Bericht vom Fachtag „Religion verhandeln?! Aushandlungsprozesse im Kontext von Demokratie, Gesellschaft und Bildung” am 9./10. September 2020
20. Oktober 2020 | Religion und Religiosität

Der Fachtag „Religion verhandeln?! Aushandlungsprozesse im Kontext von Demokratie, Gesellschaft und Bildung“, den Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung und ufuq.de am 09. und 10. September 2020 durchführten, widmete sich den persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Aushandlungsprozessen im Umgang mit religiös geprägten Lebenswelten. Wie viel Religion verträgt die politische Bildungsarbeit? Welchen Unterschied macht es, ob Fachkräfte selbst religiös sind? Wie können areligiöse Menschen mit religiösen Fragen in Workshops umgehen?

Die Kooperation der beiden sehr unterschiedlichen Träger erklärt die Zusammensetzung des Fachtages: Das Spektrum der Teilnehmer*innen reichte von Praktiker*innen aus der schulischen und außerschulischen Bildungs- und Jugendarbeit über Akteur*innen der Präventionsarbeit bis zu Haupt- und Ehrenamtlichen aus Gemeinden und interreligiösem Dialog. Der Beitrag von ufuq.de erfolgte im Rahmen des KN:IX – Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“, Minor wirkte im Rahmen des Projektes „Demokratie, Religion, Vielfaltsdiskurse – ein Spannungsverhältnis?!“ an dem Fachtag mit.

Der Ablauf

Der Fachtag, der aufgrund der Corona-Pandemie online stattfand, verband unterschiedliche Online-Formate: In zwei Input-Sessions fassten Prof. Oliver Hidalgo von der Universität Münster und Prof. Haci-Halil Uslucan von der Universität Duisburg-Essen die wichtigsten Begriffe und Konfliktlinien im Themenfeld Religion, Pluralismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt zusammen. In mehreren Workshopphasen diskutierten die Teilnehmenden in Kleingruppen Einzelaspekte im Zusammenhang von Religion und Bildungsarbeit und deren Anwendung in der pädagogischen Praxis, in moderierten Gesprächen mit geladenen Gästen ging es dagegen vor allem auch darum, unterschiedliche Ansätze und Perspektiven sichtbar zu machen. Wie bei Präsenzveranstaltungen fanden auch bei diesem Fachtag wichtige Gespräche in den Pausen statt, für die ein virtueller Kaffeeraum eingerichtet wurde. Hier finden Sie noch einmal das komplette Programm (PDF).

Input „Die gesellschaftliche Neuverortung von Religionen in säkularisierten Gesellschaften: Wie wird religiöse Pluralität politisch und sozial ausgehandelt?“ (Prof. Dr. Oliver Hidalgo, Universität Münster)

In seinem Input gab Oliver Hidalgo einen kurzen Überblick über den Begriff der Säkularisierung und die verschiedenen Debatten, die mit diesem Konzept verbunden sind.

Hidalgo begann mit der Aussage, oft werde das Säkulare als das Gegenteil von Religion definiert, allerdings zeige die historische Entwicklung, dass Säkularisierung und Religion in einer engen wechselseitigen Beziehung stünden, sie seien gewissermaßen „siamesische Zwillinge“.

Der bekannte Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde beschreibe das Säkulare als die Ausdifferenzierung eines Bereichs in der Gesellschaft, der nicht automatisch vom Religiösen durchdrungen ist. Der Philosoph Charles Taylor spreche dagegen von einer religiösen Fragilität. Glaube und Nicht-Glaube existierten parallel. Das könne zu Konflikten führen und unterschiedliche Perspektiven träten in Konkurrenz. Dadurch wandelt sich das Religiöse: Es gibt weniger Einbindung in feste Gemeinschaften und es kommt häufiger zu Konversionen.

Die politische Bildung, so Hidalgo, sei in diesem Kontext als Vermittlungstätigkeit zu verstehen. Die verschiedenen Seiten müssten sich akzeptieren lernen.

Säkularisierung, so Hidalgo weiter, sei notwendige Bedingung für Demokratie und diese wiederum für die Pluralität von Religionen. Zugleich sei religiöser Pluralismus eine Herausforderung für Demokratien und Migrationsgesellschaften.

Hidalgo wies darauf hin, dass es in säkularisierten Gesellschaften keine einheitlichen Vorgaben gäbe, wie das Verhältnis von Religion und Politik organisiert werden solle. Es könne – je nach Land – sehr unterschiedlich ausfallen. Das zeige beispielsweise ein Vergleich zwischen Deutschland, den USA und Frankreich. Die politische Bildung müsse dies aufzeigen und die Handlungsspielräume der Religionen ausloten.

