Religion ist auch im Alltag von Jugendlichen sehr gegenwärtig, unabhängig davon, ob sich Jugendliche selbst als religiös beschreiben. Dr. Lea Heyer hat den Umgang mit Religion in der Offenen Jugendarbeit untersucht und macht im Gespräch mit ufuq.de auf vertane Chancen aufmerksam, die mit dem Vermeiden und Ausblenden von religiösen Themen in der Jugendarbeit einhergehen können.
Götz Nordbruch (ufuq.de):
Frau Heyer, Religion spielt im Selbstverständnis vieler Träger der Offenen Jugendarbeit keine Rolle, man könnte auch sagen: „Religion ist für viele ein rotes Tuch.“ Wie würden Sie dieses Verhältnis beschreiben?
Lea Heyer:
Im Selbstverständnis vieler Träger wird Religion als Bezugsgröße für die Offene Arbeit tatsächlich erst einmal wenig Relevanz beigemessen. Ich habe Interviews mit Fachkräften in Jugendzentren geführt, dabei wurde deutlich, dass Religion bzw. Themen, die potenziell mit Religion in Verbindung gebracht werden können, selten angesprochen werden. Viele Fachkräfte nehmen Religion als sehr persönliches und kontroverses Thema wahr und versuchen, bewusst oder unbewusst, die Auseinandersetzung mit Religion aus dem Jugendzentrum herauszuhalten.
Das Verhältnis der Offenen Jugendarbeit zu Religion ist aber komplexer. In den Interviews habe ich auch nach den Netzwerken und Kontakten der Einrichtungen gefragt. Dabei wurde deutlich, wie sehr der Umgang mit Religion in der Einrichtung selbst auch die Außenkontakte der Jugendzentren prägt. Umgekehrt haben die sozialräumlichen Kontakte, beispielsweise zur Moschee gegenüber oder zur katholischen Gemeinde nebenan, auch einen Einfluss darauf, wie religionsbezogene Themen in der Einrichtung verhandelt werden.
Religion spielt also eine wichtige Rolle für die Offene Jugendarbeit. Das wird in der Praxis und im Fachdiskurs bis jetzt allerdings noch relativ wenig diskutiert. Dabei sollte der Offenen Jugendarbeit klar sein, dass Religion per se kein „Störfaktor“ ist und auch nicht an andere Akteure delegiert werden kann. Sie wäre gut beraten, ihr Verhältnis zu Religion neu auszuhandeln.
Götz Nordbruch (ufuq.de):
Was wäre denn die Grundlage, auf der diese Neubestimmung erfolgen sollte?
Lea Heyer:
Meine Studie macht die Notwendigkeit deutlich, die Rolle von Religion in einer unabhängigen und lebensweltorientierten Offenen Jugendarbeit sozialräumlich neu zu denken und zu konzipieren. Eine konzeptionelle Auseinandersetzung damit, welche Rolle Religion in der Offenen Jugendarbeit mit Blick auf alle Jugendlichen spielen kann – und meiner Meinung nach in einer postsäkularen Gesellschaft mit Blick auf die vielen Facetten von Religion auch spielen sollte – hätte grundlegende Folgen für unser Verständnis einer Pädagogik der Offenen Jugendarbeit. Meine Studie zeigt, dass Religion in der Offenen Jugendarbeit überraschend relevant ist, dass aber die Pädagogik der Jugendarbeit dafür fachlich bis jetzt noch zu schlecht aufgestellt ist.
Götz Nordbruch (ufuq.de):
Sie beschreiben auch, wie sich der Blick auf Religion in der Forschung zur Jugendphase und damit auch in der Jugendarbeit verändert hat. Dabei betonen Sie, dass Religion – und vor allem der Islam – häufig vor allem im Zusammenhang mit dem Präventionsgedanken behandelt wird, also wenn es zum Beispiel darum geht, Radikalisierungen zu verhindern.
