In vielen Bundesländern ist das Kopftuch für Lehrerinnen inzwischen kein Ausschlusskriterium mehr: Seit das Bundesverfassungsgericht das Kopftuchverbot kippte, werden in Schulen und in der öffentlichen Verwaltung zunehmend auch Stellen mit Frauen besetzt, die das Kopftuch tragen. Nur nicht in Berlin, denn hier gilt nach wie vor das Neutralitätsgesetz. Doch wie lange noch? Auch im neuen Senat zeichnet sich keine einheitliche Position ab, die Diskussion geht also weiter. Und natürlich eignet sich das Thema auch für Diskussionen mit Schüler_innen. Julia Gerlach von ufuq.de hat die wichtigsten Fakten, Argumente und Hintergründe zusammengestellt.
Vor zwei Jahren hat das Bundesverfassungsgericht sein umstrittenes Kopftuchurteil von 2003 aufgehoben. Seitdem können Lehrerinnen mit Kopftuch im öffentlichen Dienst eingestellt werden – es sei denn, dies würde den Schulfrieden erheblich stören. Tatsächlich sind mittlerweile in verschiedenen Bundesländern Frauen mit Kopftuch eingestellt worden. Außer in Berlin: Hier gilt nach wie vor das Neutralitätsgesetz. Doch wie lange noch? Das Kopftuch entzweit auch Rot-Rot-Grün. Während die SPD nach einer Befragung der Parteibasis 2015 entschied, am Neutralitätsgesetz festzuhalten, gibt es bei den Grünen eine Mehrheit gegen das Gesetz. Klaus Lederer von den Linken, der als Kultursenator auch für Religionsfragen zuständig ist, hat angedeutet, dass er eine Überprüfung des Neutralitätsgesetzes für sinnvoll hält. Das Besondere an der Debatte ist, dass die Fronten quer zu den Parteilinien verlaufen und sich die politischen Mehrheiten immer wieder verändern. Wie wird die neue Koalition mit der Kopftuchfrage umgehen? Riskieren die Grünen einen Streit mit den Regierungspartnern, um Lehrerinnen mit Kopftuch den Weg in den Schuldienst zu eröffnen?
Apropos: Auch unter den Lehrerinnen tut sich etwas. Zunehmend studieren Frauen mit Kopftuch Lehramt und Jura. Sie sind hier aufgewachsen und wollen sich nicht länger ausgrenzen lassen. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis eine von ihnen vor Gericht zieht und versucht sich einzuklagen. Wahrscheinlich landet das Neutralitätsgesetz also über kurz oder lang vor dem Bundesverfassungsgericht. Was viele Frauen derzeit von diesem Schritt abhält, ist der lange und mühsame Weg durch die Instanzen. Aber auch strategische Erwägungen spielen eine Rolle: In Berlin bemühen sich vielerorts die Verantwortlichen um unbürokratische Lösungen und stellen zum Beispiel Referendarinnen mit Kopftuch trotzdem ein. Es gibt Stimmen, die diesen Weg der geräuschlosen Veränderung von unten für erfolgreicher halten, als eine gerichtliche Prüfung. Denn eine solche Prüfung würde fast zwangsläufig von einer Mediendebatte begleitet, die im Wahljahr 2017 möglicherweise extrem hitzig und wenig konstruktiv verlaufen könnte.
Was spricht für das Neutralitätsgesetz? Was dagegen? Die Berliner Landeszentrale für Politische Bildung veranstalte kürzlich eine Podiumsdiskussion, bei der sich die beiden Lager begegneten. Wir fassen die wichtigsten Positionen zusammen, denn wer mitreden will, muss die Fakten, Argumente und deren Hintergründe kennen.
Zur rechtlichen Grundlage
Das Kopftuchurteil des BVerfG von 24. September 2003
Nach langer Debatte und mit einem Votum von 3:5 Stimmen entschied das Bundesverfassungsgericht im September 2003, dass Lehrerinnen nach bestehender Rechtslage das Tragen des Kopftuches in der Schule nicht verwehrt werden könne, und forderte daher eindeutige Gesetze der einzelnen Länder. Daraufhin erließen die Landesparlamente Gesetze, das Kopftuch an öffentlichen Schulen oder sogar in öffentlichen Ämtern allgemein zu verbieten.
