgruß (ein dem sogenannten „Schweigefuchs“ gleichendes Zeichen der ultranationalistischen türkischen Grauen Wölfe). Die Flegel von der letzten Bank, die auch im Bus immer ganz hinten sitzen, möchte man sagen, und das Verhalten der Jugendlichen als spezifische Form von Protest und Provokation verbuchen, die sie mitunter eben in unpassender Weise zum Ausdruck bringen.

Tatsächlich twitterte jedoch ein CDU-Abgeordneter etwas von „Islamschülern statt Verfassungsschülern“, Medien wie der Focus griffen das Thema auf und in großer Menge brachten Leser*innen in Kommentaren ihren Hass auf „jugendliche Terroristen“ zum Ausdruck – zusammen mit der Forderung, die Jugendlichen und ihre Religion außer Landes zu schaffen, dahin wo sie hingehörten… Und das BMI? Dem fiel auch nichts anderes ein, als das Foto zu löschen: „Völlig inakzeptabel“ seien die Gesten, so hieß es zur Begründung auf Twitter, und: „Das verurteilen wir scharf.“ Hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser in einem Grußwort an die Schüler*innen zuvor noch formuliert: „Die Jugendlichen erfahren ganz praktisch, wie unsere Demokratie funktioniert und welche Möglichkeiten es gibt, ihr Umfeld zu gestalten“, hieß es jetzt aus dem BMI: „Wir werden zusammen mit den Schulen und dem Projektträger den Jugendlichen, die diese Gesten gezeigt haben, die gestern verliehenen Urkunden entziehen. Sie haben allen anderen Jugendlichen und diesem wichtigen Bildungsprojekt geschadet.“ Und auf Twitter: „Um die ganz überwiegende Zahl der Jugendlichen auf dem Foto zu schützen, die sich korrekt verhalten haben, haben wir das Foto jetzt gelöscht. Wir ziehen daraus Konsequenzen.“

Am liebsten – so wirkt es jedenfalls – hätte das Innenministerium die Störenfriede wohl aus dem Foto herausgeschnitten. Aber auch wenn sie ganz hinten standen, hätte das wohl nicht so gut ausgesehen… Nun ist das BMI kein Pädagogikseminar und „Konsequenzen“ sind natürlich angebracht. Aber welche? Was „erfahren“ die für ihre Unbotmäßigkeit abgestraften Jugendlichen jetzt darüber, wie „Demokratie funktioniert“? Sie könnten verstehen, dass offenbar ausgeschlossen wird, wer – tatsächlich oder vermeintlich – unliebsame Positionen vertritt. Was sie nicht lernen: Dass Demokratie – und erst recht Demokratie in der Migrationsgesellschaft – doch nur bedeuten kann, unterschiedliche Erfahrungen, Sozialisationen, Perspektiven und Positionen auszutauschen, um zu lernen, zu erfahren und zu vereinbaren, wieviel Diversität, Differenz, Widerspruch und Ambiguität die Gesellschaft verträgt und braucht und wo die Grenzen von Demokratie und Freiheit verlaufen.

Läge es da nicht zunächst einmal nahe, die von den „Verfassungsschülern auf Abwegen“ (zugegebenermaßen etwas eigenwillig) ausgesprochene Einladung zum Gespräch bei nächster Gelegenheit anzunehmen und mit ihnen über das Verhältnis von Religion und Verfassung, Demokratie in Ägypten oder die Problematik des Nationalismus zu sprechen – und darüber, was ihnen an der Veranstaltung und ihrer Rolle als „Verfassungsschüler“ offenbar gestunken hat?

„Inakzeptabel“ ist hier also weniger das Verhalten der Jugendlichen, das höchstwahrscheinlich nicht Sympathie mit Terrorismus zum Ausdruck bringt (und auch nicht, sagen wir, mit dem Hitlergruß zu vergleichen wäre). Pädagogisch und politisch „inakzeptabel“ ist vielmehr die Einfallslosigkeit des Ministeriums, das Foto zu löschen und den Jugendlichen ihre Urkunden wieder abzunehmen – mit der höchst fragwürdigen Botschaft, dass zum gesellschaftlichen WIR nur diejenigen gehören, die sich ordentlich und „korrekt“ verhalten. „Inakzeptabel“ ist das auch, weil es ein Schlag ins Gesicht all derer ist, die sich in Schule und Jugendarbeit tagtäglich und unter schwierigen Bedingungen um Integration, Inklusion und das Funktionieren von Demokratie und Pluralismus in der Migrationsgesellschaft bemühen. Sie können Jugendliche, die ihnen nicht in den Kram passen, jedenfalls nicht einfach nach Hause schicken. Gerade solche Jugendliche nicht!

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