Lea Heyer:
Das stimmt. Ich bezeichne diese Sichtweise als problemorientierte Betrachtung von Religion, weil hier eher die Gefahren und die Möglichkeiten, diesen Gefahren vorzubeugen, im Fokus stehen. Diese Problemorientierung in Bezug auf Jugendliche und Religion ist allerdings keineswegs neu. In den 1990er Jahren ging es beispielsweise um die Gefahren durch okkulte Sekten für Jugendliche, später dann um mögliche Folgen des Mitgliederschwundes der christlichen Kirchen. Die Jugendforschung ist eben ein Bereich, in dem gesellschaftliche Ängste und Gefährdungsszenarien sichtbar werden und in dem diese – berechtigterweise – auch verhandelt werden.
In den vergangenen 15 Jahren wurde der Diskurs um Religion in der Jugendforschung oft in kulturalisierender Weise geführt. Religion galt vor allem als Thema von „Migrantenjugendlichen“, dabei stand überwiegend der Islam im Fokus. Es ging um die Zugehörigkeit von Jugendlichen zum Islam und was das für ihr Aufwachsen in der westlichen Gesellschaft bedeutet. Damit verbanden sich zugleich bestimmte Erwartungen an die Offene Jugendarbeit, beispielsweise konkrete Integrations-, Präventions- oder Bildungsaufträge.
In meiner Arbeit argumentiere ich, dass diese Sichtweise zu kurz greift, denn wenn man die Auseinandersetzung mit Jugend und Religion in der Offenen Jugendarbeit ausschließlich an muslimischen Adressat*innen festmacht, geraten wichtige strukturelle Fragen aus dem Blick. Zum Beispiel: Welche Herausforderungen werden von der Offenen Jugendarbeit selbst im Zusammenhang mit Religion gesehen? Wie sieht sie ihre Verantwortung diesbezüglich? Auf welche Konzepte und Zugänge, welche Ressourcen, welche Kontakte und Beziehungen kann die Offene Jugendarbeit für einen fachlich begründeten Umgang mit Religion zurückgreifen?
Glücklicherweise hat man in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren in der Forschung erkannt, dass Religion nicht nur als Thema von „muslimischen Migrant*innen“ betrachtet werden sollte, sondern beispielsweise auch im Kontext von sozialer Ungleichheit, von Diskriminierungserfahrungen oder mit Blick auf die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe. Aktuell gibt es viele Bemühungen einer Vermessung der Relevanz von Religion in der Sozialen Arbeit im Allgemeinen und in der Offenen Jugendarbeit im Besonderen. Da geht es dann beispielsweise um die Religionssensibilität von pädagogischen Fachkräften, um Spiritualität und Religion als Ressourcen für die Soziale Arbeit, um Methoden des Interreligiösen Dialogs, Ansätze missionarischer Jugendarbeit oder um Muster der pädagogischen Herstellung von Religion als Differenzmarker. Allerdings nehmen diese Forschungen selten aufeinander Bezug.
Götz Nordbruch (ufuq.de):
In Ihrer Studie betonen Sie ein Grundprinzip der Offenen Jugendarbeit: die Ergebnisoffenheit. Jugendarbeit zielt danach nicht darauf, Jugendliche in eine bestimmte Richtung zu lenken, sondern bietet ihnen einen Rahmen, um selbst ihren Weg finden. Zugleich ist Religion ein gesellschaftliches hot topic, zu dem man sich – ganz gleich, wie man persönlich zu Religion steht – auch als Jugendlicher verhalten muss. Welche Rolle sollte Religion – als individueller Glauben und als gesellschaftliches Thema – aus Ihrer Sicht in der offenen Jugendarbeit spielen?
Lea Heyer:
Religiöse Vielfalt ist hier im Deutschland des 21. Jahrhunderts gesellschaftliche Realität. Jugendliche wachsen in religiös pluralen Lebenswelten auf, bewegen sich in einer auch im Hinblick auf Religionen und die Bedeutung von Religion diversen Gesellschaft und sind umgeben und Teil von öffentlichen Diskursen, in denen Religion eine Rolle spielt. Sich zu einem erwachsenen, mündigen Mitglied der Gesellschaft zu entwickeln, bedeutet deswegen auch, sich gesellschaftliche Strukturen mit Blick auf Religion anzueignen. Das gilt in der postsäkularen Gesellschaft übrigens für uns alle – gleich, ob wir einer Religion angehören oder nicht. Deswegen bezeichne ich die Auseinandersetzung mit Religion als eine Entwicklungsaufgabe, vor der Jugendliche heute stehen.