Die soziale und politische Aushandlung der religiösen Pluralität solle, so Hidalgo abschließend, nach demokratischen Prinzipien erfolgen. Das heißt, der Gesetzgeber sei immer wieder aufgefordert, das Verhältnis neu anzupassen, wenn sich die soziale Realität verändere. Das hätten auch Gerichte immer wieder betont, wenn sie zu Fragen wie Kopftuchstreit oder Kruzifix im Klassenzimmer angerufen wurden. Hier sei politische Bildung gefragt, auf die rechtlichen Mechanismen hinzuweisen.

Workshop 1: Zum Umgang mit religiösen Fragen und konfessionellen Perspektiven in der politischen Bildung

Im Workshop „Zum Umgang mit religiösen Fragen und konfessionellen Perspektiven in der politischen Bildung“, der von Sakina Abushi und Mustafa Ayanoğlu von ufuq.de geleitet wurde, ging es um Situationen in der Bildungspraxis mit Jugendlichen und Fortbildungen mit Fachkräften, bei denen explizit religiöse oder theologische Fragen aufkamen. Wie soll man als politische*r Bildner*in mit solchen Situationen umgehen? Welche Rolle spielt die Positioniertheit der Workshop-Teilnehmer*innen, aber auch der Workshop-Leitenden: Werden sie als religiös gelesen? Was bedeutet es, aus konfessioneller Perspektive politische Bildung zu betreiben?

Es wurden mehrere Fallbeispiele diskutiert.

Fallbeispiel Händeschütteln: Ein muslimischer männlicher Teamer macht einen Workshop mit ausschließlich nicht-muslimischen weiblichen Lehrkräften. Eine Lehrerin berichtet, dass ein Jugendlicher sich geweigert habe, ihr die Hand zu geben und fragt, ob der Teamer ihr das islamisch erklären könne. Was soll er tun?

Folgende Lösungen werden in der Diskussion vorgeschlagen:

  • Als Nicht-Theologe sei es schwierig, islamische Fragen zu beantworten, deswegen sei es besser, auf der pädagogischen Ebene zu bleiben.
  • Es sei gut, nach den Gründen für das Entsetzen der Lehrerin zu fragen. Schließlich gebe es (nicht erst seit Corona) auch viele andere Gründe, nicht die Hand zu geben.
  • Man sollte die Diversität der theologischen Positionen zu diesem Thema aufzeigen. Die meisten Gelehrten sagten, dass es in einer solchen Situation richtig sei, die Hand zu geben.
  • Es solle nach den Ursachen für die Haltung des Schülers gefragt werden. Was ist seine Motivation? Was ist der Grund für den Ärger der Lehrerin?
  • Wenn der Teamer nicht auf den religiösen Aspekt der Frage eingeht, ist die Lehrerin womöglich nicht mit der Antwort zufrieden und sucht sie sich andernorts. Daher ist es sinnvoll, eine doppelte Antwort zu suchen. Eine, die das Religiöse mit dem Pädagogischen verbindet.

Im Anschluss an die Diskussion beschrieb der Workshopleiter, wie der Teamer tatsächlich mit der Situation umgegangen war: Er hatte im Plenum eine religiöse Erklärung vermieden, aber anschließend mit der Lehrerin gesprochen. So hat er festgestellt, dass die Lehrerin ein gutes Verhältnis zu dem Schüler hat. Sie schien keine Sorge zu haben, dass er sich radikalisiere, sondern wollte sein Handeln verstehen. Hier sei die entscheidende Frage: Zeigt der Schüler der Lehrerin Respekt oder will er sie durch sein Verhalten erniedrigen? Je nachdem sollte sie eine pädagogische Lösung finden.

Fallbeispiel Koransure auf dem Fußboden: In einem Workshop mit muslimischen Jugendlichen legt der ebenfalls muslimische Teamer Bilder auf den Fußboden, um eine Übung damit zu machen. Als er auch eine Koransure auf den Boden legt, brechen die Jugendlichen die Übung ab. Es sei nicht akzeptabel, das Wort Gottes auf den Boden zu legen. Was soll der Teamer tun?

