Im Zuge der Corona-Pandemie sind Verschwörungserzählungen entstanden, die beispielsweise Impfungen und Corona-Maßnahmen als Unterdrückung der Bevölkerung darstellen. Soll die politische Bildung angesichts dieser verbreiteten Erzählungen Neutralität wahren und eine inhaltliche Diskussion über diese Theorien zulassen? Saba-Nur Cheema findet: Bei antidemokratischen und antiaufklärerischen Positionen müssen Pädagog*innen eine klare Grenze ziehen und Verschwörungserzählungen entschieden entgegentreten.
Was in Gesellschaft, Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers behandelt werden – so lautet einer der Grundsätze der politischen Bildung des Beutelsbacher Konsenses von 1976. Im Zuge der Corona-Pandemie scheint kaum ein Thema die Gesellschaft mehr zu spalten als die Verschwörungserzählungen, die rund um die Entstehung und Bekämpfung der Pandemie entstanden sind. Sie werden in den sozialen Medien und besonders über Messenger-Dienste wie Telegram verbreitet. Mediale Aufmerksamkeit haben sie durch die sogenannten Querdenken-Demonstrationen erhalten. Prominente wie der Sänger Xavier Naidoo, der Vegankoch Attila Hildmann oder der Schlagerstar Michael Wendler verbreiten die Ansicht, dass die Pandemie von dunklen Mächten geplant worden sei und dass die Impfungen und Corona-Maßnahmen die Bevölkerung unterdrückten – zugunsten einer kleinen Elite. Führt man sich das Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses vor Augen, stellt sich die Frage, ob die politische Bildung angesichts dieser verbreiteten Erzählungen Neutralität wahren und eine kontroverse Diskussion über Verschwörungserzählungen zulassen soll.
Sollte man beispielsweise darüber diskutieren, ob die Regierung der Bevölkerung über medizinische Masken einen „Giftcocktail“ verabreicht? Oder darüber, ob die Pandemie eine Erfindung von Pharmaunternehmen ist? Politische Bildung zielt neben der Vermittlung von Wissen über das politische System und die Demokratie darauf ab, kritische Haltung zu vermitteln. Jugendliche und Erwachsene sollen befähigt werden, politische und gesellschaftliche Ereignisse zu diskutieren, um ihre eigene Meinung bilden zu können. Allerdings wäre es eine falsche Schlussfolgerung, wenn Verschwörungserzählungen als kontroverse Positionen im Unterricht diskutiert würden, denn: Das Kontroversitätsgebot des Beutelsbacher Konsenses gilt nicht für die Vermittlung antidemokratischer und antiaufklärerischer Positionen. Die Grundlage einer kontroversen Diskussion bilden wissenschaftliche Erkenntnisse und die Prinzipien der Aufklärung.
Verschwörungsmythen und Kontroversität
Der Glaube an Verschwörungserzählungen ist in unserer Gesellschaft weit verbreitet: Vergangenes Jahr zeigte die Leipziger Autoritarismus-Studie, dass knapp vierzig Prozent der bundesweit Befragten eine manifeste Verschwörungsmentalität aufweisen. So stimmt etwa ein Drittel der Befragten der Aussage zu, dass die meisten Menschen nicht erkennen würden, „in welchem Ausmaß unser Leben durch Verschwörungen bestimmt wird“. Der Idee, dass Politiker und andere Führungspersonen „nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte“ seien, stimmen genauso viele zu. Fast vierzig Prozent hegen die Vorstellung, dass „geheime Organisationen“ einen „großen Einfluss auf politische Entscheidungen“ hätten.[1]
Im Zuge der Corona-Pandemie wurde besonders deutlich, wie schnell sich Verschwörungserzählungen verbreiten und für Unsicherheit und Irritation sorgen. Diese reichen vom Glauben, dass bei den Impfungen heimlich Mikrochips implantiert würden, bis zur Vorstellung, dass das Virus absichtlich in die Welt gesetzt worden sei, um dann durch Freiheitsbeschränkungen schleichend eine Diktatur zu etablieren. Aus den USA kommend hat die rechtsextreme „QAnon“-Bewegung, die seit 2017 Verschwörungserzählungen verbreitet, auch in Deutschland viele Anhänger gefunden. Sie glauben, dass eine weltumspannende Elite Kinder entführe, missbrauche und aus deren Blut eine Verjüngungsdroge herstelle. Corona sei zudem bloß eine Lüge – der sogenannte deep state, die vermeintliche Geheimregierung, die hinter den Kulissen der Politik der USA stehe und die ganze Welt steuere, würde damit gezielt der Bevölkerung schaden. „Krisenzeiten sind Verschwörungszeiten“, erklärte der Historiker Wolfgang Wippermann[2], der Verschwörungserzählungen vom Mittelalter bis in die heutige Zeit untersuchte. Der Glaube an Verschwörungsszenarien wächst, wenn Staat und Politik in Zeiten von Unsicherheit keine stabile Orientierung zu bieten scheinen.
