Gentrifizierung ist in Großstädten wie Berlin ein Dauerthema. Mieterhöhungen führen im Kiez zur Verdrängung alteingesessener Mieter*innen und weiteren Veränderungen. Spannungen und Konflikte sind dann oft die Folge – so wie im Berliner Bezirk Neukölln. Doch wie genau verläuft die Umstrukturierung eines Stadtteils? Welche Rolle spielt Rassismus dabei? Und welche Verantwortung tragen Zugezogene in einem gentrifizierten Viertel? Die Forscherin und Architektin Niloufar Tajeri gibt in diesem Couch Talk Antworten darauf.
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Transkript zum Video
Maryam Kirchmann:
Herzlich willkommen zu einer neuen ufuq.de Couch Talk-Folge. Mein Name ist Maryam Kirchmann. Heute geht es um die Themen Gentrifizierung, Architektur, Stadtplanung, aber auch Rassismus. Meine Gästin ist Niloufar Tajeri. Sie ist Architekturtheoretikerin und aktiv in der Initiative Hermannplatz. Hallo Niloufar, schön, dass du da bist!
Niloufar Tajeri:
Hallo Maryam. Vielen Dank für die Einladung.
Maryam Kirchmann:
Ich bin ehemalige Neuköllnerin. Du bist Neuköllnerin. Was bedeutet Neukölln für dich?
Niloufar Tajeri:
Neukölln ist mein Zuhause. Neukölln ist der Ort, an dem ich mich aber auch wirklich zu Hause fühle und zwar das erste Mal, seit meine Eltern in den 80er Jahren nach Deutschland gekommen sind. Neukölln ist auch der Ort, an dem ich familiär angefangen habe, Wurzeln zu schlagen, aber eben auch zum ersten Mal politisch aktiv geworden bin.
Maryam Kirchmann:
Unsere Zuschauer*innen sind es von uns pädagogische Themen gewohnt. Architektur und Rassismus sind auf den ersten Blick zwei Themen, die nichts damit zu tun haben. Wie hängen diese Bereiche miteinander zusammen?
Niloufar Tajeri:
Um die beiden Themen miteinander zu verbinden, muss ich erstmal ein weiteres Thema mithineineinbringen: Kapitalismus. Also die Wirtschaftsform, innerhalb der diese beiden Dinge eben entstehen oder auch organisiert werden. Wenn wir über Kapitalismus und Stadtentwicklung sprechen, wissen wir, dass es wegen kapitalistischer Stadtentwicklung zu Ungleichheiten kommt. Es gibt ärmere Viertel, es gibt reichere Viertel.
Die Rolle von Rassismus innerhalb dieser Ungleichbehandlung ist, dass bestimmte Ungleichheiten noch verstärkt werden. Wir wissen, dass aufgrund ökonomischer Merkmale Ungleichheiten entstehen, gleichzeitig auch aufgrund von strukturellem Rassismus.
In kurz ist das der Zusammenhang. Wir müssen verstehen, dass Stadtplanung und Architektur im Prinzip wie Herrschaftswerkzeuge sind. Das heißt, dass es bestimmte Vorgänge innerhalb eines Staates gibt und Architektur und Stadtplanung die Rolle haben, diese Vorgänge umzusetzen.
Maryam Kirchmann:
Wir haben beide lange in Neukölln gewohnt. Jeder Person, der Neukölln vertraut ist, weiß, das sich dort wahnsinnig viel getan und in den letzten Jahren verändert hat. Wie funktioniert denn eine Umstrukturierung eines Viertels?
Niloufar Tajeri:
Es gibt zwei Hauptebenen. Eine Ebene ist die politische Planung. Das heißt, es muss eine Instanz herkommen, die sagt: „Wir wollen dieses Viertel hier verändern“ oder „Es gibt ein Zentrum hier in diesem Viertel, das umgebaut oder verändert werden muss.“
Es gibt Sanierungsplanungen und so weiter und so fort. Die werden auf politischer Ebene entschieden.
Gleichzeitig gibt es die ökonomische Ebene. Es gibt ökonomische Dynamiken. Es werden politische Entscheidungen getroffen, dass ein Sanierungsgebiet ausgewiesen und Gelder fließen sollen, die Straßen saniert und die Schulen umgebaut werden und so weiter – dann wird seitens von Investor*innen ein Interesse geweckt, um vermehrt in dieses Viertel auch zu investieren.
