In der achten Folge des ufuq.de Couch Talks sprechen wir mit der Islamwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami über den Einfluss historischer Islamdebatten auf heutige Diskurse über Muslim*innen. Welche Funktion erfüllen solche „Diskursexplosionen“ über Minderheiten eigentlich? Und welche Gefahr besteht, wenn gesamtgesellschaftliche Probleme wie Sexismus kulturalisiert werden? Moazami weist in diesem Zusammenhang auf die enge Verflechtung von race, Religion und Säkularismus hin.
Anm. d. Red.: Leider hatten wir bei diesem Video technische Schwierigkeiten, darum ist es stellenweise unscharf. Wir bitten, das zu entschuldigen!
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Untertitel auf YouTube folgen in Kürze.
Transkript zum Video
Maryam Kirchmann:
Hallo und herzlich willkommen zum ufuq.de Couch Talk. Mein Name ist Maryam Kirchmann und ich freue mich ganz besonders, unsere heutige Gästin, Professorin und Doktorin Schirin Amir-Moazami für diese Folge gewinnen zu können. Wir kennen uns eigentlich auch, weil ich bei dir an der Freien Universität Berlin am Institut Islamwissenschaften studiert habe. Umso mehr freue ich mich, dass wir uns heute in diesem Setting wieder treffen. Hast du vielleicht Lust, dich für unsere Zuschauer*innen vorzustellen?
Schirin Amir-Moazami:
Sehr gerne. Ich freue mich auch sehr, hier zu sein. Vielen Dank für die Einladung. Ich bin Politikwissenschaftlerin, Islamwissenschaftlerin am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität Berlin und forsche insbesondere zu Säkularismus, kritischer Rassismusforschung und in den letzten Jahren habe ich auch zunehmend zu postkolonialen Ansätzen in diesem großen Forschungsfeld „Islam in Europa“ gearbeitet.
Maryam Kirchmann:
Schön, dass du da bist. Du bist in dem Bereich „Islam in Europa“ sehr aktiv. Die Diskussionen darum explodieren regelmäßig. Und keine Angst – wir müssen heute nicht über das Kopftuch diskutieren. Viel mehr interessiert mich, was eigentlich hinter diesen Debatten steht? Gibt es in dieser Betrachtung und Bewertung von Muslim*innen in Europa historische Kontinuitäten?
Schirin Amir-Moazami:
Das sind jetzt zwei Fragen. Die eine Frage ist: Was steht dahinter? Im Grunde: Welche Funktion haben eigentlich solche Debatten? Was steht dahinter, dass eine Bevölkerungsgruppe immer ganz besonders im Visier ist? Und die andere Frage ist: Welche historischen Vorläufer gibt es? Welche historischen Kontinuitäten gibt es bei dieser sehr einseitigen Fokussierung auf eine minorisierte Gruppe? Vielleicht fange ich mal mit der zweiten Frage an, und dann komme ich auch zur ersten. Kontinuitäten gibt es auf jeden Fall, im Hinblick auf diesen sehr exzessiven Fokus auf Minderheiten. Wir hatten in Europa, Westeuropa, Osteuropa genauso, immer wieder Minderheitenfragen. Also es gab die Frauenfrage, es gab die Schwarzenfrage. Es gab immer wieder Minderheitenfragen… Es gab die Jüd*innenfrage. Wenn eine Minderheit stark im Visier ist, sowohl als Minderheit, die Anerkennung einfordert, als auch als Minderheit, die suspekt ist, richtet sich eben dieses Rampenlicht immer wieder auf diese Minderheit. Das hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil besteht darin, dass vielleicht eine Minderheit, die ausgegrenzt wird, möglicherweise dann durch diesen Fokus die Möglichkeit hat, eingeschlossen zu werden. Das sehen wir auch bei dem sogenannten Emanzipationsprozess der Jüd*innen im 18./19. Jahrhundert. Da wird auf diese Minderheit, die ausgeschlossen ist, geschaut, die aber eingeschlossen werden soll. Und gleichzeitig ist durch diesen vermeintlichen Einschluss das Rampenlicht nach wie vor auf die Minderheit gerichtet. Das heißt also, es wird alles, was diese Minderheit macht, stärker beäugt als das, was die sogenannte unmarkierte Mehrheit tut. Und diesen Prozess, oder diesen Mechanismus, haben wir eigentlich bei allen möglichen Minderheitenfragen. Diesen Mechanismus finden wir auch bei der sogenannten „muslimischen Frage“, wie ich sie nenne, in Europa jetzt gerade wieder. Das sind zum Beispiel die historischen Kontinuitäten. Wir haben noch sehr viel mehr: Stichwort Kolonialpolitik oder auch imperiale Formationen, wie man es nennen könnte. Dass der Islam auch schon sehr viel früher als suspekte Religion betrachtet wurde – das hat Nachwirkungen auf die Art und Weise, wie der Islam heute betrachtet wird.
