Das Misstrauen wächst: Engagierte Muslim_innen in der Kritik
12. April 2017 | Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung

In den vergangenen Monaten gerieten gleich mehrere muslimische Vereine in die Kritik, ebenso wie einzelne Organisationen, die im Bereich der Prävention tätig sind. Der Vorwurf: eine Nähe zu islamistischen Ideologien und Bewegungen. Anders als in der Diskussion um die DITIB und den Einfluss der türkischen Regierung auf hiesige Gemeinden richten sich diese Vorwürfen vor allem gegen Vereine und Initiativen von jungen Muslim_innen, die sich in der Gesellschaft engagieren. Wieso geraten sie gerade jetzt unter Druck? Ein Beitrag zur Debatte von Götz Nordbruch und Julia Gerlach.

Der Jubel war groß, als der Verein NourEnergy e.V. Ende letzten Jahres mit dem Publikumspreis der Energiefirma ENTEGA für sein Engagement im Umweltschutz ausgezeichnet wurde. NourEnergy ist nach eigenen Angaben die älteste Umweltinitiative, die von Muslim_innen in Deutschland gegründet wurde. „Wir freuen uns unendlich und sind so unbeschreiblich dankbar, dass wir diesen Erfolg erreichen durften“, erklärte der Verein anlässlich der Preisverleihung. Mit ihnen freuten sich viele Muslim_innen, die gesellschaftlich aktiv sind, denn der Preis galt ihnen als Bestätigung, dass das Engagement von Muslim_innen mittlerweile auch öffentlich gewürdigt wird. Kurz darauf erschienen Berichte, die NourEnergy e.V. mit dem vom Verfassungsschutz beobachteten Bilal-Zentrum in Darmstadt in Verbindung bringen. Die Hintergründe wurden nur angedeutet und wurden später weitgehend entkräftet, aber der Verdacht reichte, um die Verantwortlichen bei ENTEGA nervös zu machen. Unterstützung von „Radikalen“ will sich niemand vorwerfen lassen, ENTEGA widerrief die Preisvergabe an NourEnergy, ohne mit der Initiative selbst das Gespräch zu suchen.

Kurz darauf geriet der Verein Violence Prevention Network (VPN) in die Kritik, der in Hessen im Auftrag der Landesregierung Präventions- und Deradikalisierungsarbeit leistet. VPN ist kein muslimischer Verein, er beschäftigt aber viele jüngere muslimische Mitarbeiter_innen, die Beratungen und Fortbildungen durchführen. Wieder ging es um den Vorwurf, einzelne Mitarbeiter_innen unterhielten selbst Kontakte zu islamistischen Kreisen und verträten islamistische Positionen. Die VPN-Geschäftsführung geriet unter Druck und suspendierte sie vorläufig. Das Innenministerium prüfte die Anschuldigungen. Sie erwiesen sich als haltlos und die Mitarbeiter_innen kehrten auf ihre Stellen zurück. Natürlich ging dies nicht spurlos an den Betroffenen vorbei.

Es gibt einen Unterschied zwischen wichtiger, kritischer Berichterstattung und Misstrauen

Die Kritik trifft auch Personen, die politisch aktiv sind und dabei auch als Muslim_innen auftreten – zum Beispiel die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli. In einem Interview mit der FAZ hatte Chebli beiläufig erklärt, sie halte die Scharia für „absolut kompatibel“ mit dem Grundgesetz. Die Aussage deckt sich mit dem Verständnis des Begriffes, wie er unter anderem von islamischen Theologen wie Bülent Ucar oder Mouhanad Khorchide vertreten wird. Die Scharia steht aus ihrer Sicht eben nicht für ein fixes Gesetz mit rigiden Strafen, sondern für einen Werte- und Normenkanon, der sich im heutigen Kontext problemlos im Sinne von Grundwerten wie Pluralismus, Demokratie und Gleichberechtigung interpretieren lasse. Für die meisten Muslim_innen ist dies eh Alltag, sie orientieren sich an den Werten und Normen des Islams, ohne dass dies im Widerspruch zu einer Zustimmung zum Grundgesetz stünde. Dennoch wurde Chebli von Kritiker_innen unterstellt, sie stelle religiöse Überzeugungen über das Grundgesetz und stehe damit für einen „politischen Islam“.

Was verbirgt sich hinter diesen Vorwürfen, warum werden sie gerade jetzt geäußert und wieso trifft es vor allem Vereine und Initiativen von jungen Muslim_innen, die sich eben nicht in eine „Parallelgesellschaft“ zurückziehen, sondern sich im Gegenteil selbstbewusst in die Öffentlichkeit einbringen?