Folgende Lösungen werden in der Diskussion vorgeschlagen:

  • Es sei klar, dass Jugendliche dies als verletzend empfinden. In dieser Situation solle der Teamer sich entschuldigen und hoffen, dass sich ein kreativer Ausweg bietet
  • Es ist eine gute Chance, im geschützten Raum zu üben, wie die Jugendlichen mit dieser Art von Störung umgehen können, wie sie ja z.B. auch in der Schule auftreten könne

Wie hat der Teamer die Situation gelöst?

Tatsächlich hat der Teamer sich entschuldigt und den Teilnehmenden die Papiere in die Hand gegeben. Sie haben ihren Unmut zum Thema gemacht. Zum Schluss wurde vereinbart, dass heilige Texte im Workshop nicht auf den Boden gelegt werden: Weder islamische noch christliche oder jüdische.

Workshop 2: Feminismen, Gender und Religion – Ein Austausch über mögliche Chancen, Herausforderungen und Konflikte

Im Workshop „Feminismen, Gender und Religion – Ein Austausch über mögliche Chancen, Herausforderungen und Konflikte“, der von Elif Adam und Tanja Berg von Minor geleitet wurde, ging es um die persönliche Positionierung der Teilnehmer*innen und ihren Bezug zum Thema – und darum, wie sich diese Perspektiven in den verschiedenen Arbeitsbereichen und im Zusammenhang mit politischer Bildungsarbeit zeigen. Deutlich wurde dabei, wie sehr sich die Positionen zwischen religiösen und nicht-religiösen Praktiker*innen unterscheiden können: Ist Religion Ressource oder Herausforderung in der Arbeit mit Jugendlichen? Zentral war auch die Feststellung, dass Aushandlungsprozesse in Bezug auf Religion – also zwischen religiösen und nicht-religiösen Personen oder zwischen Gläubigen verschiedener Religionen – immer im Kontext zu sehen sind: Machtverhältnisse in der Gesellschaft spielen hier ebenso hinein wie rassistische Diskurse und die politische Stimmung.

Input 2: „Religion und gesellschaftliche Teilhabe. Vom Nutzen und Nachteil der Religiosität in modernen Gesellschaften“ (Prof. Dr. Hacı-Halil Uslucan, Universität Duisburg-Essen)

Haci-Halil Uslucan konzentrierte sich in seinem Input auf den Zusammenhang von Migration, Integration und Religion: Welche Rolle spielt Religion für Migrant*innen? Behindert oder befördert Religiosität die Integration und inwiefern hat sich die Haltung der deutschen Gesellschaft zur Religion durch die Migration aus muslimischen Ländern in den vergangenen Jahrzehnten verändert?

Uslucan begann seinen Vortrag mit der Bemerkung, das Verhältnis zur Religion habe sich in Deutschland – auch, aber nicht nur, aufgrund von Einwanderung – in den vergangenen Jahrzehnten verschoben. Auffällig sei, dass es zugleich einen Trend zu mehr Säkularisierung gebe, das heißt größere Bereiche der Gesellschaft werden von nicht-religiös begründeten Regeln bestimmt. Gleichzeitig gebe es einen Trend zu individualisierter Religiosität.

Religion, so Uslucan, könne dabei nicht als Integrationshindernis beschrieben werden. So zeigten Studien, dass religiöse Menschen gesünder und zufriedener seien und mit ihrer Umgebung besser im Einklang stünden. Für Erfolg auf dem Arbeitsmarkt, in der Schule und bei der Interaktion mit der Gesellschaft sei der Bildungshintergrund wichtiger als die religiöse Zugehörigkeit.

Uslucan ging zudem auf die „positive Neutralität“ ein, die das Verhältnis des Staates in Deutschland zur Religion kennzeichne. Der Staat sei neutral, was die Wahl und die Art der Religionsausübung angehe, und unterstütze Religionsgemeinschaften beispielsweise im Bereich des Religionsunterrichts oder der Kirchensteuern. Die Verfassung und die Gesetze ließen eine Öffnung und zunehmende religiöse Diversität zu. In der Praxis gebe es jedoch Nachbesserungsbedarf. So sei es überfällig, Muslim*innen in ihrer Vielfältigkeit den Gläubigen anderer Religionen gleichzustellen. Das Beharren auf dem hergebrachten Staatskirchenrecht, das die Anerkennung des Islams als Körperschaft verhindere, sei überholt. Auch sei es an der Zeit, dass ausgrenzende Debatten beispielsweise über das Kopftuch beendet würden.