Maryam Kirchmann:
Klassifizierungen, also die Kategorisierung von Menschen, sind im alltäglichen Sprachgebrauch fast unvermeidbar. Aber wenn es um Integrationsforderungen geht, ist vor allem in den letzten Jahren der Diskurs explodiert. Ich erinnere mich jetzt gerade daran, dass unser ehemaliger Bundesinnenminister Horst Seehofer 2018 gesagt hatte: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland, aber Muslim*innen schon.“ In diesen Forderungen geht es um die Integration und auch teilweise dann irgendwie auch um die Anerkennung. Ich weiß, dass du dich auch mit dieser partiellen Anerkennung auseinandergesetzt hast. Was ist daran so problematisch?
Schirin Amir-Moazami:
Anerkennung ist erst einmal etwas Positives – das muss man auch festhalten. Im Gegensatz zu Ausgrenzung. Ich möchte das auch wirklich betonen, weil das manchmal in falsche Hälse geraten kann, wenn ich mich kritisch mit Anerkennungspolitiken auseinandersetze. Weil mir dann einige Menschen vorwerfen: „Ist dann die Lösung Ausgrenzung?“ Das ist natürlich nicht die Lösung. Aber wenn wir eben kritische Theorie betreiben oder auch Praxis, dann müssen wir auch schauen, welche blinden Flecken denn in dieser Anerkennungsgeste stecken, welche Mechanismen des Ausschlusses stecken dahinter? Mein Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Anerkennungspolitiken war eigentlich tatsächlich so etwas wie diese Anerkennungsgeste. Nicht, was Horst Seehofer gesagt hatte, sondern was andere vor ihm, Bundesinnenminister, aber auch andere Politiker*innen, gesagt hatten, nämlich: „Der Islam gehört zu Deutschland.“ Das ist natürlich nicht nur ein symbolisches Statement, sondern da steckt eine ganze Politik dahinter: Dass der Islam an den Tisch der Republik geladen wird und sozusagen auch in die soziale Fabrik der deutschen Gesellschaft eingeschrieben werden soll. Was passiert eigentlich in diesem Moment, wo der Staat, auch in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, eine Minderheit an den Tisch der Republik einlädt und gleichzeitig auch die Kriterien festlegt? Erst mal, wer kommen darf, wer sprechen darf, aber eben auch, nach welchen Kriterien überhaupt anerkannt werden kann. Das war mein Ausgangspunkt. Und da hatte ich mich nochmal konkreter ziemlich lange mit der Deutschen Islamkonferenz beschäftigt, weil das ebenso eine ganz klassische Integrations- und Anerkennungspolitik und auch Institutionalisierungspolitik ist. Auch hier wird die Institutionalisierung des Islams, die vorher auch schon stattgefunden hat, nochmal sehr gezielt staatlich gebündelt und auch gesteuert und reguliert. Das ist, wie gesagt, erst mal etwas Positives im Verhältnis zu dem, was vorher passiert ist, nämlich das so genannte Laissez-faire. Man hatte eigentlich gar nichts gemacht.