Natürlich gibt es auch die Erwartung, dass diese Investitionen auch Rendite zurückbringen. Das ist in Neukölln passiert, als die Miet-, aber auch die Bodenpreise, sehr niedrig waren und es sich für Investor*innen besonders gelohnt hat, zu investieren. So ist es in den letzten zehn bis 15 Jahren vonstattengegangen, wodurch einerseits die Gentrifizierung vorangeschritten ist und andererseits eben Mieterhöhungen, Verdrängung und so weiter.
Maryam Kirchmann:
Wenn du das so sagst, klingt das wie ein Spiel. Es zeigt, wie mit Menschen gepielt wird, weil am Ende sprechen wir immer noch über eine Bevölkerung, die dort lebt. Was ich mich immer frage, ist: Wie konnte es in Neukölln so weit kommen? Warum gerade in Neukölln?
Niloufar Tajeri:
Einerseits: Warum gerade in Neukölln? Und andererseits: Warum gerade so drastisch in Neukölln?
In Neukölln gab es in einer zehnjährigen Zeitspanne die höchste Mietpreisentwicklung in ganz Berlin. Zwischen 2007 und 2018 sind die Mieten um 146 Prozent gestiegen.
Gleichzeitig haben wir es mit einer enormen Veränderung der Bevölkerungsstruktur zu tun. Das ist in Neukölln unter anderem darauf zurückzuführen, dass die politische Entscheidungsebene, auf der die Planung gemacht wird und die ökonomische, also in der investiert werden soll, zusammengekommen sind. Hinzu kommt ein rassistischer Diskurs über den Bezirk, der diese beiden Elemente noch viel stärker angetrieben hat.
Dieser rassistische Diskurs kommt aus unterschiedlichen Ecken: Er ist einerseits journalistisch besonders vorangetrieben worden. Neukölln hat deutschlandweit keinen guten Ruf, um das mal kurz zu sagen.
Gleichzeitig ist aber auch von innen heraus ein rassistischer Diskurs forciert worden. Und zwar auf ganz prominente Weise durch Heinz Buschkowsky, der zwischen 2001 und 2016 Bürgermeister war. Er hat ein rassistisches Buch über Neukölln herausgegeben, in dem er u.a. gesagt hat: „Wir brauchen eine drastische Veränderung der Bevölkerungsstruktur. Hier bricht alles in sich zusammen, denn die Menschen sind dies, das und jenes.“
Und da spielt natürlich Rassismus eine sehr große Rolle. Dieser Diskurs hat einerseits den schlechten Ruf von Neukölln verschlimmert und gleichzeitig als Legitimierung von Gentrifizierung funktioniert. Denn Heinz Buschkowsky war nicht irgendwer, sondern der Bürgermeister von Neukölln, der eben bestimmte Entscheidungsgewalt hatte. Er hat z.B. deutlich gesagt, dass er sich eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur und Gentrifizierung für weite Teile der Innenstadt von Neukölln wünscht.
Wir wissen, dass er zum Beispiel Instrumente zum Mieter*innenschutz absichtlich verhindert hat. Es gab die ersten Forderungen für die Ausweisung von Milieuschutzgebieten, die Mieter*innen bis zu einem gewissen Grad schützen. Das hat er sechs Jahre lang nicht zugelassen, obwohl um Neukölln herum in vielen Bezirken immer weiter Milieuschutzgebiete ausgewiesen wurden. Er hat das aktiv verhindert und gleichzeitig hat er diese Gentrifizierung auch verharmlost, indem er gesagt hat, sie sei ja etwas Gutes, weil sie für mehr Wohlstand sorge und vorher alles kriminell gewesen sei und so weiter. Ich will die rassistischen Aussagen jetzt nicht reproduzieren.
Maryam Kirchmann:
Wir sind beide Zugezogene in unserem geliebtes Neukölln. Welche Verantwortung tragen denn Zugezogene in einer Stadt, in der die Mieten extrem steigen oder in einem gentrifizierten Viertel?
Niloufar Tajeri:
Das ist eine sehr gute Frage, auch weil du die Betonung auf Verantwortung legst.
Es ist gar nicht selbstverständlich, dass Zugezogene sehen, welche Verantwortung sie hätten. Und zwar deswegen, weil es nicht selbstverständlich ist, dass alle in Neukölln wohnen können. Du kannst dort wohnen, weil du bestimmte Privilegien hast. Ob das ökonomische Privilegien sind, ob du gute Kontakte hattest und an die Wohnung gekommen bist oder ob du bevorzugt wurdest, z.B. aufgrund deiner Herkunft. Das sind keine Selbstverständlichkeiten.