Studien haben ergeben, dass die Menschen einen festen Arbeitsplatz und die Staatsbürgerschaft als wichtigste Kriterien für Zugehörigkeit zur Gesellschaft ansehen. Das stimme optimistisch, denn beide Faktoren ließen sich steuern. Wichtig, so Uslucan abschließend, seien auch Begegnungen unter den Menschen und dass allen das Gefühl gegeben werde, dass sie die Gesellschaft und ihr Umfeld aktiv mitgestalten könnten.

Der zweite Tag begann mit einer Debatte zwischen Eren Güvercin von der Alhambra-Gesellschaft und Silke Radosh-Hinder vom Kirchenkreis Berlin-Mitte zum Thema „Religion, Identitäten und Pädagogik – Religion als Ressource und Herausforderung“. Sie können die Debatte hier im Wortlaut nachlesen:

Debatte: „Religion, Identitäten und Pädagogik – Religion als Ressource und Herausforderung“ mit Eren Güvercin (Alhambra-Gesellschaft) und Silke Radosh-Hinder (Kirchenkreis Berlin-Mitte)

Eren Güvercin ist Journalist mit Themenschwerpunkt Islam in Deutschland und türkische Migration. Er ist Mitbegründer der Alhambra Gesellschaft, die es sich zu Ziel gesetzt hat, den Diskurs unter Muslim*innen und Debatten über den Islam in Deutschland konstruktiver zu gestalten. So wurden mit dem „Muslimischen Quartett“ und „MuslimDebate“ zwei Veranstaltungsformate ins Leben gerufen, die dem Diskurs neue Impulse geben sollen.

Silke Radosh-Hinder ist evangelische Pfarrerin und stellvertretende Superintendentin im Kirchenkreis Berlin-Mitte. Sie hat zahlreiche interreligiöse Projekte in ihrem Kirchenkreis initiiert. Dazu gehört auch die derzeit im Aufbau befindliche Kita der Religionen für je 40 christliche, jüdische und muslimische Kinder. Sie promoviert an der Universität Basel im Bereich Interreligiöse Aushandlungsprozesse.

Silke Radosh-Hinder: Ob Religion Ressource oder Herausforderung ist? Ich würde sagen, sie ist ein Spannungsfeld zwischen Emanzipation und Einengung. Ich kann das gut an meiner persönlichen Erfahrung verdeutlichen. Ich bin in einem kleinen Dorf im Westfälischen aufgewachsen und habe einen eher bildungsfernen Hintergrund. Als Kind war die evangelische Gemeinde für mich ein Ort der Bildung, der Emanzipation und der Weiterentwicklung. Das hat sich verändert, als ich als Teenager in evangelikale Kreise geraten bin. Dort wurde ich sehr eingeengt und hatte große Schwierigkeiten, wieder herauszukommen. Das ist mir nur mit Hilfe von anderen gelungen, die auch gläubig waren und meine Lage verstehen konnten. Ihr Motto war: Wer glaubt, muss auch denken und wissen können. Ich bin dann später zur feministischen Linken gekommen. Das war auch nicht immer so einfach: Wenn man in dieser Szene sagt, dass man evangelische Pfarrerin werden will, erhält man sehr negative Reaktionen. Ich habe mich aber trotzdem dafür entschieden. Religion ist für mich beides: Potenzial und Herausforderung. Mit der Idee eines Dialogs zwischen den Religionen allein kann ich nicht so viel anfangen, aber ich glaube fest daran, dass ein gemeinwohlorientiertes, soziales Handeln in einem urbanen, interreligiösen und multiperspektivischen Kontext, wie wir ihn zum Beispiel in Berlin, aber auch an vielen anderen Orten in Deutschland vorfinden, unverzichtbar ist.

Eren Güvercin: Ich möchte das, was du gesagt hast, aus meiner Perspektive ergänzen. Wenn ich mir die muslimische Community anschaue, dann sehe ich Parallelen zur Situation in deiner Kirche: Religion kann, aber muss nicht zu einem Problem werden. Es werden unter Muslim*innen zuweilen Feindbilder konstruiert, die problematisch sind und einengen. Unsere Herausforderung ist, eine positive muslimische Identität für junge deutsche Muslim*innen zu stiften. Sie sollen nicht auf Feindbilder angewiesen sein, um sich zu definieren. Es geht eher um die Frage: Wo kann ich mich als Muslim*in engagieren? Was kann mein Beitrag zur Gesellschaft sein? Eigentlich haben wir viel erreicht, aber es hat in den letzten Jahren auch Rückschläge gegeben. Die Entwicklung in der Türkei hat beispielsweise zu heftigen Auseinandersetzungen in der Community geführt. Es gibt teilweise wieder Anfeindungen gegen jene, die sich als deutsche Muslim*innen verstehen und mit der Diaspora-Mentalität vieler Organisationen nichts mehr anfangen können. Manche dieser Gruppen erinnern an Heimatvertriebenenverbände und es weht in ihnen der Mief der 80er und 90er Jahre. Sie scheinen die alten Strukturen aufrechterhalten zu wollen. Die Muslimfeindlichkeit der Gesellschaft macht es ihnen einfach, sich gegen Neuerungen zu wehren.