Die Verschwörungserzählungen rund um die Corona-Pandemie sind dabei nur ein aktuelles Beispiel. Auch bekannt ist etwa die Behauptung, die Terroranschläge vom 11. September 2001 seien ein inside job, also von der US-Regierung oder dem israelischen Geheimdienst Mossad geplant gewesen; oder aber die Erzählung vom „Großen Austausch“, die unter Rechtsextremen den angeblichen Plan bezeichnet, die europäische Bevölkerung durch Geflüchtete zu ersetzen – dahinter stecke der in den USA lebende jüdisch-ungarische Milliardär George Soros, der den „Untergang des Abendlandes“ finanziere und die „Islamisierung Europas“ durch die Zuwanderung von Muslimen vorantreibe. Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen glauben zu wissen, dass die Öffentlichkeit mit Falschinformationen manipuliert wird, können allerdings nicht sagen, was „wirklich“ passiert ist. Dies gilt für viele weitere Großereignisse, die das gesellschaftliche Zusammenleben beeinflussen.[3] Dabei geht es in diesen Erzählungen immer darum, eine Erklärung für das jeweilige Ereignis zu finden: Warum ist es passiert? War es Absicht, gibt es Gruppen, die davon profitieren? Diese Fragen sind nicht per se problematisch. Die Suche nach Erklärungen kann dabei helfen, die „neue“ Wirklichkeit zu verstehen und Zusammenhänge zu begreifen, die man vorher nicht kannte. Und dennoch bieten sie ein Einfallstor, in Verschwörungserzählungen die Antwort zu finden, die wiederum gefährliche Konsequenzen für das eigene Handeln haben kann. Aus dem Glauben an solche Verschwörungserzählungen ergeben sich mehrere gefährliche Tendenzen für demokratische Gesellschaften. Die Mitte-Studien zeigen, wie eng Verschwörungsmythen mit der Abkopplung vom demokratischen Diskurs einhergehen.[4] Frustration über die aktuelle Demokratie kann sich zu einer immer größeren Ablehnung des demokratischen Systems und des mit ihm einhergehenden Pluralismus entwickeln. So gehen Menschen, die von Verschwörungserzählungen überzeugt sind, oft nicht mehr wählen. Einige orientieren sich tendenziell an gewalttätigen Alternativen. Außerdem haben sie deutlich häufiger antisemitische und muslimfeindliche Vorurteile. Verschwörungserzählungen werden auch zur Rechtfertigung von „zivilem Ungehorsam“ gegenüber staatlichen Regeln herangezogen, wie im Fall der rechtsextremen „Reichsbürger“, die sich weigern, Steuern zu zahlen, oder bei Corona-Leugnern, die sich weigern, medizinische Masken zu tragen. In einer Zeit, in der antidemokratische Haltungen mehr Zustimmung finden, in der historische und politische Fakten verzerrt und falsch dargestellt werden und in der sich diese Ideen durch soziale Medien rasant verbreiten, kommt der politischen Bildung eine entscheidende Rolle zu. Sie braucht eine klare Haltung, um diese Gefahr effektiv bekämpfen zu können.