Aus der Nische in die Talkshow

Ein Blick in die Geschichte von Vereinen in Deutschland, in denen Muslim_innen aktiv sind, macht deutlich, wie sehr sich die Gesellschaft verändert hat – und welche Vorbehalte diese Veränderungen auslösen. Anders als noch vor 20 Jahren sind Muslim_innen heute auch in solchen Bereichen sichtbar, in denen sie lange Zeit nur am Rande eine Rolle spielten. Dies betrifft Medien und Bildung genauso wie Politik und Wissenschaft, und damit Bereiche, die die Gesellschaft unmittelbar gestalten. Dabei sind Vereine und Initiativen, die von Muslim_innen gegründet wurden, keineswegs neu. Schon in den 1960er und 1970er Jahren entstanden Vereine und Initiativen, die von Arbeitsmigrant_innen der ersten Generation getragen wurden. Im Mittelpunkt standen oft nicht religiöse Belange, sondern vor allem kulturelle und politische Aktivitäten, die sich an den Herkunftsländern ihrer Mitglieder orientierten. Sie bewegten sich in einer Nische, die auch räumlich oft auf Hinterhöfe beschränkt blieb. In der Öffentlichkeit wurden sie ansonsten kaum wahrgenommen, im Alltag der Mehrheit der Bevölkerung blieben sie weitgehend unsichtbar.

Erst um die Jahrtausendwende wurden der Islam und damit auch Muslim_innen zu einem innenpolitischen Thema. Die Anschläge im September 2001 verstärkten die Angst vor islamistischer Gewalt, die vielfach in Misstrauen und offenen Rassismus umschlug. Zugleich veränderte sich das Selbstverständnis: In Deutschland aufgewachsene Muslim_innen sahen sich immer weniger als „Ausländer_innen“, sondern als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft, und forderten Anerkennung und Teilhabe. Die Reform des Staatsbürgerrechts im Jahr 2000 gab vielen erstmals formal die Möglichkeit, dazuzugehören.

Die Muslimische Jugend Deutschland ist einer der Vereine, die in dieser Zeit an Bedeutung gewannen und unter dem Motto „jung, deutsch und muslimisch“ in die Öffentlichkeit gingen – und damit erstmals ausdrücklich für eine Anerkennung als muslimische Deutsche eintraten. Der oft – und nicht zu Unrecht – geäußerten Kritik, Verbände wie die DITIB oder die IGMG würden an den Herkunftsländern der Eltern und Großeltern verhaften bleiben und damit einer Identifikation und Teilhabe in Deutschland entgegenwirken, setzte der Verein ein selbstverständliches Bekenntnis zur Gesellschaft entgegen, ohne dabei das Religiöse zu verleugnen.

In den Diskussionen über Einwanderungsgesellschaft und Leitkultur, die in diesen Jahren Feuilleton und Politik beschäftigten, galt ein solches Selbstverständnis als Beleg für eine „Abschaffung“ der Gesellschaft, wie sie einige Jahre später in den rassistischen Thesen Thilo Sarrazins nur besonders zugespitzt beklagt wurde. Statt die Forderung nach einer säkularen Lebensweise anzunehmen, stand die MJD für eine fromme, zugleich sehr trendbewusste und oft auch politische Jugendkultur.

Auch der Verein ufuq.de, der seit 2007 in der politischen Bildung und Präventionsarbeit aktiv ist, stand einigen dieser Initiativen lange kritisch gegenüber. Tatsächlich gab es gute Gründe, die Ziele einiger dieser Initiativen zu hinterfragen. „Der Islam ist nicht die Lösung“ schrieben wir in einem Kommentar über die neu entstehende islamische Jugendarbeit, in dem wir das Religionsverständnis dieser Vereine kritisierten. Publikationen aus diesem Umfeld standen nicht selten für eine Pädagogik der Angst, in der Jugendliche mit Warnungen vor dem Teufel und der Hölle zu „richtigem“ Verhalten gedrängt werden. Einige dieser Vereine entstanden im Umfeld islamistischer Gruppierungen, deren Weltbilder im Widerspruch zu einer offenen und pluralistischen Gesellschaft stehen. Dies spiegelte sich zum Beispiel in personellen Verbindungen zum Umfeld der Muslimbruderschaft, der in der Gründungsphase einiger Vereine eine wichtige Rolle zukam. In einzelnen Fällen zeigten sich diese Verbindungen auch in inhaltlichen Aussagen, in denen antidemokratische, frauenfeindliche oder antisemitische Positionen formuliert wurden. Vereine wie die MJD gerieten so ins Visier des Verfassungsschutzes, was eine Zusammenarbeit mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren weitgehend unmöglich machte.

Seitdem sind fast 15 Jahre vergangen und die Ausrichtung und Zusammensetzung vieler dieser Vereine hat sich verändert – und werden mittlerweile selbst vom Verfassungsschutz bestätigt. So gelang es dem Berliner Verein Inssan e.V. als einem der ersten, das Stigma der Beobachtung zu überwinden. Auch die MJD ist mittlerweile aus dem Verfassungsschutzbericht des Bundes verschwunden und hat sich in einigen Bundesländern als wichtiger Ansprechpartner für lokale Einrichtungen, Stiftungen und Medien etabliert.