Die postsäkulare Gesellschaft braucht daher Räume, in denen sich junge Menschen frei von bildungsprogrammatischen oder religiösen Vorgaben mit Religion auseinandersetzen und ihren Umgang damit finden können. Eine Offene Jugendarbeit, die sozialräumlich ausgerichtet ist und dabei die Rolle von Religion reflektiert und differenziert betrachtet, kann zur Bewältigung dieser Entwicklungsaufgabe junger Menschen einen wertvollen Beitrag leisten.
Von daher sollten Fachkräfte der Offenen Jugendarbeit darin unterstützt werden, auf die vielfältigen Dimensionen von Religion als Thema des Aufwachsens in der Jugendphase einzugehen. Das kann im Sinne der Lebensweltorientierung wie nebenbei geschehen, indem Gesprächsthemen der Jugendlichen aufgegriffen und weitergeführt werden, aber auch durch Projekttage, Kooperationen oder Events ganz aktiv ins Jugendzentrum eingebracht werden. Die Offene Jugendarbeit hat ja den entscheidenden Vorteil, dass sie gerade wegen ihrer Offenheit Kinder, Jugendliche und pädagogische Fachkräfte verschiedener Religionszugehörigkeiten und solche ohne Religionsbindung alltäglich in Kontakt bringt.
Offene Jugendarbeit sollte sich bewusst machen, welche Rolle Religion in ihren eigenen Strukturen und in den Lebenswelten ihrer Adressat*innen spielt, um für junge Menschen ein passendes Angebot zu entwickeln, Mitbestimmung zu ermöglichen, passende Aneignungsstrukturen zu schaffen und die Spielräume junger Menschen zu erweitern. Das ist bis jetzt nicht immer der Fall, da Religion eben allzu häufig aus dem Alltag im Jugendzentrum herausgehalten wird.
Götz Nordbruch (ufuq.de):
Viele Einrichtungen der Offenen Jugendarbeit nehmen Religion als etwas Äußeres wahr, womit sie selbst nichts zu tun haben, sondern was von außen – zum Beispiel durch Jugendliche oder durch Moscheen in der Nachbarschaft – an sie herangetragen wird. Wie ließe sich ein Bewusstsein für die eigene Verwobenheit in Diskurse über Religion stärken?
Lea Heyer:
Eine proaktive Gestaltung von Religion als Thema in der Offenen Jugendarbeit beginnt mit dem Bewusstmachen von impliziten Setzungen. Jugendzentren gehen sehr unterschiedlich mit Religion um, sehen ganz unterschiedliche Herausforderungen und stehen mit diesen recht allein da. Ich sehe deshalb einen dringenden Bedarf, die Einrichtungen darin zu unterstützen, die Rolle von Religion in ihren Beziehungen zu Jugendlichen und Kontakten zu religiösen Einrichtungen zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Ein Anfang könnte etwa sein, wenn sich Fachkräfte der Offenen Jugendarbeit über ihre persönlichen, religionsbezogenen Überzeugungen und damit gegebenenfalls zusammenhängende professionelle sozialpädagogische Sichtweisen austauschen. Das Sprechen über Religion ist für viele Fachkräfte der Offenen Jugendarbeit Neuland. Deswegen habe ich in meinem Buch Fragen und Denkanstöße zusammengetragen, die Träger in die Konzeptarbeit einfließen lassen können oder die etwa bei einem Teamtag besprochen werden könnten. Es kann zum Beispiel hilfreich sein, sich die fachlichen und gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen bewusst zu machen, die an die Einrichtung in Bezug auf den Umgang mit Religion gestellt werden. Das kann je nach Träger sehr unterschiedlich sein und sollte nicht nur in konfessionellen Einrichtungen diskutiert werden. Wichtig ist erst einmal, über Religion auch im Kollegium ins Gespräch zu kommen.
