Was können Schulen gegen Diskriminierung und Rassismus tun? Webtalk mit Amine Taşdan von der Anlaufstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen (ADAS)
30. November 2022 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung

Diskriminierungen haben massiven Einfluss auf die psychische und physische Gesundheit und können schulische Leistungen beeinflussen. In Berlin haben Schüler*innen, Sorgeberechtige, aber auch Lehrkräfte oder andere Beschäftigte an Berliner Schulen die Möglichkeit, sich an die Anlaufstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen (ADAS) zu wenden, wenn sie Diskriminierung erleben oder gegen Diskriminierung vorgehen wollen. Unsere Kollegin Maryam Kirchmann interviewte im Rahmen eines Webtalks die Beraterin Amine Taşdan von ADAS.

Im Rahmen des Webtalks Let’s talk about Diskriminierung! am 11. Mai 2022 berichtete Amine Taşdan von ihrer langjährigen Beratungspraxis bei ADAS. So kämen häufig Eltern in die Beratungsstelle, die Unterstützung suchten, weil sie Konflikte in der Schule nicht mehr alleine lösen könnten. Typische Fälle seien dabei ungleiche oder ungerechte Benotungen oder Bestrafungen aufgrund eines Differenzmerkmals wie z. B. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, aber auch rassistische und gewaltvolle Aussagen von Lehrer*innen gegenüber Schüler*innen.

Für eine diskriminierungsärmere Schule empfiehlt Amine Taşdan unter anderem mehr Sensibilität für Diskriminierung und Rassismus bei allen an Schule beteiligten Gruppen zu schaffen. Hier nennt sie neben Schulleitungen, Lehrer*innen und Schulen auch ganz explizit Eltern.

Des Weiteren benötigten Schulen ein Antidiskriminierungskonzept sowie ein internes Beschwerde-Management, hinter dem die Schulleitung auch stehe.

Mehr über die Arbeit der Anlaufstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen (ADAS) können Sie im folgenden Mitschnitt des Webtalks als Podcast hören:


Transkription der Folge

Maryam:

Heute geht es in unserem Webtalk um die Beratungsstelle ADAS. Ich freue mich ganz besonders, Amine Taşdan begrüßen zu dürfen, die selbst in der Beratung bei ADAS tätig ist. Hallo Amine. Schön, dass du da bist.

Amine:

Hallo. Ich grüße alle.

Maryam:

Was genau macht ADAS? Was bedeutet ADAS? Kannst du uns vielleicht einen kleinen Überblick geben?

Amine:

Ich grüße alle, die anwesend sind. Mein Name ist Amine Taşdan. Ich habe Erziehungswissenschaften und Geisteswissenschaften studiert und arbeite inzwischen seit zehn Jahren im Antidiskriminierungsbereich, mit zwei Jahren Erziehungsurlaub-Unterbrechung. Ich bin eine der Beraterinnen von der Anlaufstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen. Wir sind eine unabhängige Beratungs- und Anlaufstelle für Diskriminierungsfälle an Berliner Schulen und beim Träger LIFE e.V., Bildung, Umwelt und Chancengleichheit angesiedelt. Das Projekt ist 2016 als Modellprojekt gestartet und wird inzwischen, seit 2021, von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie und von der LADS gefördert. Wir sind eine Geschäftsführerin, zwei Mitarbeiterinnen, die die Beratungen durchführen, eine, die für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist und eine Wissenschaftlerin, die die ganzen Daten dokumentiert und auswertet, weil wir regelmäßig Statistiken veröffentlichen und auch die Öffentlichkeit sensibilisieren wollen. Wir bei ADAS beraten und informieren zu den Themen Diskriminierung und Antidiskriminierung in der Schule, sowohl Grundschulen als auch Oberschulen oder Ausbildungsschulen. Die Zielgruppen sind unterschiedlich. Das heißt, an uns können sich Schüler und Schülerinnen wenden, aber auch Eltern, Lehrkräfte oder anderes Personal aus der Schule. Wir beraten und begleiten auch die Betroffenen in dem Prozess und versuchen, eine zufriedenstellende Lösung für diejenigen zu finden, die sich an uns wenden. Wir führen auch Inputs und Fortbildungen durch zu Themen wie diskriminierungskritische Schulentwicklung oder religiöse und weltanschauliche Vielfalt. Auf unserer Website www.adas-berlin.de haben wir auch diverse Publikationen zu dieser Thematik. Workshops und Fortbildungen für Schulen und Eltern oder Lehrkräfte führen wir vereinzelt durch, je nachdem, ob die Ressourcen das erlauben, weil wir auch ein kleines Team sind.