Die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich kontroversen Themen ist ein entscheidender Aspekt in der politischen Bildung und der Erziehung zur politischen Mündigkeit. Zu oft wird das Kontroversitätsgebot mit dem Neutralitätsgebot verwechselt: Weil gesellschaftliche Kontroversen in den Unterricht gehören, müsse jede Position, auch wenn sie offenbar antiaufklärerisch ist, gleichberechtigt neben anderen diskutiert werden.[5] Diese Forderung nach Neutralität ist letztlich ein Missbrauch des Beutelsbacher Konsenses. Weder das Kontroversitätsgebot noch das Überwältigungsverbot von Beutelsbach lassen eine Deutung zu, nach der man sich antidemokratischen Positionen gegenüber neutral oder tolerant zeigen müsste. Kontroverse Positionen, die als gleichberechtigte Stimmen im demokratischen Diskurs – und somit auch im pädagogischen Raum – gelten, orientieren sich an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Dementsprechend ist es sogar die Aufgabe der politischen Bildung, antidemokratische Haltungen und Positionen als solche zu identifizieren und zu kritisieren.
In pädagogischen Räumen und ganz wesentlich in der Schule als einziger verpflichtender staatlicher Sozialisationsinstanz muss demokratiefeindlichen Haltungen – und Verschwörungserzählungen sind im Kern genau das – entschieden entgegengetreten werden. Es geht also nicht nur um die reine Wissensvermittlung, in der Demokratie als Herrschafts- und Regierungsform erläutert wird, sondern auch darum, die Gesellschaft zu demokratisieren, antidemokratische Haltungen zu erkennen und zu hinterfragen.[6] Das Prinzip der Kontroversität soll dazu beitragen, dass Jugendliche in ihrer Identitätsbildung gestärkt werden. Durch die Art und Weise, in der Verschwörungsmythen durch soziale Medien Eingang in jugendliche Lebenswelten bekommen haben, kann diese Identitätsbildung irritiert werden – durch sogenannte alternative Fakten und „Fake News“. Jugendliche – und auch Erwachsene – werden heute mit einer Flut an (widersprüchlichen) Informationen konfrontiert und stehen im Zweifel alleine vor der Entscheidung, was nun Wahrheit oder Mythos ist.
Dabei ist das zunächst grundsätzliche Hinterfragen eine wichtige Kompetenz, die in der politischen Bildung vermittelt werden soll. Ihr Ziel, zur Entwicklung und Formulierung der eigenen Meinung zu befähigen, wird letztlich nur durch das Erlernen von kritischem Nach-und Hinterfragen erreicht. Woran können wir aber festmachen, ob es sich um antidemokratische Positionen oder nur um unverfängliches Hinterfragen handelt? Wenn sich die Grenze nicht eindeutig ziehen lässt, müssen politische Bildner*innen genau hinschauen.
Am Beispiel der Corona-Pandemie sind manche Fragen legitim, etwa: „Woher kommt das Virus nun wirklich?“, oder: „Sind die Maßnahmen tatsächlich zur Eindämmung der Pandemie geeignet?“ Diese Fragen werden aktuell auch unter Wissenschaftler*innen kontrovers diskutiert. Anders ist mit Fragen umzugehen, die auf Einzelpersonen (etwa Bill Gates oder George Soros) als Verursacher der Pandemie hinweisen oder „geheime Pläne“ der Bundesregierung insinuieren. Verschwörungserzählungen sind das Gegenteil des seit der Aufklärung geltenden Anspruchs, „wissenschaftliches Wissen und vernunftgeleitete Aufklärung allen anderen Formen des Weltzugangs“ als überlegen anzusehen.[7] Sie lassen sich beispielsweise daran erkennen, dass sie die (überfordernde) Komplexität des gesellschaftlichen Lebens in ein manichäisches Weltbild vereinfachen und die Welt in die „Guten“ und die „Bösen“ einteilen.[8] So wird nicht an zufällige Ereignisse geglaubt, denn: Alles passiere aus einem bestimmten Grund.[9] Jeglicher Widerspruch wird durch das Handeln „geheimer Mächte“ erklärt, die ohnehin Informationen für sich behielten, um die Bevölkerung zu manipulieren. In dieser Imagination steckt auch das antisemitische Moment, das einigen Verschwörungserzählungen strukturell innewohnt: der Glaube an „geheime Mächte“ und „Strippenzieher“ oder die Fantasie der Regierung als bloße „Marionette“ korrespondiert mit dem antisemitischen Verschwörungsglauben, dass letztlich „die Juden“ hinter den Kulissen die Welt regieren würden.