Das Kopftuchurteil des BVerfG vom 27. Januar 2015
Nur wenn das Kopftuch einer muslimischen Lehrerin den Schulfrieden stört, darf es verboten werden – jedoch nicht mehr pauschal. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden und damit das Urteil korrigiert, das 2003 hitzige Diskussionen auslöste. Statt der Länder sollen nun die Schulen über ein Verbot entscheiden. Die meisten Bundesländer änderten daraufhin ihre Gesetze und es wurden Lehrerinnen auch mit Kopftuch eingestellt.
Berliner Neutralitätsgesetz (Gesetz zu Artikel 19 der Verfassung) vom 9. Februar 2005
Angestellte des öffentlichen Dienstes, die hoheitlich tätig sind, dürfen keine offen sichtbaren Zeichen tragen, die ihre religiöse oder weltanschauliche Einstellung erkennen lassen. Damit geht die Berliner Regelung deutlich weiter als die der meisten anderen Bundesländer, da auch weite Bereiche der Verwaltung und der Polizeidienst eingeschlossen werden.
Hintergrund: Warum ist Berlin so anders?
Wenn es um Religion geht, unterscheidet sich Berlin in zwei Punkten von den anderen Bundesländern: 1. Die Hauptstadt ist deutlich vielfältiger als der Rest von Deutschland. Es gibt rund 250 verschiedene Glaubensgemeinschaften. 2. Die größte dieser Gruppen ist die der Nicht-Gläubigen. Mehr als 63 Prozent der Berliner_innen sollen – so die Schätzungen – religionslos sein.
Die Argumente
Burkard Dregger, Jurist, Abgeordneter der CDU in Berlin
„Wir müssen jeden Zweifel an der Neutralität und Unparteilichkeit der Repräsentanten des Staates im Keim ersticken, denn Autoritätsverlust und gar Chaos könnten sonst die Folge sein. Wenn türkischstämmige Jugendliche vor einen Richter mit Kippa treten, werden sie möglicherweise die Unparteilichkeit seines Urteil anzweifeln. Diese Situation gilt es zu vermeiden und wieso sollten wir dies riskieren? Es gibt dazu keine Veranlassung. Es wird doch niemand gezwungen, im Staatsdienst zu arbeiten. Es gibt in Berlin kein Kopftuchverbot, denn das Gesetz gilt für alle Ausdrucksformen von Religiosität oder Weltanschauung gleichermaßen. Es ist daher nicht gerechtfertigt, wenn die betroffenen Lehrerinnen oder Rechtsreferendarinnen mit Kopftuch von Diskriminierung sprechen. Fragen Sie doch einmal die Bürger und Bürgerinnen! Die Mehrheit ist dagegen, dass Lehrerinnen und Beamtinnen mit Kontakt zur Öffentlichkeit Kopftücher tragen. Dem müssen wir Rechnung tragen. Ich räume allerdings ein, dass es Veränderungen gibt. Meine Kinder, die in einer sehr viel vielfältigeren Gesellschaft aufwachsen als meine Generation, werden diese Frage vermutlich anderes entscheiden. Es wird einen Paradigmenwechsel geben, aber ich halte den Moment noch nicht für gekommen und wir müssen vorsichtig sein. Sicherheit und Vertrauen in den Staat sind hohe Güter, die wir nicht leichtfertig aufs Spiel stellen dürfen.“ (Zusammenfassung der Aussagen während der Diskussionsveranstaltung in der LpB Berlin am 23. Januar 2017)
Susanna Kahlefeld, Theologin, Abgeordnete Bündnis90/Die Grünen in Berlin
„Es gibt von den Berliner Grünen keine explizite Stellungnahme zum Neutralitätsgesetz. Es gibt jedoch einen Beschluss des Bundesparteitags und die Empfehlungen einer parteiinternen Kommission, die sich gegen ein generelles Kopftuchverbot für Staatsangestellte richten. Wir müssen sehen, wie wir diese Position in der Koalition hier in Berlin umsetzen können. Die SPD hat sich ja festgelegt, am Neutralitätsgesetz festzuhalten. Wir werden sehen.
Auch für uns ist das Prinzip der Neutralität der Staatsvertreter ein sehr hohes Gut. Wir gehen aber davon aus, dass ein Kopftuch oder ein anderes offenes Zeichen für die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe allein noch nicht gegen dieses Gebot verstößt. Erst wenn eine Staatsvertreterin oder ein Staatsvertreter durch Aussagen oder Handlungen klar Partei ergreift, liegt ein solcher Verstoß vor. Hierfür brauchen wir aber kein spezielles Neutralitätsgesetz. Das normale Disziplinarrecht reicht völlig.