Maryam:

Ist ja eine ganze Menge, was ihr anbietet. Ihr seid ja auch, du hattest es gerade eben gesagt, mit einem anderen Träger, der sich auf Grundschulen fokussiert, die einzige Beratungsstelle in Berlin, die sich an Schulen richtet, wenn es um Diskriminierung geht. Unser Webtalk heißt ja: „Let‘s talk about Diskriminierung“. Das heißt, das macht ihr alltäglich. Mit welchen Anliegen können sich denn Personen an euch wenden? Was ist ein typisches Beispiel?

Amine:

Die Betroffenen, die sich an uns wenden, sind mehrheitlich Eltern, wenn es diverse Konflikte gibt in den Schulen. Wenn diese intern in der Schule nicht gelöst werden, wenden sie sich meistens an externe Beratungsstellen. Das heißt, bis sie den Weg zu uns finden, ist schon sehr viel in der Schule passiert. Sie sind an einen Punkt gekommen, wo sie selbst nicht mehr zu einer Lösung finden und sich hilflos fühlen. Durch andere Beratungsstellen, zum Beispiel eine soziale Beratungsstelle, finden sie dann den Weg zu uns. Oder sie recherchieren im Internet. Das stellt schon eine gewisse Eskalationsstufe dar. Viele Fälle lösen sich schon in der Schule. Das heißt, sie kommen nicht zu uns. Bei den Fällen, die wir bekommen, ist die Kommunikation mit den Beteiligten schon schwierig. Meistens will man einen Klassen- oder Schulwechsel, was auch nicht immer die optimale Lösung ist. Die Fronten sind verhärtet. Das kommt sehr oft vor. Es gibt auch Fälle, wo es offensichtlicher ist, dass Diskriminierung stattfindet, wo sich Schüler und Schülerinnen zum Beispiel aufgrund ihrer Benotung diskriminiert fühlen. Sie werden schlechter benotet und verstehen nicht, woher diese Benotung kommt. Oder es gibt Lehrkräfte, die Sachen sagen wie: „Hätte ich eine Bazooka, würde ich euch erschießen.“ Oder bestimmte Schüler werden härter bestraft im Vergleich zu anderen Schülern aufgrund von Merkmalen, die sie tragen. In manchen Fällen finden zwar Gespräche in der Schule statt, aber sie führen nicht zu einer Lösung und das Verhältnis ist dadurch gestört. In dieser Atmosphäre überhaupt die Schule zu besuchen, ist natürlich sehr schwierig. Es sind also ganz unterschiedliche Fälle, aber dazu würde ich auch später nochmal ein paar Beispiele nennen.

Maryam:

Das ist ja Wahnsinn. In der Schule mit Gewaltandrohungen konfrontiert zu sein, stelle ich mir, gerade als heranwachsende Person, wahnsinnig überfordernd vor. Wir bei ufuq geben ja auch Workshops an Schulen und erleben auch immer wieder Schilderungen von Schüler*innen, die solche Fälle andeuten. Wir verweisen dann gerne an euch. Was für mich jetzt interessant wäre: Wie häufig erlebt ihr denn Diskriminierung an Schulen? Also wie viele Anfragen erreichen euch so in etwa?

Amine:

Das ist sehr unterschiedlich. Unsere Zahlen sind nicht repräsentativ, das muss man ganz eindeutig sagen. Wir haben die Zahlen von 2018 bis 2020 veröffentlicht. In den zwei Jahren waren es insgesamt 324 Meldungen aus Berlin, aber auch vereinzelt aus anderen Bundesländern, die uns dann über das Internet finden und kontaktieren. Wir sind natürlich nicht für andere Bundesländer zuständig, aber wir verweisen dann in solchen Fällen. Es waren insgesamt 324 Meldungen, die nochmal aufgeteilt sind in Beratungsfälle, wo wir beraten und begleiten und in einfache Meldungen, wo keine Beratung notwendig erscheint oder wo die Betroffenen einfach nur möchten, dass es statistisch erfasst wird. Die Mehrheit, 65 Prozent dieser Meldungen, sind Beratungsfälle. Ich habe mir nochmal die Zahlen von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes angeguckt, die 2016 Zahlen aus Berlin oder ganz Deutschland veröffentlicht hat: 24 Prozent aller Befragten hatten in den letzten zwei Jahren Diskriminierung im Bildungsbereich erlebt. Das ist jede fünfte Person. Und es gibt natürlich eine große Dunkelziffer, weil viele Fälle nicht gemeldet werden. Weil die Betroffenen nicht wissen, dass diese Möglichkeit besteht, sie kennen die Beratungslandschaft nicht. Das ist das eine. Das andere ist, dass die Fälle in der Schule nicht unbedingt als Diskriminierungsfälle dokumentiert, sondern niedrigschwellig gelöst werden. Deswegen sind die Zahlen nur ein kleiner Hinweis darauf, wie viel Diskriminierung stattfindet.

Maryam:

Ich habe in meiner pädagogischen Praxis auch immer wieder erlebt, dass vor allem Schülern und Schülerinnen, die jünger sind, häufiger auch noch die nötige Sprache fehlt, um überhaupt eine Diskriminierung als eine Diskriminierung zu entlarven. Dennoch, glaube ich, hat sich in der Bildungslandschaft in den letzten Jahren einiges getan und so langsam finden die Wörter an den richtigen Platz. Schüler und Schülerinnen finden so auch den Mut, viel mehr Dinge zu benennen. Wenn ich mir jetzt vorstelle, dass eine Schülerin zu einer Lehrkraft geht und davon berichtet, von einer anderen Lehrkraft diskriminiert zu werden, vielleicht aufgrund ihres Kopftuchs oder aufgrund anderer Merkmale: Was würdest du in so einem Fall raten?

Amine:

Es gibt ja das interne Beschwerdemanagement in der Schule. Das heißt, da sind verschiedene Personen mit verschiedenen Rollen, die dann zur Verfügung stehen. Das können Schulsozialarbeiter*inen, Schulpsycholog*innen, Vertrauenslehrer*innen oder Klassenlehrer*innen sein. Da würde ich den Hinweis geben, dass man die Person des Vertrauens anspricht und dann ein Gespräch mit der betroffenen Person und, in dem Falle, der Lehrkraft vereinbart, in dem man sich ausspricht und in dem die Lehrkraft auch Stellung beziehen kann: Was ist denn da passiert? Wie war das aus ihrer Sicht? Dann versucht man zu gucken, wie man zukünftig damit umgehen kann. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass, wenn wir in Gesprächen mit der Schulleitung und in Anwesenheit der Lehrkräfte drin sind, zwei unterschiedliche Wahrnehmungen erzählt werden. Die Schüler*innen erzählen etwas anderes als die Lehrkraft. Wir haben nicht die Erfahrung gemacht, dass die Lehrkraft dann zugibt: „Ja, das und das ist passiert.“ Da steht ein Vorwurf im Raum. Das ist schambesetzt und das will man vielleicht nicht zugeben. Aber trotzdem zeigen wir: Es wurde bemerkt, dass der*die Schüler*in sich unfair behandelt fühlt. Auch wir können nicht zu hundert Prozent sagen: „Das war jetzt Diskriminierung“, weil uns ja Informationen fehlen. Bei dem, was wir an Information bekommen, können wir sagen: „Das sind Indizien einer Diskriminierung.“ Aber ganz festmachen können wir das oft nicht. Es reicht aber für uns aus, trotzdem in Gespräche reinzugehen und lösungsorientiert etwas zu vereinbaren, wie man zukünftig damit umgehen kann.

Maryam:

Ich habe gerade auch nochmal darüber nachgedacht, dass es ja auch nicht den Anschein erwecken soll, dass Diskriminierung immer nur ausgehend von Fachpersonal stattfindet, sondern eben auch zwischen Schüler*innen stattfinden kann. Zumindest erleben wir das auch in unserer pädagogischen Praxis häufiger, dass wir deshalb an Schulen gerufen werden, um einen Workshop zu geben. Welche pädagogischen Empfehlungen hättest du denn für so einen Fall, wenn Schüler*innen sich gegenseitig diskriminieren?