Politische Bildung gegen Verschwörungserzählungen
Sicherlich kann nicht jeder gesellschaftlichen Problemlage allein mit politischer Bildung begegnet werden, jedoch bieten Bildungsräume eine zentrale Präventions- und Interventionsmöglichkeit gegen die Verbreitung von Verschwörungserzählungen. Eine pädagogische Intervention gegen Verschwörungserzählungen benötigt zunächst ein Verständnis davon, was die Funktionen der Mythen sind: Wem helfen sie – und wobei? Grundsätzlich bieten Verschwörungserzählungen ein Sinn-und Erklärungsangebot und kommen dementsprechend bestimmten Bedürfnissen nach.[10] Das dualistische Weltbild von „Gut“ und „Böse“ kann helfen, in einer Welt mit zunehmender Unübersichtlichkeit sich selbst der guten, unschuldigen und ohnmächtigen Position zuzuordnen. Bei Menschen, die einen Kontrollverlust in ihrem Leben erfahren, begünstigt dies den Glauben an Verschwörungserzählungen.[11] Übrigens kann dieser Glaube auch eine Sündenbockfunktion erfüllen: Die Schuld für gesellschaftliche Missstände oder gar persönlichen Misserfolg wird bestimmten Akteuren gegeben, was eine befreiende und individuell entlastende Wirkung haben kann.[12] Verstärkt wird der Glaube im Kollektiv, denn gemeinsam mit anderen auf die „bösen Mächtigen“ zu zeigen, steigert das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Nicht nur das: Paradoxerweise steigt auch das Überlegenheitsgefühl. Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, fühlen sich als „Aufgewachte“ – man habe endlich begriffen, wie die Welt funktioniert.[13] Andere werden beispielsweise in Internetforen oder Blogs als „Schlafschafe“ belächelt, die „dumm, aber glücklich“ seien.[14]
Wie sich Ohnmacht und Überlegenheit zugleich äußern, zeigt folgende Sequenz aus einem Gespräch in einem Workshop der Bildungsstätte Anne Frank mit einer Gruppe von Jugendlichen. Eine Teilnehmerin sagte im Gespräch über strukturelle Diskriminierung am Arbeitsmarkt, dass „alle großen Konzerne sowieso den Juden gehören“. Sie zählte auf: Starbucks, Facebook, Aldi und diverse Einkaufszentren. Eine pädagogische Trainerin reagierte zunächst mit freundlichem Kopfschütteln, um der Teilnehmerin zu erklären, dass dies nicht der Wahrheit entspreche. Die wiederum zuckte mit den Schultern und sagte, sie wisse dies aus einer „sicheren und vertrauenswürdigen Quelle“. Nachdem das Argumentieren auf der Sach- und Faktenebene zu nichts führte, fragte eine andere Trainerin: „Stell Dir vor, wir glauben Dir. Warum ist das so wichtig für Dich? Was bedeutet das für Dich persönlich?“ In diesem Moment zeigte sich die Teilnehmerin irritiert und sagte: „Ich wollte es Euch nur mal sagen, damit ihr es auch wisst. Sonst ist mir das egal.“ Offenbar führte ihr persönlich erlebtes Scheitern bei der Jobsuche und die dadurch unmöglich erscheinende Verwirklichung der eigenen Wünsche zu einem Ohnmachtsgefühl – hier kam sie nicht weiter. Für sie selbst gab es eine (scheinbar) einfache Erklärung, indem sie das antisemitische Fantasma der „jüdischen Weltverschwörung“ reproduziert – eine Tatsache für die Teilnehmerin, von der viele noch nicht wüssten, denen sie bei der „Aufklärung“ helfen könne.