Dieser Wandel wurde durch andere Entwicklungen befördert. Angesichts einer wachsenden Polarisierung der Gesellschaft, die sich im Erfolg rechtspopulistischer Organisationen wie PEGIDA oder der AfD und einem Anwachsen der salafistischen Szene wiederspiegelt, kommt all jenen Akteur_innen eine wachsende Bedeutung zu, die die Bindung an die Gesellschaft und ein Selbstverständnis als muslimische Deutsche stärken. Bei der Förderung von Teilhabemöglichkeiten und der Prävention von Abgrenzungs- und Rückzugstendenzen unter jungen Muslim_innen spielen muslimische Vereine und Initiativen eine wichtige Rolle.

Mittendrin – und gerade deshalb in der Kritik

Gerade diese Vereine und Personen, die mit ihrem Engagement besonders sichtbar sind, werden aktuell verstärkt zur Zielscheibe von Kritik und Anfeindungen. Personen wie die Bloggerin Kübra Gümüsay oder die Islamwissenschaftlerin und Buchautorin Lamya Kaddor, die sich bei allen Unterschieden darin treffen, dass sie für ein selbstbewusstes Verständnis als muslimische Deutsche werben, sehen sich regelmäßig Shitstorms bis hin zu Androhungen von Gewalt gegenüber. Nicht viel anders ergeht es den Youtuber_innen der Datteltäter oder den Macher_innen der Poetry-Slam-Initiative i,Slam. Auch sie stehen für eine wachsende Zahl meist junger Muslim_innen, die in der Öffentlichkeit immer mehr Gehör finden und damit zum Feindbild vieler Kommentatoren nicht nur im Internet werden. Eine eloquente Bloggerin wie Kübra Gümüsay, die als selbstbewusste und moderne Frau mit Kopftuch in Talkshows zu Wort kommt, ist für die Gegner eines gesellschaftlichen Wandels eine größere Provokation als Gangsta-Rapper wie Bushido oder Alpa Gun. Schließlich geht es auch um Privilegien. Kurz gesagt: Mit Putzfrauen, die ein Kopftuch tragen, haben die Gegner des gesellschaftlichen Wandels wie Thilo Sarrazin und Co wenig Probleme, genauso wenig wie mit Gangsta-Rappern, die trotz ihres Mackergehabes außerhalb ihres Kiezes kaum jemanden in Frage stellen. Bei hoch qualifizierten Musliminnen, zumal mit Kopftuch, die Positionen in Universitäten, in Politik und Medien anstreben, sehen sie dagegen rot.

Dabei sind solche Veränderungen, die das Gesicht der Gesellschaft verändern, und die Kämpfe dagegen keineswegs neu. Auch Forderungen nach einer Gleichstellung von Frauen oder nach einer Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften waren – und sind – gesellschaftlich hart umkämpft und werden gleichwohl von einer Mehrheit gewollt und getragen. Typisch für Veränderungsprozesse, die mit solchen Forderungen einhergehen, ist, dass sie zwangsläufig Widerstand und Konflikte hervorrufen. Schließlich müssen sich viele von ihren Gewohnheiten und auch Privilegien trennen – und das geschieht selten freiwillig. Mit real begründeten Sorgen über antidemokratische oder frauenfeindliche Positionen einzelner Muslim_innen und muslimischer Vereine haben die aktuellen Diskussionen daher nur bedingt zu tun. In vielen Fällen geht es eher um ein Rückzugsgefecht für eine Gesellschaft, die spätestens seit den frühen 2000er Jahren der Vergangenheit angehört.

Für junge Muslim_innen, die sich als aktiver Teil der Gesellschaft verstehen und damit genau das tun, was lange Zeit von Migrant_innen und Muslim_innen gefordert wurde („Kommt raus aus den Hinterhöfen!“, „Bekennt Euch zur Gesellschaft!“, „Grenzt Euch ab von Terror und Gewalt!“), müssen die Diskussionen über NourEnergy, VPN oder Sawsan Chebli besonders frustrierend sein. Sie zeigen, dass es mit dem Selbstverständnis einer Migrationsgesellschaft in vielen Teilen der Gesellschaft noch nicht allzu weit her ist. Wenn der oft beschworene Pluralismus schon dort seine Grenzen findet, wo Menschen nicht dem entsprechen, was man vor 30 Jahren für „normal“ hielt, verlieren auch andere gesellschaftliche Versprechen zu Aufstiegsmöglichkeiten, Bildungschancen und Teilhabe an Glaubwürdigkeit. Genau darin liegt die Gefahr der aktuellen Attacken und Vorbehalte gegen junge engagierte Muslim_innen. Sie polarisieren und befördern dabei letztlich das, was sie Muslim_innen vorwerfen: einen zunehmenden Rückzug aus der Gesellschaft.

Skip to content