Aktuell wird intensiv über Meinungsäußerungen in der Schule diskutiert. Was fällt unter das Grundrecht der Meinungsfreiheit? Was ist durch die freiheitlich-demokratische Grundordnung dagegen nicht mehr abgedeckt? Bei welchen Äußerungen muss, wann sollte die Lehrkraft eingreifen? Prof. Dr. Joachim Wieland, Verfassungsrechtler, erläutert den rechtlichen Rahmen politischer Äußerungen in der Schule und diskutiert dabei auch zahlreiche Fallbeispiele, wie sie im Unterricht oder auf dem Schulhof vorkommen könnten. Zum pädagogischen Rahmen gehört darüber hinaus die Meinungsbildung im Politikunterricht bzw. in der politischen Bildung in Schule und Unterricht. Hier greift der Beutelsbacher Konsens, der Grundsätze für die politische Bildung festlegt und im Rahmen dieses Hintergrundpapiers kurz erläutert wird.
Das Problem
Lehrer_innen sollen im Unterricht keine Politik machen, sondern sich parteipolitisch neutral verhalten. Gleichzeitig sollen sie jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten, die im Grundgesetz verankert ist. Wie Schüler_innen können sich auch Lehrer_innen auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen. Wenn Schüler_innen sich in der Schule politisch äußern, können Lehrer_innen gefordert, sein pädagogisch zu reagieren. Welchen Rahmen gibt die Rechtsordnung insoweit vor?
Der rechtliche Rahmen
1. Das Beamtenrecht
Das Beamtenrecht verpflichtet Lehrer_innen, ihre Aufgaben unparteiisch zu erfüllen und sich durch ihr ganzes Verhalten zu der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes zu bekennen und für deren Erhaltung einzutreten. Betätigen sich Lehrer_innen politisch, müssen sie die Mäßigung und Zurückhaltung wahren, die sich aus ihrer Stellung gegenüber der Allgemeinheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten ihres Amtes ergibt (§ 33 Beamtenstatusgesetz). Lehrer_innen dürfen in der Schule weder im Unterricht noch außerhalb des Unterrichts Parteipolitik betreiben. Sie sind zur Verfassungstreue verpflichtet, müssen sich also aktiv für die Verfassung und deren Werte einsetzen. Die Pflicht erstreckt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf die gesamte geltende Verfassungsordnung, auch soweit Bestimmungen des Grundgesetzes im Wege der Verfassungsänderung umgestaltet werden können. Eine bloß verbale Bejahung der grundgesetzlichen Wertordnung reicht nicht aus. Vielmehr muss das Lehreramt aus dem Geist der Verfassung heraus geführt werden. Für angestellte Lehrer_innen gilt im Wesentlichen das Gleiche.
2. Das Schulrecht
In die gleiche Richtung zielt das Schulrecht, das sich zwar im Wortlaut in den einzelnen Ländern unterscheidet, im Kern jedoch in allen Ländern gleich ist. Die folgende Darstellung orientiert sich am Schulgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen (SchulG NW). Die Ergebnisse sind jedoch auf andere Länder übertragbar. Der Schulunterricht und die schulische Erziehung erfolgen auf der Grundlage des Grundgesetzes und der Landesverfassung, insbesondere ihrer Bildungs- und Erziehungsziele. Bildungs- und Erziehungsziele sind die Achtung vor der Würde des Menschen und die Bereitschaft zum sozialen Handeln.
Die Erziehung soll im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, aber auch in Liebe zu Volk und Heimat sowie zur Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung erfolgen und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen hinführen (Art. 7 Landesverfassung Nordrhein-Westfalen). Schüler_innen sollen befähigt werden, am politischen Leben teilzunehmen. Sie sollen lernen, die eigene Meinung zu vertreten und die Meinung anderer zu achten, Menschen unterschiedlicher Herkunft vorurteilsfrei zu begegnen, für ein diskriminierungsfreies Zusammenleben und für die Demokratie einzustehen sowie die grundlegenden Normen der Verfassung zu verstehen. Die Schule wahrt Offenheit und Toleranz. Sie respektiert im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unterschiedliche Auffassungen. Schüler_innen dürfen nicht einseitig beeinflusst werden. Lehrer_innen dürfen in der Schule keine politischen Bekundungen abgeben, welche die Neutralität des Landes gegenüber Schüler_innen sowie Eltern oder den politischen Schulfrieden gefährden oder stören. Unzulässig ist ein Verhalten, das den Eindruck hervorruft, dass Lehrer_innen gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftreten (§ 2 SchulG NW).