Amine:

Zu dem, was du als Erstes gesagt hast: Klar, die Diskriminierung geht natürlich auch von Schüler*innen aus, das stimmt. Unsere Zahlen zeigen, dass 25 Prozent der Diskriminierung, die ausgeübt wird, von Schüler*innen ausgeht und 70 Prozent von schulischen Professionellen. Wenn es von Schüler*in zu Schüler*in ist, haben wir eine Liste mit externen Trägern oder Mobbing-Beratungsstellen, die zu bestimmten Themen wie Antiziganismus, Antisemitismus oder Rassismus arbeiten, an die wir verweisen. Wir sagen natürlich auch, dass es nicht mit einer Fortbildung getan ist, dass das immer ein Prozess ist, den man damit vielleicht einleiten kann. Aber es ist eine Sache, die man eigentlich fortwährend machen muss, denn bis zum Schulabschluss sind Mobbing oder Diskriminierung zwischen Schüler*innen Thema. Je nach Thema, das Auslöser des Mobbings ist, kann man eben entsprechende Experten hinzuziehen.

Maryam:

Ich kann mir vorstellen, dass das auch ein schmaler Grat ist, weil Jugendliche, wenn sie so heranwachsen, ja gerne auch mal Grenzen austesten und sich beweisen müssen, wer der oder die Stärkere ist. Uns begegnet Mobbing, beziehungsweise in den wirklich schlimmen Fällen auch Diskriminierung, auch vermehrt im Schulalltag. Ich weiß von meinen Kolleg*innen, dass sie auch Beratungsanfragen zu diesem Thema bekommen. Die Frage ist ja immer: Was können Schulen tun, um ihre Einrichtung diskriminierungssensibel zu gestalten? Also wie kann man die Strukturen so ausrichten, dass, wenn so etwas passiert – was wahrscheinlich unvermeidlich ist, weil wir noch nicht in der Utopie leben, in der wir vielleicht gerne leben würden – die Schulen angemessen darauf reagieren können?

Amine:

Wenn es diskriminierendes Mobbing ist, also Mobbing aufgrund eines oder mehrerer Merkmale, dann gehen wir in die Gespräche rein und versuchen, eine Lösung zu finden. Wir begleiten dann die Betroffenen. Das, was wir den Schulen empfehlen würden, um eine diskriminierungsarme Schule zu gestalten, ist, eine Sensibilität für die Themen Antidiskriminierung und Diversität zu schaffen anhand von Fortbildungen für Lehrkräfte und Schulleitungen, aber auch durch Workshops mit Schüler*innen und allen anderen beteiligten Gruppen. Ich finde auch wichtig, dass man die Eltern mit einbezieht und auch da eine Sensibilität schafft. Meistens sind Fortbildungen und Workshops auf zwei bestimmte Gruppen ausgerichtet, aber die Eltern werden da nicht so einbezogen. Wichtig wäre auch, dass die Schule ein Antidiskriminierungskonzept aufgestellt hat. Während der Black-Lives-Matter-Bewegung haben zum Beispiel viele Schulen im letzten Jahr eine sogenannte „Antidiskriminierungs-AG“ gegründet, wo Schüler*innen, aber auch Lehrkräfte drin sind, die sich diesem Thema annehmen und versuchen, da in ihrer Schule Aktionen oder Projekte zu starten, um langfristig dafür zu sensibilisieren. Es wäre auch wichtig, dass man auf der Schulleitungsebene ein Konzept verabschiedet und auch durchführt. Natürlich wäre es auch hilfreich, wenn eine Person in der Schule beauftragt wird für solche Fälle. Aber das ist sicherlich eine Ressourcenfrage. Beratungsstellen fordern, dass man Antidiskriminierungsbeauftragte in den Schulen einstellt.

(Technische Störung)

Maryam:

Du hattest gerade gesagt, dass Beratungsstellen sich ein bestimmtes Engagement und eine Struktur von Schulen wünschen, dass sie bestimmte Angebote etablieren.