Ich glaube, dessen muss man sich erstmal bewusstwerden, um dann zu verstehen: Innerhalb dieser Nachbarschaft habe ich eine ganz spezifische Rolle.
Ich habe festgestellt – und das ist nicht nur in Neukölln der Fall, in der Forschung wird es auch in Hamburg oder in anderen Städten beobachtet – dass in Bezirken, die stark gentrifiziert werden, die neu Hinzugezogenen, die sehr oft zu einer Gruppe gehören, die wir „urbane Eliten“ nennen, sich auch oft für unterschiedliche Belange organisieren. Ob verkehrsfreie oder autofreie Nachbarschaften, Fahrradwege oder bessere Schulen sind oder, oder, oder.
Es sind unterschiedliche Engagements, die natürlich auch gerechtfertigt sind.
Wenn sie sich aber engagieren, ohne sich bewusst zu sein, innerhalb welcher Problemstellung sie sich engagieren und was ihr Engagement vielleicht für andere benachteiligte Gruppen bedeuten könnte, dann verschärfen sich bestimmte Fronten oder auch bestimmte Ungleichheiten. Ich denke, was man als hinzuziehende Person machen kann, wenn man sich bewusst ist, dass man privilegiert ist und nach Neukölln zieht, ist, zu schauen: Wie geht es den Leuten um mich herum? Was treibt sie um, welche Probleme sind da, von was sind sie betroffen?
Um dann zu schauen: Kann ich denn meine Belange mit ihren vereinbaren? Bevor ich mich sozusagen engagiere und meine Peers und die Gleichgesinnten, die so ähnlich sind wie ich, zusammentrommel, um was zu tun. Wenn man das macht, kommt man in Neukölln nicht drumherum, sich gegen Gentrifizierung, Verdrängung und Rassismus einzusetzen.
Wenn wir das hätten, dass sich viele unterschiedliche Milieus zusammentun, um sich zu engagieren, dann hätten wir eine ganz andere Situation. Dann wäre dieses: „Die Gruppen sind gegen jene Gruppen“ kein Thema mehr, sondern es wäre klar: „Wir sind Nachbar*innen, wir gehören zusammen und wir wollen dafür sorgen, dass hier alle gut leben können.“
Maryam Kirchmann:
Ich habe das Gefühl, dass viele Zugezogene in Neukölln von einem schlechten Gewissen geplagt sind. Das Bewusstsein für diese Problematik ist omnipräsent, nur die Verknüpfung findet noch nicht so richtig statt. Aber das schlechte Gewissen, sich z.B. einen Kaffee in einem Hipster-Café zu kaufen, ist trotzdem da. Heißt das jetzt, dass man sowas lassen und eher alteingesessene Lokale aufsuchen sollte? Oder kann ich weiterhin ohne schlechtes Gewissen auch in den Hipster-Laden gehen und mir meinen Flat White holen?
Niloufar Tajeri:
Ja, absolut!
Maryam Kirchmann:
Okay, gut (lacht).
Niloufar Tajeri:
Wenn der Kaffee schmeckt, warum nicht? Das Problem ist nicht der Hipster-Laden und das Problem ist auch nicht der Kaffee, der dort verkauft wird. Vielleicht der Preis.
Niloufar Tajeri:
Aber wenn man es sich leisten kann. Klar, warum nicht? Ich denke, dass solche Lifestyle-Entscheidungen nicht wirklich bestimmend sind für politische Veränderungen.
Es ist viel wichtiger, sich da nicht schlecht zu fühlen. Ich glaube, schlechtes Gewissen oder Schuldbewusstsein sind unproduktiv. Dann hat man immer das Gefühl, man müsse sich rechtfertigen und dann entstehen wieder Fronten. Lieber einfach tun und gleichzeitig halt eben trotzdem auch die anderen Läden unterstützen.
Sobald die Debatte in Richtung „die Hinzugezogenen sind schlecht und die Alteingesessenen sind gut“ geführt wird, bewegt man sich auf sehr unsicherem Terrain. Denn viele sind in den letzten 30, 40, 50, 60 Jahren in Neukölln hinzugezogen. Wo zieht man da die Grenze? Ich würde das nicht tun.
Eine Qualität von Neukölln ist, dass Neuankömmlinge zusammengekommen sind, dass viele unterschiedliche Milieus nebeneinander leben. Da würde ich keine qualitativen Unterschiede machen wollen, wer gut und wer schlecht ist. Ich würde mir nur wünschen, dass diejenigen dort sich halt eben einer bestimmten Verantwortung bewusst sind, sich wirklich als Teil einer sehr diversen Nachbarschaft verstehen und keine Bubbles bilden.