Die Sichtbarkeit und Zugänglichkeit von Verschwörungserzählungen sind durch das Internet und die sozialen Medien verstärkt worden. Menschen können sich dadurch ihre eigenen Mythen zusammenbasteln. Skepsis gegenüber dem, was in den öffentlich-rechtlichen Medien oder von Politikern gesagt wird, ist seit einigen Jahren ein großes Thema in den sozialen Medien: Spätestens seit der Wahl von Donald Trump 2016 werden seriöse Medien als „Fake News“ oder „Lügenpresse“ delegitimiert. Gleichzeitig werden über soziale Medien, Blogs oder Chatgruppen ungeprüfte Informationen rasant verbreitet, die von Jugendlichen unkritisch konsumiert werden und die ihr Verständnis von aktuellen politischen und historischen Ereignissen immer stärker prägen.
So war auch die „sichere und vertrauenswürdige Quelle“ der genannten Workshop-Teilnehmerin ein Blog aus dem Internet. Schnell wurde im Gespräch klar: Auf der Sach- und Faktenebene zu bleiben und das eigene Argument als besser beziehungsweise richtig zu erklären, überzeugt in den seltensten Fällen. Hannah Arendt beschreibt es treffend, wenn sie am Beispiel der Verschwörungserzählung über die „Protokolle der Weisen von Zion“ – eine bis heute weit verbreitete gefälschte antisemitische Hetzschrift vom Anfang des 20. Jahrhunderts – deutlich macht, worum es eigentlich im Kampf gegen Verschwörungserzählungen geht: „Wenn (…) eine so offensichtliche Fälschung wie die Protokolle der Weisen von Zion von so vielen geglaubt wird, dass sie die Bibel einer Massenbewegung werden kann, so handelt es sich darum zu erklären, wie dies möglich ist, aber nicht darum, zum hundertsten Male zu beweisen, was ohnehin alle Welt weiß, nämlich, dass man es mit einer Fälschung zu tun hat.“[15]
Handlungsstrategien
Aus den bisherigen Überlegungen ergeben sich daher folgende drei Implikationen für die pädagogische Arbeit gegen Verschwörungserzählungen. Zunächst einmal empfiehlt es sich, anstatt auf der Sach- und Faktenebene über die richtigen Argumente oder gar „die Wahrheit“ zu streiten, auf der Beziehungsebene zu bleiben. Die argumentative Widerlegung von Verschwörungserzählungen funktioniert oft nicht. Gerade, wenn als Quellen für die Widerlegung Wissenschaftler*innen oder andere Instanzen genannt werden, gilt dies für viele der Verschwörungsglaubenden als Teil der Verschwörung. Im Zweifel wird jeder Widerspruch, auf den man aufmerksam macht, ebenfalls als Trick „entlarvt“. „Mit Fakten kommt man gegen Verschwörungstheorien nicht an. Es geht nicht darum, wer den längeren Atem hat. Es geht nicht um Fakten, es geht darum, dass sich die Geschichte richtig anfühlt.“ [16] Für pädagogische Fachkräfte wäre es außerdem eine Herausforderung, spontan den Wahrheitsgehalt von bestimmten Aussagen zu beurteilen oder gar Gegenargumente oder relevante Fakten zu liefern. Eine auf der persönlichen Ebene anerkennende, jedoch gleichzeitig kritischdistanzierte Haltung der Aussage gegenüber markiert für alle Beteiligten im pädagogischen Raum einen Lerneffekt. Es ist leicht, eine problematische Aussage für „verrückt“ oder „absurd“ zu erklären – was oft genug geschieht. Hilfreicher ist eine Annäherung an die Motivation der betroffenen Person. So leitet man von der Sach- in die Beziehungsebene. Neben wichtigen Fragen wie: „Woher hast du diese Information?“ oder „Wer hat dir das erzählt?“ sollten daher auch Fragen zur Motivation gestellt werden, auch um im Dialog zu bleiben: „Warum glaubst du, dass das stimmt?“ oder „Worin hilft dir dieser Glaube?“ Eine nichtentlarvende Pädagogik gegen Verschwörungserzählungen ist dabei empfehlenswert. Eine solche Haltung bietet für die betroffene Person auch immer die Möglichkeit, sich von der getätigten Aussage zu distanzieren. Gerade im pädagogischen Raum ist es wichtig, die Teilnehmenden in ihren Anliegen, Erfahrungen und Motivationen ernst zu nehmen. Dabei sind in der politischen Bildung die „biografischen und milieuspezifischen Erfahrungen des/der Betroffenen und seine/ihre Handlungspraxis“ zu berücksichtigen. [17] So zeigen Ergebnisse von empirischen Studien, dass „die politischen Meinungsäußerungen und Perspektiven Jugendlicher nur im Zusammenhang mit ihren Sozialisationserfahrungen ganz grundsätzlicher Natur zu verstehen sind. (…) Politische Bildungsarbeit muss an dieser Stelle auch die Erfahrungshintergründe in Betracht ziehen“. [18]