Amine:

Genau. Ich kann ja kurz davon erzählen, wie es ist, wenn wir zum Beispiel zu Gesprächen gehen mit der Schulleitung oder auch der Schulaufsicht. Wir erleben, dass da eine kollegiale Atmosphäre herrscht, weil die Schulaufsicht auch in engem Kontakt mit den Schulen ist und die Wünsche der Eltern nicht immer so berücksichtigt werden können. Es gibt strukturelle Barrieren, warum man auf die Wünsche von bestimmten Betroffenen nicht eingehen kann. Manche Eltern wünschen sich zum Beispiel, dass ihr Kind die Schule wechselt. Das geht aber nicht so einfach. Es gibt nur wenige Schulplätze und wenn man einen hat, dann ist das Schulamt rechtlich nicht unbedingt dafür zuständig, dir einen neuen Schulplatz zu suchen, wenn du zum Beispiel Mobbingerfahrungen gemacht hast. Eltern sind manchmal in dem Zustand, dass sie seit Jahren Diskriminierungserfahrungen erleben und diesen psychischen Stress nicht mehr aushalten und die Hoffnung haben, dass sich dadurch etwas ändert und das Kind oder die Familie eine neue Chance bekommt, aber es sind halt strukturelle Barrieren, die eine zufriedenstellende Lösung behindern. Dafür kann die Schule nichts. Das ist keine Sache, wofür die Schule oder die Schulaufsicht verantwortlich sind, das sind einfach die Strukturen, in denen wir leben. Auch ein Klassenwechsel ist nicht so einfach. Deshalb müssen die Personen, die in einen Konflikt geraten sind, noch einmal versuchen, zu einer Lösung zu kommen, wie sie die Kommunikation verbessern können. Das fällt den Betroffenen nicht immer leicht, weil oft monatelange Konflikte vorausgegangen sind und man es einfach nicht geschafft hat.

Maryam:

Ich kann mir auch vorstellen, dass nur durch einen Schulwechsel das Problem ja generell nicht gelöst wird. Es wird natürlich Abhilfe geschaffen für die betroffene Person, sodass sie sich dem nicht mehr aussetzen muss. Aber das generelle Problem dahinter wird ja nicht gelöst, nur weil man sich aus dem Raum entfernt, sondern muss ja trotzdem irgendwie bearbeitet werden.

Amine:

Ja, das Problem ändert sich nicht unbedingt, das stimmt. Das ist auch nichts, was wir empfehlen, wenn die Betroffenen zu uns kommen. Da ist es immer so, dass wir versuchen, eine Lösung auf der Ebene zu finden, auf der sie sich befinden. Es sind eher so die Ausnahmen, die eine Lösung in einem Schulwechsel sehen, aber davon raten wir eher ab, auch weil das Schulamt nicht dafür zuständig ist, einen anderen Schulplatz zur Verfügung zu stellen. Da kann man noch so viele Schulen anrufen und nach einem Schulplatz fragen, man findet kaum etwas. In Berlin ist es super schwierig, etwas Geeignetes zu finden und es gibt auch keine Garantie, dass es anders wird. An allen Schulen gibt es in bestimmten Lebenslagen oder Situationen Konflikte.

Maryam:

Das sind ja jetzt schon so ein paar Herausforderungen, die du angerissen hast. Habt ihr denn noch weitere Herausforderungen in eurer Praxis?

Amine:

Wir bemerken, dass es zum Beispiel mit Personen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, in der Kommunikation zu sehr vielen Missverständnissen kommen kann bei Fragen wie: Was ist da genau passiert? Was sind die Absprachen mit der Schule? Es ist aufgrund von Ressourcenmangel nicht immer gegeben, dass ein Sprachmittler oder ein Übersetzer mit im Gespräch sitzt. Manchmal gibt es in der Schule eine Lehrkraft, die dann einspringt, aber das kann man nicht immer gewährleisten. Ein Teil der Eltern, der sich an uns wendet, kennt das deutsche Schulsystem nicht. Auch ich, die hier zur Schule gegangen bin und ihren Uni-Abschluss hier absolviert hat, kannte mich zur damaligen Zeit nicht mit Instanzen wie Schulaufsicht oder Schulamt aus. Da fehlen diese Informationen: Was ist möglich? Was kann man machen? Ich glaube, dass da so ein*e Sprachmittler*in sehr gut wäre, für beide Seiten, weil da einfach sehr viel schieflaufen kann. Das haben wir so mitbekommen.