Maryam Kirchmann:
Aber wie bekommt man das hin, dass sich die Menschen miteinander vernetzen? Im Prinzip ist lebt man miteinander in einer Nachbarschaft und man kennt vielleicht seine Nachbarn, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist auch wegen der Hausverwaltung die Nachbarschaft sehr undivers. Wie kommt man dann in den Kontakt mit Menschen, mit denen man normalerweise vielleicht keine Verschränkungen im Leben hat? Hast du einen hoffnungsvollen Ausblick für uns?
Niloufar Tajeri:
Wir sind Nachbarinnen und Nachbarn. Wir haben viele Belange, die uns alle betreffen.
Es gibt eine Initiative, die man sich da ganz genau angucken kann: die Initiative Kotti & Co, die es hingekriegt hat, sich aufgrund der Betroffenheit eines Blocks am südlichen Kottbusser Tor zusammenzuschließen. Da sind viele unterschiedliche Leute zusammengekommen, die sich alle dafür eingesetzt haben: „Wir wollen nicht hier verdrängt werden!“.
Gerade die Mietenproblematik, die Verdrängungsproblematik, ist eigentlich eine Problematik, die alle betrifft. Früher oder später vielleicht auch das Café, das den Flat White verkauft. Von daher ist das ein Schnittstellenthema. Da kann man sehr gut zusammenkommen. Es ist nur wichtig, dass man, wenn man sich organisiert, nicht vorprescht und sagt: „So und so muss es sein, in der Sprache, in der Form und mit diesen Mitteln“, sondern dass es da eine gewisse Offenheit gibt. Wir setzen uns erstmal zusammen an den Tisch. Bei Kotti & Co heißt es immer: „Wir trinken erstmal einen Tee miteinander und dann schauen wir, in welche Richtung, wie und mit welchen Mitteln.“ Das ist das Wichtige. Nicht dieses: „Wir wissen, wie es geht, kommt jetzt mit. Wir können euch auch gerne zeigen, wie es geht. Aber kommt bitte unseren Weg mit.“ Sondern eher: „Wir entwickeln den Weg zusammen, weil wir sehr viele unterschiedliche Wissensbiografien, Wissenskulturen und auch unterschiedliche politische Biografien haben. Lasst uns mal gucken, was uns zusammen an ein Ziel führen kann.“
Maryam Kirchmann:
Wie steht es um den Hermannplatz?
Niloufar Tajeri:
Am Hermannplatz sind wir im Moment in der Phase der „frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung“. In dieser Phase veröffentlicht die Senatsverwaltung Pläne, aber eben z.B. auch die Begründung, warum an dieser Stelle Karstadt abgerissen und ein Neubau hingebaut werden soll. Für Bewohner*innen gibt es die Möglichkeit, eine Stellungnahme einzureichen, Fragen zu stellen oder eben auch Kritik auszuüben.
Wir sind im Moment dabei, diese Informationen an die Leute zu bringen. Denn es ist nicht so, dass alle immer gleich wissen, was Sache ist. Wir möchten sie dazu zu ermutigen, ihre Stellungnahmen einzureichen. Sobald wir zeigen können, dass es sehr wichtige, qualifizierte Punkte gibt, bei denen die Menschen bspw. sagen: „Das Ding passt nicht zu der Umgebung, es ist klimaschädlich, was da gemacht wird und es verstärkt die Gentrifizierung“, können wir vielleicht im Laufe des Prozesses tatsächlich noch etwas dagegen unternehmen. Da sind wir eben gerade dabei, viel zu informieren und zu mobilisieren. Es besteht immer noch die Möglichkeit, das Projekt an der Stelle zu stoppen.
Maryam Kirchmann:
Wie kann man euch denn erreichen?
Niloufar Tajeri:
Wenn man „Initiative Hermannplatz“ googelt, dann findet man unsere Website. Da gibt es eine E-Mail-Adresse, über die man uns schreiben kann. Wir sind aber auch jeden Mittwoch ab 17 Uhr am Kiosk Ecke Hasenheide/ Hermannplatz. Dort haben wir einen kleinen Kiosk, in dem wir ein Mal die Woche stehen und Unterschriften sammeln. Sonntags gibt es an diesem Kiosk auch immer Essen und Kiez-Küche, da kann man einfach dazukommen und mit uns ins Gespräch kommen.
Maryam Kirchmann:
Vielen Dank, dass du uns einen Einblick in deine Arbeit gegeben hast. Und danke, du da warst.