Damit lässt sich der zweite Aspekt für die pädagogische Arbeit gegen Verschwörungserzählungen verbinden: eine differenzierte Wahrnehmung der Motivation hinter konkreten Aussagen. Wenn sich Jugendliche oder Teilnehmende von Bildungsseminaren problematisch äußern, kann die Motivation ganz unterschiedlich sein – eine ganz wesentliche Erkenntnis in pädagogischen Kontexten. Schließlich gibt es nicht die eindeutige Verschwörungserzählung: Es gibt unterschiedliche Typologien [19] sowie unterschiedliche Stufen der Involviertheit der jeweiligen Person. Nicht alle, die sich verschwörungstheoretisch äußern, sind auch überzeugte Verschwörungstheoretiker*innen. Für die differenzierte Wahrnehmung der Motivation hinter bestimmten Aussagen eignet sich das Modell der Pädagogik gegen Antisemitismus. [20] Dabei wird zwischen folgenden Motivationen unterschieden: Jemand ist überzeugt von einer Ideologie und hat eine geschlossene Weltanschauung; jemand gibt fragmentarisch Elemente einer Ideologie wieder; jemand äußert (unbewusste) Stereotype; jemand bedient sich jugendkultureller Rhetorik; jemand möchte provozieren. Je nachdem, ob nun eine Teilnehmende mit zugespitzten Aussagen nur provozieren möchte oder doch ihre überzeugte antidemokratische Haltung äußert, wird die pädagogische Intervention unterschiedlich ausfallen. Wichtig ist, nicht auf der persönlichen Ebene zu argumentieren: Zu sagen, „du bist verrückt, weil du an so absurde Geschichten glaubst!“, wird die betreffende Person – und alle Beteiligten im Raum – eher abschrecken und den Dialog unterbrechen. Stattdessen könnte man entgegnen: „Das, was du gesagt hast, finde ich problematisch. Lass uns darüber sprechen.“ Letztlich ist situativ und individuell zu entscheiden, wie auf eine Äußerung zu reagieren ist – unbestritten bleibt, dass eine Reaktion essenziell ist. Der dritte Aspekt für die pädagogische Arbeit gegen Verschwörungserzählungen betrifft die Vermittlung von Medienkompetenz. Die Flut an Informationen im Internet und in den sozialen Medien ist eine Herausforderung für jeden Menschen: Alle sind aufgefordert, seriöse Nachrichtenquellen von unseriösen zu unterscheiden sowie die (Un)Glaubwürdigkeit von Influencer*innen auf Youtube, Instagram oder anderen Kanälen einzuschätzen. Dabei ist es notwendig, zu begreifen, dass auch die Ergebnisse von Recherchen in Suchmaschinen nicht der Wirklichkeit, sondern lediglich persönlichen Präferenzen folgen. Diese Medienkompetenz muss in der politischen Bildung grundsätzlich vermittelt werden und ist hinsichtlich der Verbreitung von Verschwörungserzählungen umso zentraler. So haben Influencer*innen in sozialen Medien zur Zeit der Corona-Pandemie Informationen rund um das Virus und die Eindämmungsmaßnahmen zwar maßgeblich mitverbreitet. Dazu zählen jedoch auch Falschinformationen und Verschwörungserzählungen. Das betrifft nicht bloß die Pandemie. Ob die Migration seit 2015 oder die Terroranschläge vom 11. September 2001: Es geht den Verbreitenden der Verschwörungsmythen darum, der „offiziellen Version“ keinen Glauben zu schenken und Zweifel an beispielsweise öffentlich-rechtlichen Medien oder Aussagen seitens der Politik zu schüren. Daher ist die Frage nach der Quelle – „Woher hast du diese Information?“ – in pädagogischer Arbeit hilfreich und notwendig.