3. Die Grundrechte
Lehrer_innen und Schüler_innen können sich auch in der Schule auf ihre Grundrechte berufen. Das gilt insbesondere für das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Das Beamtenrecht und das Schulrecht schränken die grundrechtliche Meinungsfreiheit aber zulässig ein. Bei dieser Einschränkung ist allerdings die hohe Bedeutung der Meinungsfreiheit zu beachten. Die Einschränkungen müssen strikt verhältnismäßig sein. Das heißt insbesondere, dass sie Lehrer_innen und Schüler_innen zumutbar sein müssen.
4. Ein Zwischenergebnis
Lehrer_innen können sich ebenso wie Schüler_innen auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen. Der Grundrechtsgebrauch wird allerdings durch das Amtsrecht und das Schulrecht eingeschränkt. Beamtenrechtlich sind Lehrer_innen verpflichtet, ihre Aufgaben unparteiisch zu erfüllen, sich durch ihr ganzes Verhalten zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes zu bekennen und für den Erhalt dieser Grundordnung einzutreten. Das Schulrecht verpflichtet Lehrer_innen, ihre Schüler_innen im Geiste der Verfassung zu bilden und zu erziehen. Insoweit wird die Meinungsfreiheit der Lehrer_innen und Schüler_innen eingeschränkt.
Die Folgerungen
1. Situation mit Lehrer_in im Unterricht zum Thema EU und ihre Außengrenzen
a) Ein_e Schüler_in sagt „im Spaß“: „Deutschland ist eigentlich viel größer als auf der Karte, die Grenzen von vor 1945 gehören doch auch dazu.“
Der/die Lehrer_in muss Schüler_in darauf hinweisen, dass nach der Präambel des Grundgesetzes mit der Wiedervereinigung die Einheit Deutschlands vollendet ist. Gebiete außerhalb des Staatsgebiets der Bundesrepublik Deutschland gehören folglich nicht zu Deutschland im Sinne der Verfassung. Mit einem solchen Hinweis erfüllt ein_e Lehrer_in die Pflicht, sich für die gesamte geltende Verfassungsordnung einzusetzen.
b) Kurz nach Unterrichtsende zeigt ein_e Schüler_in im Klassenzimmer den Hitler-Gruß.
Das Zeigen des Hitlergrußes ist nach § 86a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) strafbar, auch wenn damit nicht ein Bekenntnis zum Nationalsozialismus zum Ausdruck gebracht werden soll. Die Meinungsfreiheit der Schüler_innen ist insoweit nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in zulässiger Weise eingeschränkt. Da sich das Zeigen des Hitlergrußes nicht mehr im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung hält, sondern als Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates strafbar ist, dürfen Lehrer_innen das Verhalten nicht mehr als bloße unterschiedliche Auffassung respektieren, sondern müssen sich aktiv für die Verfassung und deren Werte einsetzen, wenn das Verhalten in den Räumen der Schule erfolgt, auch wenn der Unterricht bereits beendet ist.
2. Situation mit Lehrer_in im Unterricht, Diskussion zum Thema „Asyl/Migration“
a) Schüler_in fordert: „Deutsche zuerst! Unser Sozialversicherungssystem sollte grundsätzlich Deutsche bevorzugen.“
Die Forderung, dass unser Sozialversicherungssystem grundsätzlich Deutsche bevorzugen sollte, hält sich im Rahmen der Meinungsfreiheit. Die Sozialversicherung beruht auf dem Solidaritätsprinzip und macht Versicherungsleistungen von der Beitragszahlung abhängig. Ausländer_innen und Geflüchtete haben deshalb nicht automatisch Anspruch auf Sozialversicherungsleistungen. Lehrer_innen sollten allerdings darauf hinweisen, dass die Menschenwürdegarantie der Verfassung jedem das Existenzminimum gewährleistet. Das gebietet die Achtung vor der Würde des Menschen.
b) Schüler_in behauptet: „Ausländer sind zu faul zum Arbeiten und wollen uns nur unser Geld aus der Tasche ziehen.“
Die Schüler_innen sollen lernen, Menschen unterschiedlicher Herkunft vorurteilsfrei zu begegnen. Lehrer_innen sind deshalb auf eine solche ausländerfeindliche Äußerung hin, die nicht mehr von der Meinungsfreiheit in der Schule gedeckt ist, zum Handeln verpflichtet. Sie müssen den Schüler_innen vermitteln, dass auch Ausländer_innen einen Anspruch auf Achtung wie Deutsche haben und dass die freiheitliche Ordnung der Verfassung keine ehrverletzenden Äußerungen deckt.
