Was verbinden Menschen mit Migrationsbiographien mit dem Tag der Deutschen Einheit? Diese Frage spielt in der öffentlichen Debatte über die Deutsche Einheit in aller Regel keine Rolle. Dabei lässt sich der Ausspruch von Alt-Kanzler Willy Brandt, „es wächst zusammen, was zusammengehört“ (Willy Brandt, 10.11.1989), auch aus der Perspektive von Menschen mit Migrationsbiographien betrachten. Im Folgenden finden Sie einige Anregungen von Götz Nordbruch, um den Tag der Deutschen Einheit in der Migrationsgesellschaft im Unterricht zu behandeln.
Seit dem Fall der Mauer hat sich viel getan, dennoch unterscheiden sich die Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland bis heute. Ähnliches gilt für den Stand der Migrationsgesellschaft: Die Liberalisierung des Staatsbürgerschaftsrechtes, das wachsende Selbstverständnis als Einwanderungsgesellschaft oder die staatliche Förderung der Islamischen Theologie an den Universitäten sind nur einige der Beispiele, wie sich der Umgang mit Migration und Islam in den vergangenen Jahren zum Positiven verändert hat. Die Erfolge von rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien und der Anstieg rassistischer Anfeindungen und Gewalttaten stehen für die andere Seite der Medaille.
Nichtanerkennung als gemeinsame Erfahrung von Ostdeutschen und Migrant_innen?
Die Berliner Migrationsforscherin Naika Foroutan hat kürzlich mit provokanten Thesen eine Diskussion angestoßen, in der es auch um die Deutung der Deutschen Einheit und deren Folgen geht. Dabei sieht sie Parallelen zwischen den Erfahrungen von Menschen mit Migrationsbiographien und Menschen in Ostdeutschland:
„Sehr viele Erfahrungen, die Ostdeutsche machen, ähneln den Erfahrungen von migrantischen Personen in diesem Land. Dazu gehören Heimatverlust, vergangene Sehnsuchtsorte, Fremdheitsgefühle und Abwertungserfahrungen. Mich irritiert, dass darüber bis jetzt nicht gesprochen wird. (…) Ostdeutsche sind irgendwie auch Migranten: Migranten haben ihr Land verlassen, Ostdeutsche wurden von ihrem Land verlassen. Das setzt ähnliche Prozesse in Gang, beispielsweise die Verschönerung der Erinnerung. Dieses Festhalten an einer idealisierten Vergangenheit haben wir auch bei vielen Migranten. Auch die Erfahrung, sich für seine Herkunft zu schämen. Die Ankunft ist auch deswegen erschwert, weil die Anerkennung fehlt.“ (Naika Foroutan, www.taz.de, 13.05.2018)
Foroutan erhielt für ihre Thesen viel Zuspruch, aber auch Kritik. So erklärte die Autorin Fatma Aydemir in einem Bericht des NDR über die Debatte:
„Heimatverlust mag bestimmt eine große Rolle spielen für viele Ostdeutsche, und mir sind auch die strukturellen Benachteiligungen bewusst, die Ostdeutsche erfahren, aber es ist nicht dasselbe wie die Ausgrenzung, die Migranten erfahren. (…) Die Sache ist halt, dass ein Ostdeutscher niemals um seinen Aufenthaltsstatus in diesem Land fürchten muss. Eine ostdeutsche Person müsste sich nicht so sehr Gedanken machen um ihre körperliche Unversehrtheit, wenn sie an bestimmte Orte reist, wo Menschen einfach grundlos oder aufgrund ihrer Herkunft, aufgrund ihres Aussehens angegangen werden.“ (Yasemin Ergin, www.ndr.de, 11.06.2018, auch als Video mit 5:25 Länge)
1989 und die Anschläge von Mölln und Solingen: „die“ gegen „uns“
Für den koreanischstämmigen Politikwissenschaftler Martin Hyun steht der Fall der Mauer nicht zuletzt für fortwährende Vorbehalte und Ressentiments gegenüber Menschen mit Migrationsbiographien. In einem Beitrag zum Tag der Deutschen Einheit schrieb er:
„Am Tag der Deutschen Einheit ist mir nicht zum Feiern zumute. Ich bin deutscher Staatsbürger. Doch mit diesem Tag habe ich nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil, er hält mir vor Augen, wie groß die Diskrepanz zwischen den Einheimischen und den Menschen mit Migrationshintergrund geworden ist. Denn sie, die einstigen Gastarbeiter und deren Nachfahren, sind noch immer nicht zusammengewachsen mit dem, was zusammengehört. Und solange die Geschichte der Gastarbeiter im nationalen Gedächtnis keine Rolle spielt, als Geschichte der jeweiligen Entsendeländer abgetan wird und eben nicht als ‚deutsche Geschichte‘ angesehen wird, solange wird der dritte Oktober nicht mein Tag der Deutschen Einheit sein.“ (Martin Hyun, www.deutschlandfunkkultur.de, 02.10.2012)
Dies sieht der Journalist Deniz Yücel ganz ähnlich. Anlässlich eines Wohnungsbrandes in Ludwigshafen im Februar 2008, bei dem neun türkeistämmige Menschen umkamen, erinnerte Yücel an die rassistischen Anschläge zu Beginn der 1990er Jahre, die auf den Fall der Mauer und die Wiedervereinigung folgten. Mit Blick auf die Anschläge dieser Jahre spricht Yücel von einem „Trauma von Mölln“, von dem deutschtürkische Jugendliche seiner Generation auch Jahre später geprägt seien:
„Besonders traumatisch waren diese Anschläge für die erste hier aufgewachsene Generation von Einwandererkindern, meiner Generation. (Die Anschläge von) Mölln und Solingen lehrten uns, dass wir bedroht waren. Dass man uns hier nicht wollte. Dass es überhaupt ein Uns gab. Für einen – um mit Feridun Zaimoglu zu sprechen – ‚Abiturtürken‘ wie mich war das keineswegs selbstverständlich. Von meinen Eltern und meinen autonomen Freunden hatte ich gelernt, dass die Grenzen nicht zwischen den Völkern verliefen, sondern zwischen oben und unten. Bei anderen war das Lebensgefühl nicht derart in Welterklärungen eingebunden. Doch das Ergebnis war dasselbe: Wir sahen uns vielleicht nicht als Deutsche, aber auch nicht als Türken und erst recht nicht als Fremde. Plötzlich war das egal. Denn sie sahen uns als Türken.“ (Deniz Yücel, www.taz.de, 10.02.2008)
Tag der Deutschen Einheit – Tag der offenen Moschee
Jedes Jahr am 3. Oktober veranstaltet der Koordinierungsrat der Muslime den „Tag der offenen Moschee“. Der Tag wurde von den Initiator_innen bewusst gewählt, um die Zugehörigkeit von Muslim_innen zur Gesellschaft herauszustellen:
„Im Jahre 1997 begann das Projekt Tag der offenen Moschee in Deutschland. (…) Der TOM ist zum Sinnbild der offenen Moschee geworden. Sehr viele Menschen kennen und schätzen ihn als Zeichen für selbstverständliche Partizipation und Offenheit. (…) Als Basisprojekt hat der TOM einen starken lokalen Bezug. Daher finden sich an diesem Tag kommunale Akteure aus vielen unterschiedlichen Bereichen zusammen – Vertreter aus Politik und Gesellschaft, genauso wie aus Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften. Der TOM hat seit seiner Initiierung mehr als eine Million Menschen zusammengebracht. Sie alle haben einen wichtigen Beitrag für ein gelingendes und friedvolles Zusammenleben in Deutschland geleistet.“ (Koordinierungsrat der Muslime, 20 Jahre Tage der offenen Moschee, 2016; pdf)
Dennoch ist die Bilanz nach mittlerweile über 20 Jahren Tag der offenen Moschee durchwachsen, wie in einer Reportage von Abdul-Ahmad Rashid für das „Forum am Freitag“ deutlich wird. (Forum am Freitag, zdf.de, 06.10.2017, auch als Video mit einer Länge von 14:51)
Darin beschreibt Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, die Schwierigkeit, die über Jahre gewachsenen Moscheen aus den Hinterhöfen herauszuholen und in der Gesellschaft sichtbar zu machen. Dabei sei auch ein Umdenken der Gemeinden selbst vonnöten. So sei beispielsweise die Aufsplitterung der Moscheenlandschaft in eine Vielzahl kleiner Moscheen für Menschen bestimmter Herkunftsländer nicht mehr zeitgemäß.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten um die Eröffnung der DITIB-Moschee in Köln und den Besuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyib Erdoğan lässt sich darüber diskutieren, inwiefern das ursprüngliche Ziel der Initiator_innen, die Zugehörigkeit der Muslim_innen zur Gesellschaft herauszustellen, bereits verwirklich ist – und welche Vorbehalte sowohl auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft als auch unter (Deutsch-)Türk_innen gegenüber einer solchen „Einbürgerung“ des Islams fortbestehen. Auf beiden Seiten gibt es viele, die eine Zugehörigkeit von Muslim_innen zur Gesellschaft in Frage stellen.
So kritisiert der Publizist Eren Güvercin anlässlich der Eröffnung der Moschee in Köln und des Erdoğan-Besuches auch die großen Verbände, die in der Vergangenheit zu wenig dafür getan hätten, dass sich Muslim_innen auch als Deutsche sehen würden. Mit Blick auf führende Vertreter_innen von türkischgeprägten Verbänden wie der DITIB und der Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) spricht er von „türkischen Identitären“, die sich ähnlich wie die AfD einer Zugehörigkeit von Muslim_innen in der Gesellschaft entgegenstellen und stattdessen türkischnationalistische Positionen beförderten. Auf Twitter schreibt er:
„Es gibt ja immer wieder einige Menschen, die darauf allergisch reagieren, wenn ich mich als #DeutscherMuslim bezeichne. Etwa Leute aus dem #AfD-Umfeld, die in deutsch und muslimisch einen Widerspruch und das Feindbild #Islam als zentralen Bestandteil ihrer Ideologie ansehen. Aber auch türkische Identitäre denken in ähnlichen Schubladen. Sie sehen in der Selbstbezeichnung #DeutscherMuslim einen Verrat, eine Leugnung der Herkunft. Sie denken in ähnlichen Schablonen und pflegen ähnliche Feindbilder wie ihre deutschen Gesinnungsbrüder. (…) #DeutscherMuslim, weil wir als selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft Verantwortung für diese unsere Gesellschaft übernehmen, geistig hier beheimatet sind, keine Befehlsempfänger einer externen Diasporapolitik sind und Brücken bauen wollen, statt Ressentiments zu schüren. Wenn sich #AfD, türkische Identitäre und andere Akteure, die nur Zwietracht säen wollen, sich davon provoziert fühlen, dann ist das auch gut so. Diese Auseinandersetzung muss man dann führen.“ (Eren Güvercin, www.twitter.com, 30.09.2018)