Silke Radosh-Hinder: Ich würde mir für deine und für meine Community wünschen, dass wir in der Debatte nicht bei Fragen der Identität und bei Selbstversicherungsprozessen stehen bleiben. Zielführender ist aus meiner Sicht, sich mit Inklusions- und Ausgrenzungsprozessen zu beschäftigen. Das gilt auch für meine Kirche: Eigentlich hätte es den protestantischen Christ*innen schon vor Jahren einen Schock versetzen müssen, als die Studien zu Menschenfeindlichkeit zeigten, dass diese Einstellungen bei protestantischen Christ*innen tief verwurzelt sind. Ausgerechnet! Verstehen wir uns doch als aufgeklärt, liberal und tolerant. Nach unserem Selbstverständnis sind wir die Guten. Doch es bleibt die Frage: Welche unserer Strukturen fördern Ausgrenzung, Muslim*innenfeindlichkeit und Antisemitismus? Oder andersherum: Wie können wir erreichen, dass wir unserem eigenen Anspruch von Solidarität und Nächstenliebe gerecht werden? Warum sind unsere Gemeinden beispielsweise so weiß und bilden die Diversität der Gesellschaft nicht ab?

Eren Güvercin: Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, muslimische Vielfalt zu zeigen, statt sich mit den immer gleichen Stereotypen zu beschäftigen. Wir haben bereits sechs Veranstaltungen im Rahmen des „Muslimischen Quartetts“ organisiert. Diese Talkrunden bestehen aus drei muslimischen Teilnehmer*innen und einem Gast. Es geht darum, die typische Talkshow-Situation umzudrehen und die Vielfalt muslimischer Positionen aufzuzeigen. Statt uns an Vorurteilen abzuarbeiten und zu definieren, wogegen wir sind, geht es darum, wofür wir sind. Dieses neue Selbstbewusstsein ermöglicht, sich über die medialen Themensetzungen zum Islam auch mal hinwegzusetzen und eine Frage von allgemeiner gesellschaftlicher Bedeutung zu diskutieren. Wir wollen den Problemen nicht ausweichen, aber unsere eigenen Themen setzen und auch untereinander kontrovers diskutieren. Bei unserem anderen Projekt „MuslimDebate“ geht es eher um heikle Themen, wie zum Beispiel Antisemitismus bei Muslim*innen. Es gibt immer noch Stimmen aus den Verbänden, die sagen, dass es das nicht gibt. Aber die Realität ist eine andere, Antisemitismus ist auch unter Muslim*innen weit verbreitet. Es ist wichtig, dass wir darüber reden. Ich würde aber zwischen Individuen und Verbandsvertreter*innen unterscheiden. Individuen haben das Privileg, sich auszusuchen, ob sie über kritische Themen öffentlich sprechen wollen. Islamverbände sollten Stellung beziehen. Man kann nicht darüber klagen, dass man nicht auf Augenhöhe als Religionsgemeinschaft anerkannt wird, sich aber weigern, zu wichtigen Themen Stellung zu nehmen. Dass diese Organisationen sich nicht positionieren und keine Verantwortung übernehmen wollen, ist für junge Muslim*innen enttäuschend. Sie suchen sich dann ihre Repräsentant*innen im Internet und finden bei Hizb-ut-Tahrir- und Pierre Vogel-Positionen, die problematisch sind.

Silke Radosh-Hinder: Unser Kirchenkreis gründet gerade eine Kindertagesstätte für jüdische, muslimische und christliche Kinder. Da haben wir drei Glaubensgemeinschaften, die als Träger die Kooperation aushandeln. Diese Aushandlung soll eigentlich auf Augenhöhe stattfinden, aber das ist nicht einfach eins zu eins umzusetzen, denn wir stehen ja in einem gesellschaftlichen Kontext mit klaren Machtverhältnissen. Wenn man sich die Diskussionen um die Finanzierung der Kita anschaut, sieht man auch schnell, wie die Machtverhältnisse sind. Besonders ist auch, dass wir die Kinder ihren Religionen zuordnen. Die Idee ist hier, dass sie jeweils in ihrer Religion beheimatet sind und zugleich sehen, dass andere auch in ihren Religionen beheimatet sind. Natürlich ist dies nicht Spiegel der gesellschaftlichen Normalität, denn hier sind die drei Religionen zumindest aus Sicht der Kinder gleichberechtigt. Das ist sonst in der Gesellschaft nicht so.