c) Schüler_in schließt von einer ihm/ihr bekannten Person auf alle: „Flüchtlinge sind eigentlich reich, das sieht man ja schon an dem Smartphone, das XY besitzt.“
Die Äußerung, dass Flüchtlinge eigentlich alle reich seien, wie man am Beispiel einer Person sehe, dürfte noch von der Meinungsfreiheit gedeckt sein, gibt aber für Lehrer_innen Anlass zu einer pädagogischen Reaktion im Sinne des Auftrags der Schule, Menschen unterschiedlicher Herkunft vorurteilsfrei zu begegnen. Es sollte deutlich werden, dass solche Verallgemeinerungen gerade mit Bezug auf Geflüchtete Vorurteile darstellen, die mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun haben.
d) Schüler_innen beziehen sich auf einen ihnen bekannten Fall und schließen auf alle: „Ausländer sind alle kriminell, wie der Fall im Asylbewerberheim XY letzte Woche gezeigt hat.“
Diese Äußerung steht an der Grenze zur Ehrverletzung und dürfte nur deshalb nicht strafbar sein, weil die beleidigte Personengruppe der Ausländer_innen nicht überschaubar ist. Eine pädagogische Reaktion ist aber unabhängig von der (fehlenden) Strafbarkeit der Äußerung geboten, weil die Schüler_innen lernen sollen, Menschen unterschiedlicher Herkunft vorurteilsfrei zu begegnen.
3. Meinungsäußerungen im Unterricht von Lehrer_in oder Schüler_in
a) Lehrer_in vertritt die Meinung: „Menschen in Not muss man helfen, auch wenn man dabei Gesetze bricht, und deshalb muss man z. B. die Flüchtlinge auf den Schiffen im Mittelmeer vor Malta aufnehmen.“
Die Äußerung der Meinung, dass man Menschen in Not helfen muss, auch wenn man dabei Gesetze bricht, ist zwar grundsätzlich von der Meinungsfreiheit der Lehrer_innen umfasst. Die Meinungsfreiheit der Lehrer_innen findet aber dort ihre Grenze, wo ziviler Ungehorsam durch ein gesetzwidriges Verhalten befürwortet wird. Eine solche Befürwortung verletzt das Gebot zur Mäßigung und Zurückhaltung, zumal das Grundgesetz alle Amtsträger_innen verpflichtet, Gesetz und Recht zu beachten. Anderes würde nur gelten, wenn ziviler Ungehorsam als ethisches und rechtliches Problem in Auseinandersetzung mit den Argumenten der Befürworter_innen und Gegner_innen abgehandelt und nicht auf eine plakative Aussage reduziert würde.
b) Schüler_in trägt Button der Partei XY und sagt: „Ich finde die Partei XY toll.“
Das Bekenntnis von Schüler_innen zu einer politischen Partei ist von ihrer Meinungsfreiheit gedeckt und entspricht dem Auftrag der Schule, Schüler_innen zu befähigen, am politischen Leben teilzunehmen. Nur wenn der politische Schulfriede im Einzelfall ernstlich gefährdet wäre, müssten Lehrer_innen pädagogisch reagieren und die Bedeutung der Meinungsfreiheit und der Achtung der Meinung anderer herausarbeiten.
c) Lehrer_in sagt: „Ich finde die Partei XY toll.“
Lehrer_innen müssen ihre Aufgaben unparteiisch erfüllen und dürfen in der Schule keine politischen Bekundungen abgeben, welche die Neutralität des Landes gefährdet. Insoweit ist ihre Meinungsfreiheit
eingeschränkt. Deshalb wäre die Äußerung, eine politische Partei sei toll, eine Verletzung ihrer Dienstpflichten.
d) Schüler_in: „Ich finde, die Partei XY sollte verboten werden, weil sie gegen Ausländer wettert und Unsicherheit schürt.“
Die Äußerung ist von der Meinungsfreiheit der Schüler_innen gedeckt. Lehrer_innen dürfen sie allerdings nicht unkommentiert lassen, sondern müssen derart für die Erhaltung der Verfassung eintreten, dass ein Parteiverbot nicht bereits bei einem Wettern gegen Ausländer_innen zulässig ist, sondern nur, wenn die Abschaffung der zentralen Grundprinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung wie die Garantie der Menschenwürde und das Prinzip des demokratischen Rechtsstaats angestrebt werden.
