Von traditionell über konservativ bis liberal – Heterogene Einstellungen zu Sexualität bei jungen Muslim*innen
29. Juli 2021 | Gender und Sexualität, Religion und Religiosität

Der Islam wird von Muslim*innen wie Nichtmuslim*innen oft mit repressiven Moralvorstellungen in Verbindung gebracht. Eine differenzierte theologische Auseinandersetzung mit Sexualität findet nur selten statt. In ihrem Beitrag erklärt Fahimah Ulfat, Professorin für Islamische Religionspädagogik, welchen Umgang junge Muslim*innen in Deutschland mit Sexualität finden, auf welche Spannungsverhältnissen sie dabei stoßen und welche Denkanstösse islamische Religionspädagogik geben kann.

Muslim*innen hatten in der Vergangenheit ein relativ offenes Verhältnis zur Sexualität. Im 19. Jahrhundert hat sich allerdings ein Wandel vollzogen. Das liegt unter anderem daran, dass durch den Kolonialismus eine prüde Sexualmoral in muslimisch geprägte Gesellschaften Einzug gefunden hat. Aber auch die Ideologisierung des Islams hat dazu geführt und noch weitere historische Ereignisse. Allein die Literatur bildet diesen Wandel ab (vgl. Ghandour 2019). Vor dem 18. Jahrhundert haben muslimische Gelehrte sowohl den Koran kommentiert als auch ausführlich über Erotik geschrieben, wie zum Beispiel der Gelehrte Dschalal ad-Din as-Suyuti.

Wenn man sich heute Webseiten zum Thema Sexualität „im Islam“ anschaut, findet man zahlreiche Seiten, in denen Sexualität mit vielen Verboten versehen wird und diese Verbote mit „dem Islam“ begründet werden. So wird zum Beispiel Masturbation häufig als sündhaft, schmutzig und verboten dargestellt. Dieses und andere Beispiele zeigen eine Sexualethik, die durch eine rigide Verbotsmoral und Tabuisierung gekennzeichnet ist und die Normen festlegt, bei deren Nichteinhaltung mit göttlichen Sanktionen bestraft wird. Sie hat ihre Wurzeln in einer repressiven Sexualmoral, die aus konservativen, kulturellen und religiösen Diskursen hervorgegangen ist. Eine differenzierte und theologische Auseinandersetzung mit der Thematik ist weder im Internet noch in der Familie noch in der Moschee selbstverständlich. Die Jugendlichen werden vielfach im Stich gelassen.

Wie lassen sich Einstellungen junger Muslim*innen in Deutschland zur Sexualität heute beschreiben?

Sexualität spielt aber gerade in der Jugendphase eine wichtige Rolle, denn die Geschlechtsreife entwickelt sich in dieser Phase und damit auch ein neues Lebensgefühl. Die körperlichen Veränderungen bringen viele Fragen und Neugier mit sich, Sexualität und sexuelle Selbstbestimmung sind zentrale Werte der Identitätsbildung.

In manchen streng konservativen Familien wird Sexualität zum Teil tabuisiert, sie wird mit Scham und Respekt verbunden, daher findet in solchen Familien kaum eine Sexualaufklärung statt. Jungfräulichkeit vor der Ehe (Virginitätsnorm) gilt als ein unumstößliches Gebot, das insbesondere für junge Frauen gilt. Zum Teil wird ein enger Zusammenhang zwischen Jungfräulichkeit und Ehre hergestellt. Mit dem Konzept der Familienehre gehen geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen einher. In traditionellen Vorstellungen gilt die Jungfräulichkeit der Frau als Indikator für das Ansehen der Familie. Die Frau kann die Familienehre schützen, wenn sie sich korrekt kleidet, ihre Keuschheit wahrt, sich zurückhaltend verhält und erst aus der Wohnung der Eltern auszieht, wenn sie heiratet. In dieser Hinsicht liegt das sexuelle Verhalten von Mädchen nicht in ihrem eigenen Entscheidungsspielraum und wird kontrolliert (vgl. Müller 2006; Kondzialka 2005).