Maryam Kirchmann:
Du sprichst es gerade schon an. Wenn man sich anschaut, um welche Debatten es da meistens geht, also Ramadan in der Schule oder den Umgang zwischen Jungen und Mädchen, dann gibt es den Anschein, dass das an etwas bemessen wird. Inwiefern kommt es da eigentlich zu einer Diskursverschiebung? Welche Debatten werden da eigentlich auf dem Rücken von Muslim*innen ausgetragen? Und wer legt eigentlich diesen Maßstab fest? Vielleicht kannst du kurz etwas dazu sagen?
Schirin Amir-Moazami:
Das betrifft ein bisschen die Frage, die du auch am Anfang gestellt hast: Warum eigentlich diese Diskursexplosion über Muslim*innen und den Islam in Deutschland und Europa? Ich würde auch sagen, dass das nicht Deutschland-spezifisch ist. Was sind die Funktionen? Warum findet das statt? Natürlich gibt es unterschiedliche Gründe. Ich würde auch nicht verneinen, dass es Probleme mit Sexismus unter Muslim*innen gibt. Das, glaube ich, ist klar. Genauso wie es Probleme mit Sexismus vielleicht unter anderen Gruppierungen auf einer anderen Ebene gibt – unmarkierte Deutsche genauso wie eben andere Religionsgemeinschaften. Das muss man, glaube ich, erst mal festhalten. Diese Probleme müssen thematisiert werden, keine Frage. Weil du den Maßstab jetzt auch benennst, oder nach dem Maßstab fragst: Es wird immer wieder gesagt: „Sexismus, patriarchale Strukturen, aber auch die Unterdrückung der Frauen sind islamspezifisch und wir finden das doch hier auf den Schulhöfen vor.“ Es ist klar, dass damit genau diese patriarchalen Strukturen, in denen wir alle stecken, also auch die unmarkierte weiße deutsche christliche Mehrheit, dass das damit auf die Minderheit verlagert wird. Vor allem, wenn es exzessiv passiert und nur darüber gesprochen wird, bzw. dieser Sexismus kulturalisiert wird. Während Sexismus, der in unserer Gesellschaft in anderen Sphären stattfindet, der eigentlich auch institutionalisiert ist, eben nicht als Phänomen christlicher, säkularer oder deutscher Werte betrachtet wird, sondern es ist sozusagen ein Unfall oder eine Ausnahme.
Und weil du eben auch fragtest: Was ist die Folie? Was passiert eigentlich durch diesen Blick, durch diesen einseitigen Fokus auf die Minderheit? Natürlich findet auch so was statt. Wir können auch sagen: Wie soll denn diese Minderheit werden? Nämlich so, wie wir gerne im Prinzip wären: Die liberale, nicht nur geschlechterneutrale, sondern geschlechtergerechte Gesellschaft, die alles schon geschafft hat, die modernisiert ist, die das Patriarchat hinter sich gelassen hat, existiert schon, wenn wir den Fokus immer wieder auf diejenigen richten, die das eben noch nicht hingekriegt haben.
Maryam Kirchmann:
Eine deiner Thesen ist, dass es nicht ausreicht, nur über Rassismus zu sprechen, sondern dass man ganz genau auf die Kombination oder die Verbindung zwischen Rassismus und Säkularismus eingehen müsse. Kannst du das vielleicht nochmal für unsere Zuschauer*innen erklären?
Schirin Amir-Moazami:
Das ist mir sehr wichtig. Schön, dass du das nochmal erwähnst, denn es wird jetzt sehr viel von antimuslimischem Rassismus geredet. Und es ist auch sehr wichtig, dass wir das thematisieren. Die kritische Rassismusforschung und auch der Diskurs über Rassismus sind langsam aber sicher in der Gesellschaft angekommen. Man kommt nicht mehr umhin, es zu thematisieren. Gleichzeitig wissen wir auch, dass es Widerstände gegenüber der Tatsache gibt, dass wir Feindseligkeit gegenüber Muslim*innen und dem Islam überhaupt als Rassismus und dass wir Rassismus als strukturell und institutionalisiert bezeichnen. Diese Diskussionen sind auch hinreichend bekannt. Da gibt es auch eine rege Auseinandersetzung dazu.