e) Lehrer_in: „Die Partei XY sollte verboten werden, weil sie gegen den Islam wettert.“
Die Äußerung verstößt gegen das beamtenrechtliche Gebot zur politischen Mäßigung und Zurückhaltung. Zudem reicht das Wettern gegen den Islam nicht aus, damit eine politische Partei verboten werden darf.
f) Schüler_in: „Mehrere Parteien braucht man nicht, eine gut aufgestellte Partei reicht, und überhaupt hat die Opposition zu viele Rechte.“
Auf diese Äußerung hin müssen Lehrer_innen den Schüler_innen erläutern, dass eine parlamentarische Demokratie auf dem Mehrparteiensystem und auf der Aufgabenteilung zwischen Regierung und Opposition basiert. Das gebietet ihre Dienstpflicht, für den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung einzustehen.
4. Meinungsäußerungen auf dem Schulhof
a) Schüler_in bringt lautstark seine/ihre Vorliebe für eine bestimmte Musikrichtung zum Ausdruck, die sich klar gegen Ausländer_innen oder Geflüchtete bzw. Asylbewerber_innen wendet.
Solche Äußerungen von Schüler_innen erfordern eine Reaktion der Lehrer_innen, die Schüler_innen befähigen sollen, Menschen unterschiedlicher Herkunft vorurteilsfrei zu begegnen und die Würde aller Menschen zu achten.
b) Eine Lehrkraft hört Beschimpfungen der Schüler_innen untereinander, in denen Begriffe wie „Jude“, „schwul“ oder „behindert“ vorkommen.
Auch insoweit ist eine pädagogische Reaktion der Lehrer_innen gegenüber den Schüler_innen aus den unter a) genannten Gründen erforderlich.
c) Eine Gruppe von Schüler_innen trägt Jacken, die einer extremen politischen Richtung zuzuordnen sind.
Das Tragen der Jacken ist als Ausdruck der Meinungsfreiheit der Schüler_innen hinzunehmen, solange sie nicht für Meinungen stehen, die mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unvereinbar sind und/oder den Schulfrieden gefährden. Eine pädagogische Reaktion gegenüber den Schüler_innen zur Bekräftigung der Toleranz und als Eintreten für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist angezeigt. Entscheidend für die Reaktion der Lehrer_innen ist, ob die Jacken für politische Auffassungen stehen, die zwar extrem, aber noch nicht verfassungsfeindlich sind. Bringt das Tragen der Jacken verfassungsfeindliche Überzeugungen zum Ausdruck, müssen Lehrer_innen gegenüber den Schüler_innen für die Erhaltung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eintreten.
Der „Beutelsbacher Konsens“ von 1977 ist nach wie vor Richtschnur politischer Bildungsangebote. Das heißt: Es gelten gleichrangig das „Überwältigungsverbot“ (Absage an jedwede Indoktrination), das Kontroversitätsgebot bezüglich der Inhalte in der Bildungsarbeit (was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch beim Lernen kontrovers behandelt werden) sowie das Prinzip der Urteilsbefähigung (die Teilnehmenden verfolgen ein selbständiges Interesse am Bildungsprozess und vertreten ihre Interessen im Lernprozess eigenständig).
Der Beutelsbacher Konsens steht nicht für Beliebigkeit, sondern wurde in dem Geist verfasst, Demokratie stärken zu wollen. Er bedeutet insofern kein politisches „Neutralitätsgebot“ in dem Sinne, dass auch demokratiefeindliche Meinungen gleichrangig wären – insbesondere nicht im Umgang mit jungen Menschen. Die Wertgebundenheit sowie die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen machen ein entschiedenes Eintreten für Demokratie, Menschenrechte und die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland unverzichtbar.
(Quelle: Publikation „Lernen für Soziale Demokratie“ (pdf) der Friedrich-Ebert-Stiftung)
Dieser Beitrag erschien zuerst im April 2019 als Hintergrundpapier zu „Politische Bildung in der Schule“ im Themenportal Bildungspolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung. Wir danken dem Autor und der Freidrich-Ebert-Stiftung für die Erlaubnis, den Beitrag hier zu veröffentlichen.