Bei einem Teil der muslimischen jungen Männer verhält es sich anders: Die Virginitätsnorm ist für sie eher theoretisch obligatorisch. Das Sammeln sexueller Erfahrungen vor der Ehe wird geduldet, meist wird aber in der Familie nicht darüber gesprochen. Auch für diese jungen Männer ist das Gespräch mit dem Vater über Sexualität ein Tabu, weil es für sie eine Respektlosigkeit ausdrückt  (vgl. Schäfer/Schwarz 2007; Toprak 2005).

Gleichwohl gibt es muslimische Jugendliche, die die Tabuisierung des Diskurses kritisieren, auch wenn sie die kulturellen und traditionellen Vorstellungen über Sexualität nicht infrage stellen: Sie verneinen Sexualität vor der Eheschließung auf der Grundlage ihres Verständnisses des Islam, äußern sich aber kritisch zu der Einstellung, dass Männern zugebilligt wird, sexuelle Erfahrungen vor der Ehe zu sammeln, jedoch von Mädchen und Frauen erwartet wird, jungfräulich in die Ehe zu gehen. Sie verurteilen also die starren Geschlechterrollen und die unterschiedliche Sexualmoral in Bezug auf die Geschlechter. Die Definition der Ehre des Mannes über das Verhalten der Frau und die dadurch resultierende soziale Kontrolle der Sexualität und des Verhaltens der Frau wird von einem Teil der muslimischen Jugendlichen vehement abgelehnt. Insofern ist bei diesen muslimischen Jugendlichen ein Wandel erkennbar: Sie wollen offen über Sexualität sprechen und erheben einen Anspruch auf eine Partnerschaft, die auf Gleichheit und eine erfüllte Sexualität in der Ehe gerichtet ist (vgl. Toprak 2014; Ziebertz/Coester/Betz 2010).

Es gibt auch muslimische Jugendliche, die ihre Sexualität als ihre private Angelegenheit ansehen. Sexualität ist für sie ein selbstverständlicher Teil der persönlichen Identität. Aufklärung findet innerhalb der Familie relativ früh in einer offenen Art statt. Ehre wird von den Eltern nicht am Sexualleben der Tochter festgemacht. Treue und Zusammenhalt stehen in einer Partnerschaft im Mittelpunkt. Es gibt auch Beispiele für junge Musliminnen, die sich nicht an die Virginitätsnorm halten und sexuelle Erfahrungen außerhalb der Ehe sammeln (vgl. Toprak 2014; Boos-Nünning/Karakaşoğlu 2006).

Welche Spannungsverhältnisse werden sichtbar?

Muslimische Jugendliche befinden sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Tabuisierung und Liberalisierung von Sexualität. Durch die Sozialisation und ihre Erfahrungen in Deutschland können die Jugendlichen eine Diskrepanz zwischen dem offenen und liberalen Umgang mit der Sexualität in der deutschen Mehrheitsgesellschaft und den lebensweltlichen Gewohnheiten der Kultur der Herkunftsländer ihrer Familien oder dem traditionellen Wertesystem ihres muslimischen Milieus erleben. Meist werden diese Wertesysteme auf den Islam zurückgeführt und es wird nicht zwischen religiösen und kulturellen Normen und Werten unterschieden.

Eine weitere Diskrepanz kann zwischen dem Wunsch nach Selbstbestimmung einerseits und den Erwartungen des kulturellen und religiösen Umfeldes andererseits wahrgenommen werden. Der eigenverantwortliche liberale Umgang mit der Sexualität kann auch auf eine durch Verbotsethik geprägte Sexualmoral prallen. Das führt zur individuellen Auseinandersetzung mit den divergierenden Wertvorstellungen, was wiederum zu facettenreichen Lebensentwürfen mit unterschiedlich modifizierter Sexualmoral bei den muslimischen Jugendlichen führt. Problematisch wird es, wenn die Wertesysteme oder die Sexualmoral der eigenen Familie oder Community dazu führen, dass Tradition, Kultur und Religion nicht mehr unterschieden werden, überholte Vorstellungen als überzeitlich gültig angesehen werden und somit auf „den“ Islam zurückgeführt und nicht hinterfragt werden.

Wie kann Islamische Religionspädagogik auf diese Spannungsverhältnisse reagieren?