Für pädagogische Fachkräfte ist das Überblicken der Dynamik in den sozialen Medien eine weitere Herausforderung. Im Zweifel nutzen sie selbst die diversen Kanäle überhaupt nicht. Dabei wäre das von Vorteil: Gemeinsam könnten kritische Inhalte in sozialen Medien auch im Schulunterricht analysiert werden – um beispielsweise seriöse von unseriösen Informationen unterscheiden zu lernen. Grundsätzlich bietet der virtuelle Ort eine Chance für die politische Bildung, die beliebtesten Influencer*innen – Fußballerinnen, Musiker oder Mode-Entertainerinnen – für die Sensibilisierung für Verschwörungserzählungen zu gewinnen. Es ist notwendig, politische Bildung nicht nur offline zu veranstalten. Gerade für Jugendliche gibt es kaum eine Trennung zwischen offline und online. Wegen dieser zunehmenden Verschränkung sollte politische Bildung vermehrt Formate in den sozialen Medien etablieren. Beispielhaft hierfür sei das Projekt „Abdelkratie“ [21] der Bundeszentrale für politische Bildung genannt: Der bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen beliebte Comedian Abdelkarim erklärt in einer Videoreihe die Grundsätze demokratischer Politik – auf eine ironische und lustige Art in jugendkultureller Rhetorik. Ein konkretes Beispiel aus der Bildungsarbeit gegen Verschwörungserzählungen ist die Spiele-App „Hidden Codes“ der Bildungsstätte Anne Frank. [22] Das Game sensibilisiert junge Menschen, Anzeichen von rechtsextremer und islamistischer Radikalisierung zu erkennen und adäquat darauf zu reagieren – spielerisch und realitätsnah zugleich. Dabei werden sie im Laufe des Spiels mit diversen Verschwörungserzählungen konfrontiert und lernen, woran diese erkannt werden können. Jugendliche spielen es nicht alleine, sondern gemeinsam mit der Lehrkraft oder einer pädagogischen Fachkraft, um die Themen des Spiels im Unterricht zu reflektieren und zu diskutieren. Ganz entscheidend ist, dass die Jugendlichen dort abgeholt werden, wo sie viel Zeit verbringen: am Smartphone, in den sozialen Medien. Dafür ist „Hidden Codes“ in einer simulierten Social-Media-Umgebung aufgebaut und gibt einen authentischen Einblick in die Dynamik und Vorkommnisse in den sozialen Medien. Das Internet und die sozialen Medien bergen nicht nur Gefahren, sondern sie haben aus Sicht der politischen Bildung auch das Potenzial, ein Mittel für Aufklärung und für die Förderung des kritischen Denkens zu sein. Um dieses Ziel zu erreichen, muss die politische Bildung nicht nur eine klare Haltung zeigen, sondern auch mehr innovative Konzepte entwickeln. Zugleich muss politische Bildung auch ihre Grenzen anerkennen. Denn gegen den Glauben an Verschwörungsszenarien braucht es insbesondere ein verantwortungsbewusstes Handeln der Politik. Wenn der Staat keine stabile Orientierung anbietet, kann nicht die politische Bildung allein gegen Verschwörungserzählungen aufklären.
