Welche Ursachen für Radikalisierung sehen islamische und migrantische Vereine? Welche Rolle spielen sie in der Extremismusprävention? Jens Ostwaldt, Autor des in Kürze erscheinenden Buchs „Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention. Erfahrungen, Herausforderungen und Perspektiven“ fasst im Interview mit ufuq.de die wichtigsten Ergebnisse seiner Studie zusammen.
Götz Nordbruch: Ein häufiger Vorwurf an islamische Verbände lautet, sie würden sich nicht stark genug gegen Islamismus engagieren. Zu welchem Ergebnis kommen Sie in Ihrer Studie?
Jens Ostwaldt: Es lohnt sich, zunächst einen Blick auf die nackten Zahlen zu werfen: Zwischen 2015 und 2019 wurde im Bundesprogramm „Demokratie leben!“ etwa ein Viertel der Modellprojekte im Bereich der Radikalisierungsprävention von islamischen Vereinen und Verbänden umgesetzt. Es ist interessant, dass diese sehr hohe Zahl in der öffentlichen Debatte kaum eine Rolle spielt. Nimmt man diese Zahlen, könnte man schlicht sagen: Ja, sie machen schon eine Menge. Und das stimmt aus meiner Sicht auch.
Jenseits dieser Zahlen ergibt sich jedoch ein differenzierteres Bild: Ich habe in meiner Studie sowohl islamische Vereine und Verbände, die selbst Präventionsprojekte umsetzen, befragt, als auch solche, die keine eigenen Projekte durchführen. In allen Vereinen und Verbänden ist die Sensibilität gegenüber Radikalisierung sehr hoch, es fehlen jedoch vor allem die pädagogischen Kompetenzen und natürlich auch die Kapazitäten, sich mit dem Phänomen auseinanderzusetzen. Radikalisierung wird zum Beispiel nicht immer in ihrer Komplexität erkannt.
Götz Nordbruch: Ansätze der Präventionsarbeit unterscheiden sich unter anderem darin, wie das Problem selbst definiert wird – und in dem Ziel, das angestrebt wird. In einigen Ansätzen geht es zum Beispiel vor allem darum, die Ideologie zu hinterfragen und für demokratische Werte zu werben. Andere zielen darauf, Jugendliche im Umgang mit persönlichen Krisen und Konflikten zu unterstützen. Worin sehen islamische Verbände das Problem?
Jens Ostwaldt: Die von mir untersuchten Vereine und Verbände treffen sich in der Einschätzung, dass Erfahrungen von Diskriminierung eine wichtige Ursache für Radikalisierungen sind. Unterschiede gibt es in der Frage, wie diese Erfahrungen bearbeitet werden sollten – und zwar vor allem zwischen den Vereinen, die eigene Präventionsprojekte umsetzen, und denen, die in diesem Bereich keine Projekte umsetzen. Die Vereine, die in der Präventionsarbeit aktiv sind, machen eine Jugendarbeit, die religiös motiviert ist, in der Religion aber nicht im Vordergrund steht. Sie thematisieren Fragen von Identität und Zugehörigkeit und besprechen Themen, die für die Jugendlichen relevant sind. Diese können einen religiösen Bezug haben, müssen es aber nicht.
Die Vereine hingegen, die keine eigene Präventionsprojekte umsetzen, sehen in religiöser Erziehung und Bildung allgemein einen Beitrag zur Prävention. Radikalisierungen sind für diese Vereine vor allem Folge eines defizitären religiösen Wissens. Das zeigt, wie wichtig eigene Erfahrungen in der Präventionsarbeit sind, um sich Kompetenzen in diesem Bereich und auch ein Verständnis von Radikalisierung und Prävention anzueignen. Oft ist dies erst im Rahmen der Projektarbeit selbst möglich.
Götz Nordbruch: Islamische Verbände erreichen nur einen relativ kleinen Teil der Muslim*innen in Deutschland. Abgesehen davon war nur ein kleiner Teil derjenigen, die sich in Deutschland radikalisiert haben, zuvor in Moscheen der etablierten Verbände aktiv. Wie schätzen Sie die Wirkung von Präventionsangeboten der islamischen Verbände ein? Erreichen sie überhaupt die Richtigen?
Jens Ostwaldt: Das ist eine ganz wichtige Frage. Es kommt darauf an, wen man als „die Richtigen“ definiert. Ein Interviewpartner sagte mir: „Die islamischen Vereine erreichen nicht die Zielgruppe, sondern ihre Zielgruppe.“ Diese Aussage spielt auch auf die Schwierigkeiten der Gemeinden an, junge Menschen in der Moschee zu halten. Die Moscheen konkurrieren immer mehr mit Gruppen, die von den Kolleginnen und Kollegen des Forschungsprojekts modus_zad als „Peripherie des Extremismus“ beschrieben wurden. Mit ihren jugendaffinen Angeboten beispielsweise in Sozialen Medien stellen diese Gruppen die Moscheen vor große Herausforderungen. Hierzu gehören vor allem der Hizb ut-Tahrir nahestehende Gruppen, wie zum Beispiel Generation Islam, aber auch die Furkan-Bewegung.
Ein zentraler Befund meiner Studie ist, dass alle befragten islamischen Einrichtungen in den letzten Jahren mit Personen oder Personengruppen aus dem salafistischen Milieu konfrontiert waren. Sie waren aber nicht in der Lage, mit den radikalen Äußerungen dieser Personen umzugehen bzw. auf sie zu reagieren. Auch wenn salafistische Gruppierungen in den Moscheen mittlerweile kaum mehr eine Rolle spielen, wären Präventionsprojekte wichtig, um die Handlungssicherheit der Moscheegemeinden zu stärken und eine entsprechende Expertise aufzubauen.