In diesem Spannungsfeld spielt Wissen eine entscheidende Rolle, sowohl was die biologische als auch die theologische Seite der Sexualität betrifft. Das Wissen über biologische Sachverhalte, Körperlichkeit, sexuelle Vielfalt usw. ist freilich Teil des Biologieunterrichts. Im Religionsunterricht ist dieses Thema jedoch keineswegs irrelevant, denn das Wissen über Sexualität und Sexualaufklärung ist ein wesentlicher Bestandteil von Selbstbestimmung und Mündigkeit.

Im Islamischen Religionsunterricht ist es notwendig, dass die Schüler*innen erkennen, dass Sexualität ein Teil des Menschseins ist und es wichtig ist, die eigene Sexualität nicht zu unterdrücken, sondern sich über den eigenen Körper bewusst zu werden und sich ein Bild von den eigenen Genitalien und dem Körperinneren zu machen, d.h. seinen eigenen Körper zu erfahren.

Weiterhin ist es ein wesentliches Lernziel, zwischen Tradition, Religion und Kultur zu unterscheiden, das heißt, sich kritisch mit verschiedenen klassischen und gegenwärtigen Positionen, Normen und Moralvorstellungen gegenüber Sexualität auseinanderzusetzen und sie in ihrem historischen uns sozialen Kontext zu verstehen. Dann wird deutlich, dass nicht „der“ Islam eine bestimmte Sexualmoral vorschreibt, sondern dass diese aus theologischen und rechtlichen Positionen von Menschen hervorgegangen ist, mit ihrem jeweiligen Kontext und Wissensstand in Verbindung steht und keine überzeitliche Gültigkeit hat.

Darüber hinaus ist es essenziell, mit den Schüler*innen zeitgemäße theologische Positionen zu erörtern und zu entwickeln, dabei vor allem Forschungen aus der aktuellen Sexualwissenschaft in die Diskussion einzubeziehen (vgl. Sigusch 2013).

So können für die Schüler*innen Räume geschaffen werden, in denen sie die eigene Sexualmoral und die eigenen Weiblichkeits- und Männlichkeitsentwürfe hinterfragen, aushandeln und sogar neu entwerfen können und sich gegen vorherrschende Mythen oder Vorstellungen, die bei ihnen Konflikte, Schuldgefühle und Glaubenskrisen auslösen können, religiös positionieren .

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Webseite von RISE  – Jugendkulturelle Antworten auf Islamistischen Extremismus. Wir danken RISE und der Autorin für ihre Erlaubnis, den Beitrag wiederveröffentlichen zu dürfen.

Literatur

Boos-Nünning, Ursula/Karakaşoğlu, Yasemin (2006). Viele Welten leben: Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund. 2. Aufl. Münster: Waxmann.

Ghandour, Ali (2019). Liebe, Sex und Allah: Das unterdrückte erotische Erbe der Muslime. München: C.H.Beck.

Kondzialka, Heidi (2005). Emanzipation ist Ehrensache: Netzwerkbeziehungen, Sexualität und Partnerwahl junger Frauen türkischer Herkunft. Marburg: Tectum-Verl.

Müller, Annette (2006). Die sexuelle Sozialisation in der weiblichen Adoleszenz: Mädchen und junge Frauen deutscher und türkischer Herkunft im Vergleich. 1. Aufl. Münster: Waxmann.

Schäfer, Franziska/Schwarz, Melissa (2007). Zwischen Tabu und Liberalisierung – Zur Sexualität junger Muslime. In: Wensierski, Hans-Jürgen von/Lübcke, Claudia (Hrsg.), Junge Muslime in Deutschland: Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 251–281.

Sigusch, Volkmar (2013). Sexualitäten: Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten. Frankfurt: Campus Verlag.

Toprak, Ahmet (2005). Das schwache Geschlecht – die türkischen Männer: Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre. Freiburg im Breisgau: Lambertus.

Toprak, Ahmet (2014). Türkeistämmige Mädchen in Deutschland: Erziehung – Geschlechterrollen – Sexualität. Freiburg im Breisgau: Lambertus.

Ziebertz, Hans G./Coester, Helene/Betz, Andrea (2010). Normierung von Sexualität und Autonomie. Eine qualitative Studie unter christlichen und muslimischen Mädchen. In: Ziebertz, Hans G. (Hrsg.), Gender in Islam und Christentum: Theoretische und empirische Studie. 1. Aufl. Berlin: LIT, S. 207–247.

Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX)
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