Jugendzentren werden mit religionsbezogenen Anfragen konfrontiert, z.B. wenn eine Kirchengemeinde zum Mitgestalten des Stadtteilfestes einlädt, das Grillen im Garten halal oder koscher sein soll, Projektpartner*innen oder die Kommune Mitstreiter*innen gegen Antisemitismus benötigen. Dabei benötigen sie verlässliche Unterstützung, um mit diesen Anfragen umzugehen. Gerade Jugendzentren, die mit öffentlichen Mitteln finanziert werden, berichten von Konflikten, wenn sie sich mit religiösen Akteuren vernetzen wollen. Das könnte ein Anlass sein, Kooperationsstrukturen auch hinsichtlich der Rolle von Religion im Team zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Kontakte zu religiösen Einrichtungen sollten weder von vornherein ausgeschlossen noch vorausgesetzt werden, wenn die Mitarbeiter*innen diese nicht mittragen.
Götz Nordbruch (ufuq.de):
Die Politikdidaktikerin Prof. Anja Besand von der TU Dresden plädiert für die politische Bildungsarbeit dafür, sich weniger an Zielgruppen als an Räumen zu orientieren. Das Denken in Zielgruppen mache immer schon Vorannahmen über die Adressat*innen und pauschaliere dabei zwangsläufig. Der Blick auf Räume, in denen politische Lernprozesse stattfinden, lenke die Aufmerksamkeit dagegen zum einen auf Kommunikation und Interaktion zwischen unterschiedlichen Personen, zum anderen auf konkrete Orte, an denen politisches Handeln erfahrbar wird. Lässt sich dieser Gedanke auf die Offene Jugendarbeit im Zusammenhang mit Religion übertragen?
Lea Heyer:
Dieser Gedanke lässt sich sehr gut übertragen. Aus der Diversityforschung wissen wir, dass bestehende Machtstrukturen und Normalitätsvorstellungen auch in der Offenen Jugendarbeit mit Zuschreibungen an bestimmte Jugendliche einhergehen. Das Denken in Zielgruppen ist für den Auftrag, mit dem Offene Jugendarbeit antritt, eher hinderlich. Stephan Sting bezeichnet die Offene Jugendarbeit treffend als „Gelegenheitsstruktur für Selbstbildungsprozesse“. Um diesem Anspruch aber gerecht zu werden, wäre es wichtig, die Lebenslagen und Bedarfe junger Menschen wahrzunehmen und aufzugreifen. Wenn man aber in einem Jugendzentrum spezielle Angebote etwa für „muslimische Jugendliche“ macht, besteht die Gefahr, diskriminierende Stereotype und Strukturen zu reproduzieren oder sogar zu verschärfen. Die Offene Jugendarbeit riskiert mit der Orientierung an Zielgruppen, ihren eigenen, strukturellen Anteil an gesellschaftlicher Exklusion auszublenden. So werden scheinbar unsichtbare, weil nicht thematisierte Lebenszusammenhänge ausgeklammert. Wenn man Religion ausschließlich an bestimmten Gruppen festmacht, muss sich ein Jugendzentrum, das von diesen Jugendlichen nicht besucht wird, nicht mit Religion beschäftigen. Damit vergibt die Offene Jugendarbeit die Chance, Jugendliche – und zwar alle Jugendliche – in den Entwicklungs- und Bewältigungsaufgaben im Zusammenhang mit Religion in der postsäkularen Gesellschaft zu unterstützen. Das wäre schade, denn Offene Jugendarbeit bietet einen wichtigen Raum auch für politische Lernprozesse.
Die Studie „Offene Jugendarbeit und Religion. Netzwerke von Jugendzentren strukturell entwickeln“ von Lea Heyer ist 2022 im Beltz-Verlag erschienen.