Dieser Ansatz spiegelt das typisch deutsche Verhältnis zur Religion. Deutschland war doch immer ein vielfältiges Land, in dem in Kleinstaaten die verschiedenen Konfessionen nebeneinander lebten. Protestanten, Katholiken und in kurzen Zeitspannen auch Juden. Friedlich nebeneinander. Anders als in Frankreich war es bei uns nie Tabu, seine Religionszugehörigkeit zu zeigen, solange man nicht Partei ergreift. Was die Probleme beispielsweise türkischstämmiger Jugendlicher mit einem Richter mit Kippa angeht: Da hilft nur Bildung und Aufklärung. Ich bin überzeugt, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern zutrauen können zu lernen, dass auch Richter mit Kippa und Lehrerinnen mit Kopftuch neutral sein können.“ (Zusammenfassung der Aussagen währen der Diskussionsveranstaltung in der LpB Berlin am 23. Januar 2017)
Was sagen die Betroffenen?
Wie kaum eine andere steht Fereshta Ludin für den zähen Kampf muslimischer Lehrerinnen, die mit ihrem Kopftuch unterrichten wollen. 1998 klagte sie gegen das Verbot des Kopftuchs für Lehrerinnen an staatlichen Schulen und ging einen zähen Weg durch die Instanzen. Das Bundesverfassungsgericht entschied 2003, dass Kopftücher nicht grundsätzlich verboten werden dürften, versah das Urteil jedoch mit einem dicken „aber“. De facto wurde Lehrerinnen mit Kopftuch der staatliche Schuldienst verwehrt. Ludin trat daraufhin eine Stelle an der islamischen Grundschule in Berlin an. 2015 veröffentlichte sie ein Buch über ihre Erfahrungen. Im Interview beschreibt sie, was sich seit dem neuen Urteil des Bundesverfassungsgerichts verändert hat und was sie erwartet.
Vor zwei Jahren hat das Bundesverfassungsgericht das Kopftuchurteil gekippt. Was bedeutet dieses Urteil und vor allem: Was hat sich seitdem verändert?
Es ist schön zu sehen, dass das Bundesverfassungsgericht ein klares Zeichen gegen die pauschalen Kopftuchverbote und Diskriminierung gesetzt und seine Entscheidung von 2003 korrigiert hat. Berlin hat das Neutralitätsgesetz ohne einen konkreten Anlass eingeführt, sondern präventiv und bleibt auch jetzt hartnäckig. Damit setzt Berlin die gesetzliche Diskriminierung fort, da man den Begriff der Neutralität nicht verfassungskonform umsetzt. In mehreren Bundesländern sind Lehrerinnen mit Kopftuch bereits eingestellt. Das freut mich sehr. Viele Muslimas werden jedoch in Berlin und anderswo aus dem beruflichen Leben und von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen. Das war und bleibt ein leidiger Weg für viele Betroffene.
Wie kommt es eigentlich, dass Berlin hier so anders, so hartnäckig ist?
Berlin hat eine eigene Geschichte, was den Umgang mit Religion angeht. Hier wurden Ost und West sehr konzentriert zusammengeschweißt und das trug auch dazu bei, dass der Umgang mit Religion anders war und noch ist, als in anderen Bundesländern. Ost und West waren grundsätzlich, was das Verhältnis zu Religion angeht, verschieden. Zugleich gibt es hier aber auch besonders große Chancen. Gerade hier! Hier gibt es so viele vielfältige Menschen. Berlin ist für mich ein Symbol der Vielfalt. Wo soll das Zusammenleben besser klappen, wenn nicht hier? Es geht darum, Lösungen und Möglichkeiten zu finden, dass wir mit mehr Respekt für Andersdenkende zusammenleben.
Warum ist das so schwer? Es gibt ja viele Programme und Initiativen, um das Zusammenleben zu verbessern.
Im alltäglichen Leben habe ich nicht das Gefühl, dass es so viele Vorbehalte gibt. Das ist hier ja anders als zum Beispiel in Brandenburg. Da traue ich mich manchmal gar nicht hin. Das geht ja vielen Menschen, die erkennbar anders sind, ebenso. Menschen jüdischen Glaubens oder mit schwarzer Hautfarbe. In Berlin selbst gibt es viel mehr Offenheit und Vielfalt, anderssein ist hier normal. Doch an der politischen Linie hakt es. Man sollte offen und ehrlich debattieren. Und man sollte auch ganz explizit sagen, wozu solche Gesetze dienen, was sie bezwecken. Das Berliner Neutralitätsgesetz will das gleiche erreichen, was auch laizistische Systeme anstreben. Unsere Verfassung ist aber eine gegenüber Religionen offene und plural ausgerichtete Grundlage für alle Gesetzgebungen in unserem Land. Diese Grundsätze sind von bundesweiten Gesetzgebern zu beachten und in die Tat umzusetzen.