Götz Nordbruch: In Ihrer Arbeit geht es auch um nichtreligiöse Organisationen von Menschen mit Migrationsbiografien. Wie sehen diese Vereine ihre Rolle in der Präventionsarbeit – und worin unterscheidet sich diese von der der islamischen Verbände?
Jens Ostwaldt: Die Unterschiede lassen sich auf zwei Ebenen festmachen: strukturell und inhaltlich. Auf der strukturellen Ebene wird deutlich, dass die nicht-religiösen migrantischen Organisationen, die Präventionsprojekte umsetzen, bereits über professionelle Strukturen zum Beispiel als Träger der Kinder- und Jugendhilfe verfügen und sich auf dieser Grundlage der Präventionsarbeit widmen. Die pädagogischen Kompetenzen, die den meisten islamischen Vereinen fehlen, sind hier also vorhanden. Entsprechend breit ist auch die Zielgruppe, die von diesen Projekten erreicht wird. Sie ist deutlich weniger eingegrenzt als bei den Projekten der islamischen Vereine.
Interessant ist auch, dass sie die Rolle der islamischen Vereine in der Präventionsarbeit sehr unterschiedlich einschätzen. Auf der einen Seite gibt es Stimmen, die sagen: „Auf keinen Fall sollten islamische Vereine Prävention machen.“ Diese Einschätzungen beziehen sich vor allem darauf, dass sie islamischen Vereinen fehlende fachliche Kompetenzen auf der einen und fehlende transparente Leitbilder auf der anderen Seite attestieren. Dem gegenüber steht die Einschätzung: „Islamische Vereine stehen nicht in der Pflicht, Präventionsarbeit zu betreiben, wären in diesem Bereich aber kompetent.“ Diese Einschätzung beruht vor allem darauf, dass salafistische Radikalisierung nicht primär als religiöses Problem gerahmt wird, die Kompetenzen der islamischen Vereine jedoch dazu beitragen könnten, erfolgreiche Präventionsarbeit zu leisten. Hier zeigt sich, dass auch innerhalb der Präventionslandschaft ein sehr inkonsistentes Meinungsbild dem Engagement islamischer Vereine in der Prävention gegenüber vorherrscht.
Götz Nordbruch: Von staatlicher Seite gab es in der Vergangenheit lange große Vorbehalte, islamische Verbände in die Jugend- und Sozialarbeit einzubinden. Hat die Beteiligung von islamischen Verbänden in der Präventionsarbeit aus ihrer Sicht dazu beigetragen, deren Rolle zu „normalisieren“?
Jens Ostwaldt: Ich glaube, dass das Gegenteil zutrifft. Dies liegt weniger an den umgesetzten Präventionsprojekten an sich, als vielmehr an einer inkonsistenten Haltung sowohl innerhalb der islamischen Verbände als auch im gesellschaftlichen Diskurs gegenüber der Rolle islamischer Vereine in der Präventionsarbeit.
Die verstärkte Einbindung von islamischen Vereinen und Verbänden in die Präventionsarbeit hat dazu geführt, dass die Jugendarbeit der Moscheegemeinden immer mehr auf die Prävention von Radikalisierungen reduziert wird. Aus meiner Sicht ist das fatal, denn die Jugendarbeit in den Moscheen mag präventive Wirkung haben, sie hat aber mit Präventionsarbeit erstmal nichts zu tun. Sie legitimiert sich nicht dadurch, dass sie Radikalisierungen entgegenwirkt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, denn bei der Vermittlung von Religion in den Moscheen geht es nicht darum, Radikalisierungen zu verhindern, sondern darum, ein selbstbestimmtes Praktizieren der Religion zu ermöglichen.
Damit sind wir letztlich wieder bei der Eingangsfrage: Die Verbände haben immer eine größere Rolle in der Präventionsarbeit für sich eingefordert, aber oft noch keine konkrete Vorstellung davon, wie ein religiös-islamischer Präventionsansatz eigentlich aussehen könnte. Eine Ausnahme bilden die Vereine, die selbst eigene Präventionsprojekte umsetzen. Diese Vereine konnten solche Ansätze im Rahmen der Projektarbeit entwickeln. Viele dieser Projektförderungen sind aber Ende 2019 ausgelaufen, daher stellt sich jetzt die Frage: Wo bleibt dieses Wissen? Meine Vermutung ist, dass dieses Wissen sehr stark an Personen gebunden, aber nicht strukturell verankert ist. Mit dem Projektende geht dieses Wissen verloren.
Daher ist es aus meiner Sicht so wichtig, die islamischen Vereine nicht nur im Bereich der Präventionsarbeit zu fördern, sondern sie strukturell so zu unterstützen, dass sie langfristig gute Jugendarbeit machen können. Es reicht nicht, wenn die Gemeinden eine Expertise zum Thema Radikalisierung aufbauen. Es geht darum, die Jugendarbeit der Gemeinden insgesamt zu professionalisieren. Deshalb ist es zum Beispiel auch ein Problem, wenn islamische Vereine nur auf ehrenamtlicher Basis in Kooperationen eingebunden sind. Wichtig wären reguläre Stellen, die eine professionelle Arbeit erst ermöglichen. Kooperationen auf ehrenamtlicher Basis sind oftmals gut gemeint, bewirken aber das Gegenteil: Sie binden Ressourcen, die im Gemeindebetrieb dringend gebraucht werden. Dies gilt gerade für Kooperationen im Präventionsbereich.