Ich plädiere dafür, dass wir Religion, auch in der politischen Bildung, als Potenzial sehen sollten. Wir sind mit Religiosität in der Gesellschaft konfrontiert und mit ihr einher gehen nun einmal auch Verletzlichkeit, Emotionalität und Irrationalität. Man kann sie als Ressource verstehen oder man kann versuchen, sie zu verdrängen. Dann entsteht aber ein Vakuum und man muss damit rechnen, dass sich radikale Tendenzen verbreiten.

Workshop 3: Wie umgehen mit absoluten Wahrheitsansprüchen? Wahrheit und Kontroversität in der politischen Bildung

Im Workshop „Wie umgehen mit absoluten Wahrheitsansprüchen? Wahrheit und Kontroversität in der politischen Bildung“, der von Götz Nordbruch von ufuq.de geleitet wurde, stand die Frage des Umgangs mit einer Vielfalt von absoluten Wahrheitsansprüchen im Zentrum. Wie reagieren Teamer*innen, wenn sie mit Gruppen von Gläubigen arbeiten, die jeweils ihre Religion und ihre Art zu leben für die absolut richtige halten? Wie lässt sich Jugendlichen vermitteln, dass es mehrere zum Teil sich widersprechende Wahrheitsansprüche geben kann, die alle ihre Berechtigung haben und sich sogar auf Augenhöhe begegnen sollten? Es gilt als Prinzip der politischen Bildungsarbeit, dass Sachverhalte, die im wirklichen Leben und in der Wissenschaft als kontrovers gelten, auch in der Arbeit als kontrovers dargestellt werden. Es wurde darüber diskutiert, inwieweit sich dies auf die Arbeit zum Thema Religionen gerade mit Jugendlichen übertragen lässt: Gerade in der Arbeit mit Jugendlichen könne dies leicht zu Verunsicherung und damit verbunden zum „Aussteigen“ der Jugendlichen führen.

Zugleich müsse beachtet werden, so ein Argument, dass politische Bildungsarbeit nicht ein „bunter Blumenstrauß“ verschiedener gleichberechtigter Wahrheitsansprüche sei. Es gebe den klaren Auftrag zur demokratischen Ausrichtung.

Es wurde das Beispiel eines Teamers bei einem Kooperationspartner diskutiert, der aus religiösen Gründen seine Tätigkeit aufkündigte. Er könne nicht Workshops geben, in denen islamische Positionen zitiert würden, die Homosexualität nicht verurteilten. Für Träger der politischen Bildung, die Peer-Ansätze verfolgen, stelle diese Haltung ein Problem dar: Wie kann in der politischen Bildung mit der Vielfalt des Islams und der Religionen insgesamt umgegangen werden – und welche Erwartungen richten sich dabei an Teamer*innen, die sich selbst auf religiöse Wahrheiten berufen?

Als anderes Beispiel wurde ein Workshop genannt, in dem Jugendliche sagten, dass sie alle Juden hassten, weil ihre Familien in Palästina umgebracht worden seien. Hier wurde als Handlungsoption vorgeschlagen, die Aussage in einen anderen Kontext zu rücken, ohne die Betroffenheit der Jugendlichen in Frage zu stellen. Nach dem Motto: „Was würdest Du denken, wenn jemand sagen würde, ich hasse alle Muslime, weil… was würde das dann bedeuten?“ Zugleich ginge es auch darum, abwertende Aussagen als Grenzüberschreitung zu benennen und eventuell Betroffene zu schützen.

Workshop 4: Säkularität(en) im Rahmen des interreligiösen Dialogs: Aushandlungsprozesse junger Erwachsener inmitten religiöser und säkularer Lebensbereiche und Wertvorstellungen

Im Workshop „Säkularität(en) im Rahmen des interreligiösen Dialogs: Aushandlungsprozesse junger Erwachsener inmitten religiöser und säkularer Lebensbereiche und Wertvorstellungen“, moderiert von Tanja Berg, wurde erneut über das Verhältnis von Religion und Säkularismus diskutiert, das bereits Oliver Hidalgo in seinem Input thematisiert hatte. Im Mittelpunkt stand dabei aber die Frage nach dem Umgang in der Praxis.