Und wozu dienen sie?
Eigentlich sollen Gesetze Gerechtigkeit schaffen und das Zusammenleben friedvoll gestalten. Aber wenn man sich die Wirkung des Neutralitätsgesetzes anschaut, so ist klar, dass Menschen, die bereits anders aussehen, ausgegrenzt werden. Muslimische Frauen sind in besonderem Maße betroffen. Zwar wendet es sich gegen alle religiös-weltanschaulichen Kleidungsstücke und andere sichtbare Zeichen von Religiosität, aber in der Praxis zeigt sich, dass oft Schmuckstücke mit Kreuz geduldet werden, Kopftücher und Kippas jedoch nicht. Das hängt sicher damit zusammen, dass man das eine kennt, aber das andere nicht – und was man nicht kennt, macht Angst und erzeugt Ablehnung. Da sind Politik, Medien und die Gesamtgesellschaft gefragt, für mehr Offenheit, Aufklärung und Dialog zu sorgen. In Anbetracht der politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen bei uns in Deutschland sollten wir Gesetze schaffen, die die Pluralität sichtbar bejahen, anstatt sie aus der Gesellschaft zu verbannen. Gesetze, die alle Frauen, jeglicher Herkunft und Religion auf dem Arbeitsmarkt gleichstellt und ihnen die gleichen beruflichen Chancen gibt.
Manche Befürworter_innen des Kopftuchs an Schulen sagen, dass es dringend neue Klagen geben sollte, um das Berliner Neutralitätsgesetz unter Berufung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu kippen. Andere setzen auf eine Strategie des beharrlichen Abwartens und Drängens, weil sie den Medienrummel um das Kopftuch für kontraproduktiv halten. Was meinen Sie? Klagen oder nicht klagen?
Das sollen die Frauen selbst entscheiden, denn die Frauen müssen sich darüber im Klaren sein, dass es ein langer, harter und sehr unbequemer Weg ist, den eine Klägerin gehen muss. Zugleich ist es aber auch eine Frage von übergeordnetem Stellenwert: Es geht hier um Menschenrechte. Ich denke aber, dass es inzwischen viele hier aufgewachsene Frauen gibt, die sich nicht länger einschränken lassen werden. Sie wollen gleichberechtigt leben und ihre beruflichen Visionen realisieren können und ich glaube, es wird in Zukunft mehr Frauen geben, die bereit wären zu streiten.
Haben Sie denn die Hoffnung, dass jetzt das Neutralitätsgesetz unter Berufung auf das neue Urteil des Bundesverfassungsgerichts gekippt werden könnte?
Ich habe die Hoffnung, dass man mehr Mut zu mehr Offenheit zeigen wird. Neutralität wird ja im Berliner Gesetz als sehr antiplural und antireligiös und gegen eine äußere Vielfalt vermittelt. Unser Grundgesetz hingegen formuliert Neutralität Religionen gegenüber. Neutralität ist eine innere Haltung, die nicht am äußeren Erscheinungsbild festzumachen ist.
Im vergangenen Jahr wurde aber nicht nur über das Kopftuch an Schulen diskutiert. Auch das sogenannte Burkaverbot sorgte für Debatten. Haben sich diese beiden Diskussionen gegenseitig beeinflusst?
Über die Burka im Schuldienst hat das Bundesverfassungsgericht ganz klar 2003 geurteilt – und das sehe ich auch so: Das Gesicht ist ein sehr wichtiges Merkmal der Kommunikation, daher sollte dieses sichtbar sein. In der Öffentlichkeit, außerhalb des Schuldienstes sollte keine Frau vorgeschrieben bekommen, wie sie sich in der Öffentlichkeit zu kleiden hat. Ob Minirock oder Burka, das sollte jede Frau selbst entscheiden. Ich selbst sehe die Burka im deutschen Kontext eher kritisch. Dennoch bin ich dagegen, das Tragen pauschal zu verbieten. Ich habe in meinem Leben Frauen mit Burka getroffen, die sehr weltoffen waren. Vor allem darf keine Frau wegen ihrer Kleidung von ihrem Beruf ausgeschlossen werden. Ich bin für eine plurale Gesellschaft und für eine Gesellschaft, die Frauen in ihrer persönlichen Freiheit fördert.