Maryam:

Ja, das kann ich mir vorstellen, dass sich da dann noch mehr Hürden und Barrieren auftun. Meistens ist es ja schon Zufall, dass wir uns überhaupt verstehen, auch wenn wir alle die gleiche Sprache sprechen.

Amine:

Ja, genau, ob man sich auf einer Wellenlänge befindet. Manchmal bin ich in der Situation der Beraterin, die ins Gespräch geht, aber die dann gleichzeitig auch noch die Übersetzung macht, was eigentlich nicht meine Profession ist. Da sind vielleicht noch mehr wichtige Sätze, die auch noch übersetzt werden müssten, aber die ich überhöre. Das müsste man klar abtrennen, finde ich, und das vermissen wir. Das ist eine Ressourcenfrage, ganz klar. Das andere ist, dass wir uns von der Schulleitung ein stärkeres Einsetzen für die Eltern wünschen würden. Die Schulleitungen sind auch in einem Dilemma: Sie sind angewiesen auf die Lehrkräfte, und Disziplinarmaßnahmen könnten dazu führen, dass Lehrkräfte sich krankmelden oder dass das Verhältnis zur Schulleitung sich verschlechtert. Wir haben keinen Einblick in diese Ebene, aber wir können uns vorstellen, dass das natürlich auch dazu führen kann, dass die Schulleitung sich nicht so sehr für die Eltern und Schüler*innen einsetzt, wie wir uns das wünschen würden. Wir sind natürlich parteiisch, das muss man ganz klar sagen. Manchmal ist es so, dass die Eltern uns etwas erzählen, wir zur Schule gehen und die Lehrkräfte noch weitere wichtige Details erwähnen. Dann bildet sich nochmal etwas ganz Neues, dann schätzen wir auch die Situation nochmal etwas anders ein. Ich würde sagen, dass die Wertschätzung für die Bedürfnisse der Eltern gestärkt werden könnte. Das würden wir uns wünschen, weil wir da immer wieder auf Barrieren stoßen, wo wir auch nicht weiter behilflich sein können.

Maryam:

Ich kann mir vorstellen, dass es sehr nervenaufreibend sein kann, wenn man sich wie du den ganzen Tag mit solchen Fällen befasst und immer wieder sieht: Es bewegt sich nur millimeterweise etwas nach vorne oder man macht wieder drei Schritte zurück. Hast du denn etwas, was dich antreibt? Hast du eine schöne Praxiserinnerung? Etwas, was gut gelaufen ist, wo du dran zurückdenkst und denkst: Da hat es funktioniert, und wenn es da funktioniert hat, könnte es vielleicht nochmal funktionieren?

Amine:

Was mich motiviert ist einfach, dass wir den Personen, die zu uns kommen und sich mitteilen, einen geschützten Raum geben, wo sie ihre Erfahrungen und auch andere Infos, die vielleicht nicht unbedingt zur Schulsituation gehören, vertraulich äußern können, wo man ihnen Wertschätzung gibt und sie sich verstanden und gut aufgehoben fühlen. Das merkt man auch nach dem Gespräch. Es tut uns als Beraterinnen auch sehr gut, zu merken, dass sie das zu schätzen wissen. Wenn wir sie dann auch in der Schule begleiten, fühlen sie sich gestärkt, das ist ganz klar. Wenn da jemand ist, der etwas genauer hinguckt, welche Punkte nochmal besprochen werden sollten und die Mutter oder den Vater stärkt, fühlen sie sich wohler, als wenn sie allein in diese Gespräche gehen. Manche sagen uns auch, dass die Gespräche in Begleitung ganz anders und wertschätzender geführt werden als ohne Begleitung. Das ist wahrscheinlich nicht bei allen der Fall, aber so ein Feedback bekommen wir auch. Es gibt Fälle, wo wir schon glücklich sind, wenn nur kleine Schritte gemacht wurden. Da kann ich ein paar Beispiele nennen. Es gibt den Fall einer alleinstehenden Mutter, wo der Sohn im Klassendurchschnitt nicht mithalten kann und Nachhilfe benötigt. Die Schule hat das für ein Fach organisiert, aber für das andere Fach war das nicht möglich und die Mutter musste das privat bezahlen. Sie hatte ein Schreiben, das die Schule unterschreiben sollte, damit sie das mit dem Sozialamt abrechnen kann. Das wurde nicht gestattet. Es war nicht klar, warum die Schule sich da quer gestellt hat. Wochenlang war das irgendwie überhaupt nicht zu lösen und durch ein Gespräch mit uns wurde das gleich geregelt. Bei dem Fall, wo eine Lehrkraft zwei PoC-Auszubildenden gedroht hat mit: „Wenn ich eine Bazooka hätte, würde ich euch erschießen“ und ihnen auch angedroht hat, sie durch die Prüfung fallen zu lassen, konnten wir durch den Kontakt zur IHK ausschließen, dass er diese zwei Schüler prüft und langfristig will auch die IHK mit ihm als Prüfer nicht mehr weiterarbeiten, weil er noch andere Beschwerden wegen willkürlicher Benotungen in mehreren Klassen bekommen hat und auch wegen verschiedenster Aussagen, die rassistisch einzuordnen sind. Dass dann darüber nachgedacht wurde, inwieweit eine Person, die so befangen ist, die nach Lust und Laune benotet und zu der mehrere Beschwerden vorliegen, als Prüfer*in für einen Ausbildungsabschluss in Frage kommt, hat uns sehr gefreut. Also auch solche Fälle, wo wir nur kleine Schritte machen, sind schon groß für uns. Bei einem anderen Fall hatte ein Grundschüler durch wochenlange Konflikte mit der Klassenlehrerin Ängste entwickelt und war dann auch in therapeutischer Behandlung. Er war supergut integriert in der Klassengemeinschaft, hatte Freunde, aber er hatte eine Dyskalkulie und wurde bei Verständnisfragen immer wieder von der Lehrkraft ignoriert: „Das habe ich schon erklärt, das werde ich nicht nochmal erklären. Du hättest zuhören sollen.“ Oder er wurde bestraft, durfte den Adventskalender nicht öffnen, weil sein Tag auf ein Wochenende fiel. Es gab diverse andere Vorfälle. Weil die Schulleitung auch andere Beschwerden gegenüber dieser Lehrkraft bekommen hat, hatte sie Verständnis dafür, dass da ein Klassenwechsel stattfinden sollte, und hat das auch umgesetzt. Das fanden wir supergut und das war für ihn eine gute Lösung, weil er ein paar Monate vor dem Grundschulabschluss stand und unter diesen Bedingungen keine Bildung mehr genießen konnte.

Maryam:

Du hast gerade eben gesagt, dass solche kleinen Schritte für euch etwas Großes sind. Für mich sind das wahnsinnig große Erfolge, die du da gerade benannt hast. Ich bin ganz gerührt davon, weil ich mir nur vorstellen kann, wie fürchterlich das für die betroffenen Personen sein muss, sich dem tagtäglich auszusetzen und auch so ein Gefühl von Ohnmacht zu empfinden. Umso schöner ist es zu wissen, dass ihr diese Menschen begleitet und dass ihr für sie da seid und ihnen den Rücken stärkt und dann tatsächlich sogar auch noch das Unmögliche möglich macht, nämlich, dass diese Menschen nicht mehr mit diesen Diskriminierungen konfrontiert werden müssen, weil mitunter ein Prüfer nicht mehr eingesetzt wird oder die Klasse gewechselt werden darf. Ich will dir ein ganz großes Kompliment machen, dass das eine sehr inspirierende und auch wahnsinnig wertvolle Arbeit ist, die ihr da macht und die auf jeden Fall weiterhin notwendig sein wird. Ich würde jetzt aus Zeitgründen einfach den Raum öffnen und dir nochmal von ganzem Herzen danken.

Weiterführende Links

ADAS Anlaufstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen in Berlin (adas-berlin.de)

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2016): Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Erste Ergebnisse einer repräsentativen Erhebung und einer Betroffenenbefragung. Online unter: Diskriminierungs-erfahrungen in Deutschland (antidiskriminierungsstelle.de)

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2019): Diskriminierung an Schulen erkennen und vermeiden. Praxisleitfaden zum Abbau von Diskriminierung in der Schule. Online unter: https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Leitfaeden/leitfaden_diskriminierung_an_schulen_erkennen_u_vermeiden.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (PDF)

GEFÖRDERT VON
Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).
Skip to content