So ging es etwa um die gefühlte Gegensätzlichkeit zwischen säkularen und religiösen Menschen, die bei näherer Betrachtung jedoch viele Werte teilten. Es sei in der politischen Bildungsarbeit wichtig, dies hervorzuheben. Säkular dürfe keinesfalls mit wertfrei gleichgesetzt werden.

Weitgehende Übereinstimmung herrschte in der Runde zu folgenden Punkt: Wenn religiöse oder anders orientierte Menschen davon ausgehen, dass auch andere sich an Werten orientieren und diese Werte oft mit den eigenen im Einklang stehen, können sie das Zusammenleben mit den jeweils anderen nicht nur tolerieren, sondern auch akzeptieren.

Während einige Teilnehmer*innen den Ansatz vorschlugen, dass es in der Diskussion mit Jugendlichen darum gehen solle, nach Gemeinsamkeiten in den Positionen zu suchen und so Brücken zu bauen, gab es dazu auch Gegenstimmen:

Die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner sei nicht immer der beste Ansatz, da in manchen Fällen nur wenig Substanz übrigbleibt. Egalitäre Differenz könne dann die bessere Option sein: Man einige sich darauf, dass man nicht einer Meinung ist, könne dies aber aushalten. Dies kann aber nur funktionieren, wen das Machtgefälle nicht zu stark ist.

Am Ende der Diskussion zeigte sich: Egal, an welchem Aspekt die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, Religion(en) und der Säkularisierung in Deutschland ansetzt, immer landet sie bei der Erkenntnis, dass Rassismus in der Gesellschaft und die Machtverhältnisse zwischen Mehrheit und Minderheit, zwischen Alteingesessenen und neu Dazugekommenen, zwischen Männern und Frauen ganz entscheidende Faktoren sind. Von ihnen hängt ab, unter welchen Bedingungen das Zusammenleben und das Verhältnis von Religion und Politik ausgehandelt werden kann.

Im Anschluss an die Workshops fand eine Debatte zwischen Nina Eleni Sarakini von HEROES Berlin und Özcan Karadeniz vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften in Leipzig statt. Beide diskutierten zum Thema „Kulturalisierungen und Zuschreibungen – vom Umgang mit Stolz, Ehre und Verantwortung“. Hier können Sie die Debatte im Wortlaut nachlesen:

Debatte „Kulturalisierungen und Zuschreibungen – vom Umgang mit Stolz, Ehre und Verantwortung“ mit Nina Eleni Sarakini (HEROES® Berlin) und Özcan Karadeniz (Verband binationaler Familien und Partnerschaften in Leipzig)

Nina Eleni Sarakini ist Projektleiterin bei HEROES® Berlin. Das Projekt richtet sich an junge Männer, die mit einem Peer-to-Peer-Ansatz Workshops zum Thema Ehre und Geschlechtergerechtigkeit geben und an Jugendliche, die sich für eine gleichberechtigte Gesellschaft engagieren wollen. Das Berliner Projekt, mit einem Netzwerk aus Standorten in Deutschland und Österreich, hat zahlreiche Preise erhalten, gerät aber auch immer wieder in die Kritik.

Özcan Karadeniz ist Geschäftsführer des Verbandes binationaler Familien und Partnerschaften in Leipzig. Bundesweit gibt es den Verband bereits seit 1972. Er setzt sich für die Belange von binationalen und bikulturellen Familien und Partnerschaften ein. Kritik an Muslimfeindlichkeit und Rassismus sind weitere Schwerpunkte.