Was mir bei der Diskussion ein bisschen zu kurz kommt, ist das Verhältnis von Rassismus und Säkularismus und damit auch das Verhältnis von race oder von Rasse und Religion als Differenzkategorien. Als moderne Differenzkategorien, die im Prinzip zum selben Zeitpunkt entstanden sind. In dem Moment, in dem Rasse als Hierarchisierungmodus entstanden ist, um die weiße Dominanzgesellschaft in ihren Ausbeutungsmechanismen zu legitimieren, in demselben Moment ist auch Religion als Differenzkategorie und Hierarchisierungskategorie entstanden. Und das hat Nachwirkungen. Antimuslimischer Rassismus, wenn wir es überhaupt so nennen möchten – ich bin nicht immer ganze hundert Prozent von dieser Kategorisierung überzeugt – Rassismus, sagen wir jetzt mal allgemein, der sich gegen eine bestimmte Religionsgemeinschaft richtet: Wenn wir das ernst nehmen wollen, dann können wir diese Genealogie von der Verflechtung von Rasse und Religion nicht außer Acht lassen, weil es nicht darum geht, dass es eine ethnisierte oder rassifizierte Minderheit gibt, die quasi natürlich als religiöse Minderheit betrachtet wird. Sondern es geht auch um Glaubenspraktiken und um Körperpraktiken, die damit zusammenhängen, dass es ein bestimmtes Verständnis von Religion gibt, also was „richtige“ Religion ist, was gute Religion ist, wie Religion zu sein hat im öffentlichen Raum, ob sie sichtbar sein kann oder ob sie unsichtbar sein soll. Alles wieder unter der Prämisse, dass christliche Symbole, christliche Körperpraktiken, das eingeschrieben christliche in unserer Gesellschaft damit nicht thematisiert wird.
Maryam Kirchmann:
Nun hat sich in den letzten Jahren viel verändert. Was ist dein Eindruck? Wo stehen wir gerade, wenn es um die Debatten um Muslim*innen in Deutschland geht?
Schirin Amir-Moazami:
Das ist eine sehr große Frage. Um es so kurz wie möglich zu machen: Ich sehe unterschiedliche Diskurse teilweise nebeneinander herlaufen. Wenn wir es mal mit diesem Fortschritts-/Rückschrittsnarrativ überhaupt beschreiben wollen – ich bin da immer ein bisschen skeptisch – sehe ich sehr viele, sehr interessante und sehr wichtige Fortschritte. Und ich sehe aber auch sehr viele erschreckende Rückschritte. Das klingt jetzt so ein bisschen wie so eine Platitüde, aber was ich eigentlich meine, ist zum Beispiel, dass wir jetzt das Thema Rassismus in unserer Gesellschaft sehr viel stärker behandeln. Und das ist im Moment noch ein bisschen zäh und funktioniert noch nicht so, wie es funktionieren könnte. Wenn wir es vergleichen mit den Debatten in anderen europäischen Ländern, Großbritannien z.B., das ist immer so das Beispiel, wo man irgendwie sieht, dass da einfach längst andere Debatten geführt werden, aber immerhin fängt da was an. Es geht dann auch sehr stark um Muslim*innen, die auch rassifiziert sind oder die auch unter der säkularen Ordnung zu leiden haben, sich da irgendwie einfügen müssen – das ist auch Teil des Problems. Das wird so allmählich thematisiert und dann haben wir nicht nur Debatten, sondern auch massenweise rassistische Übergriffe, die auch nicht aufhören und die sich nicht dadurch auflösen, dass darüber gesprochen wird.
Maryam Kirchmann:
Ich möchte mich wirklich ganz herzlich bei dir bedanken, dass du dir die Zeit genommen hast, und freue mich, dass ihr wieder beim ufuq.de Couch Talk dabei wart. Bis zum nächsten Mal!