Dieser Beitrag wurde zuerst in Aus Politik und Zeitgeschichte 35-36 (2021) der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht. Wir danken der Autorin und der BpB für die Erlaubnis, den Beitrag hier wieder veröffentlichen zu dürfen.
Anmerkungen
[1] Vgl. Frank Decker et al., Das autoritäre Syndrom: Dimensionen und Verbreitung der Demokratie-Feindlichkeit, in: ders./ Elmar Brähler (Hrsg.), Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments – neue Radikalität, Gießen 2020, S. 179–209, hier S. 202. Mit „Verschwörungsmentalität“ ist die „grundlegende Bereitschaft, hinter gesellschaftlichen und politischen Phänomenen ein intendiertes und geheimes Handeln kleiner, mächtiger Gruppen zu vermuten“ gemeint. Clara Schließler et al., Aberglaube, Esoterik und Verschwörungsmentalität in Zeiten der Pandemie, in: ebd., S. 283–308, hier S. 287.
[2] Wolfgang Wippermann, Agenten des Bösen: Verschwörungstheorien von Luther bis heute, Berlin 2007, S. 160.
[3] Vgl. Katharina Nocun/Pia Lamberty, Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen, Köln 2020, S. 16. Glauben an solche Verschwörungserzählungen ergeben sich mehrere gefährliche Tendenzen für demokratische Gesellschaften. Die Mitte-Studien zeigen, wie eng Verschwörungsmythen mit der Abkopplung vom demokratischen Diskurs einhergehen.
[4] Vgl. Jonas H. Rees/Pia Lamberty, Mitreißende Wahrheiten: Verschwörungsmythen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, in: Andreas Zick et al. (Hrsg.), Verlorene Mitte, feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19, Bonn 2019, S. 203–222.
[5] Vgl. Benedikt Widmaier, Beutelsbacher Konsens 2.0, in: Politische Bildung 1/2013, S. 150–156.
[6] Vgl. Gerhard Himmelmann, Demokratie-Lernen in der Schule, Schwalbach/Ts. 2017.
[7] Werner Nell, Traditionsbezüge der Esoterik und die Dialektik der Aufklärung. Zum Stellenwert und zur Strahlkraft esoterischen Wissens bei Theodor W. Adorno und in der Kritischen Theorie, in: Monika Neugebauer-Wölk et al. (Hrsg.), Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne, Berlin–Boston 2013, S. 291–308, hier S. 294.
[8] Ebd.
[9] Vgl. Michael Butter, „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien, Berlin 2020, S. 22.
[10] Vgl. ebd., S. 106.
[11] Vgl. Nocun/Lamberty (Anm. 3), S. 29.
[12] Vgl. Butter (Anm. 9), S. 111 f.
[13] Vgl. ebd., S. 113.
[14] Vgl. Nocun/Lamberty (Anm. 3), S. 30.
[15] Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 1986 [1951], S. 36.
[16] Christian Alt/Christian Schiffer, Angela Merkel ist Hitlers Tochter. Im Land der Verschwörungstheorien, München 2018, S. 36.
[17] Arnd Michael Nohl, Bildung als Formierung politischer Grundorientierungen – Anmerkungen aus Sicht der „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“, in: Erwägen Wissen Ethik 2/2009, S. 299 ff., hier S. 300.
[18] Ebd., S. 301.
[19] Vgl. Butter (Anm. 9), S. 29 ff.
[20] Vgl. Barbara Schäuble/Albert Scherr, „Ich habe nichts gegen Juden, aber …“. Ausgangsbedingungen und Ansatzpunkte gesellschaftspolitischer Bildungsarbeit zur Auseinandersetzung mit Antisemitismen, Berlin 2006, S. 38 ff.; Tami Ensinger, Für eine differenzierte Wahrnehmung des Lernraumes und unterschiedlicher Motivationen hinter Antisemitismus, in: Bildungsstätte Anne Frank (Hrsg.), Weltbild Antisemitismus, Frankfurt/M. 2013, S. 9ff.
[21] https://www.bpb.de/lernen/projekte/abdelkratie/
[22] https://www.hidden-codes.de/