Nina Eleni Sarakini: Wir machen bei HEROES® die Erfahrung, dass kulturelle Prägung, aber auch kulturelle Zuschreibungen in der politischen Bildungsarbeit durchaus eine Rolle spielen. Unser Ansatz ist, dass wir Peers in Schulklassen schicken, um mit den Jugendlichen über heikle Themen wie Ehre und Geschlechterrollen zu sprechen. Da macht es beispielsweise einen großen Unterschied, ob der Peer-Educator in seiner Lebenswelt Erfahrungen mit Rassismus und tradierten patriarchalen Geschlechterrollen hat. Zugehörigkeit schafft Nähe. Es geht um Themen, die oft schambelastet sind. Häufig haben die Jugendlichen in diesem Zusammenhang schmerzhafte Erfahrungen in ihren Familien gemacht. Im Laufe von solchen Workshops stellt sich manchmal heraus, dass sich auch Jugendliche ohne familiäre Migrationsgeschichte mit sehr ähnlichen Themen beschäftigen. Die Themen, die in der Außenwelt fälschlicherweise als vermeintlich typisch „arabisch“, „türkisch“ oder „muslimisch“ definiert werden, sind also Themen, die tatsächlich viele Jugendliche kennen. Diese Erkenntnis steht oft als Ergebnis am Ende unserer Workshops. Wir bewegen uns in einem Spannungsfeld zwischen Kulturalisierung und Kulturrelativierung. Man darf den Kontext nicht vergessen: Oft geben uns die Lehrkräfte mit auf den Weg, dass wir doch bitte mal den Jugendlichen erklären sollen, wie man sich in Deutschland benimmt. Dies nutzen wir für einen Gesprächseinstieg, um Fachkräfte in den Fortbildungen für den Rassismus und die Otheringprozesse zu sensibilisieren, mit denen die Jugendlichen häufig konfrontiert werden und dann fragen wir die Lehrkraft auch, was sie denn unter Ehre versteht. Es geht in jedem Fall immer darum, als homogen wahrgenommene Gruppen zu dekonstruieren und Gemeinsamkeiten, beispielsweise zwischen Lehrkräften und Jugendlichen, hervorzuheben.

Özcan Karadeniz: Wir versuchen in unserer Arbeit ja beide, eine bestimmte Bildwelt und gesamtgesellschaftliche Dominanzen und Interpretationen aufzulösen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich mit dem von dir beschriebenen Ansatz mitgehen kann. In unserer Arbeit haben wir es – zugespitzt formuliert – mit Fachkräften zu tun, die an ihrer Unsicherheit in der Begegnung mit migrantisierten Jugendlichen leiden und häufig von uns eine Art Handlungsanleitung haben wollen. Dabei liegt der Fokus auf den Jugendlichen und dem Wunsch, diese besser zu verstehen. Der aus meiner Sicht entscheidende Aspekt, die eigene Unsicherheit nämlich, bekommt zu wenig Raum. Wenn die gleichen Fachkräfte Jugendlichen ohne Migrationshintergrund begegnen, die sich ähnlich verhalten, dann haben sie als Pädagog*innen Vorstellungen davon, wie sie problematische Konstellationen angehen und auflösen können. Ich beobachte aber, dass sie häufig wenig Zugriff auf ihre Ressourcen haben, sobald sie Jugendliche vor sich haben, die anders aussehen und die sie anders einsortieren. Das ist ein Phänomen, das auch häufig in der Begegnung mit den Vätern und Müttern dieser Jugendlichen auftritt.

Meine Sorge ist, dass, wenn Sie mit ebendiesen Fachkräften über Ehrvorstellungen sprechen, letztlich vorwiegend handlungsleitende und essentialisierende Konzepte wie Ehre, Tradition usw. hängen bleiben. Das führt meiner Erfahrung nach dazu, dass der einzelne Mensch und seine jeweils spezifischen Umstände nicht gesehen werden.

Nina Eleni Sarakini: Es hilft uns aber nicht weiter, so zu tun, als gäbe es keine Lebenswelten, in denen diese Vorstellungen von Ehre eine Rolle spielen. Es gibt junge Männer, die von diesen Vorstellungen von Männlichkeit betroffen sind und darunter leiden. Wir sehen diese jungen Männer in den wöchentlichen Treffen, den Trainings, an denen sie ja freiwillig teilnehmen und das jahrelang. Wir sollten ihnen auch nicht die Kompetenz absprechen, selbst zu entscheiden, wozu sie sich austauschen und engagieren wollen. Auch Frauen müssen ein bestimmtes Bild der Frau erfüllen, das die Community vorgibt. Uns ist wichtig, die Problematik anzusprechen, da sie zu Belastungen führt. Wir versuchen aber, davon wegzukommen, dass Ehre in der Außenwahrnehmung immer als muslimisches Problem gesehen wird. Es gibt auch in vielen anderen Kulturen starke Vorstellungen von Ehre und Scham. Wir setzen am Kern der Ehrvorstellung an: Sie hindert Menschen daran, selbstbestimmt zu leben. Und das betrifft natürlich auch Menschen ohne familiäre Migrationsgeschichte.

Özcan Karadeniz: Gibt es problematische migrantische Männlichkeiten? Natürlich ja, und ich finde es auch wichtig, dass das benannt wird. Es gibt aber auch eine rassistische Dominanzgesellschaft, die bei der Aufarbeitung ihrer diskriminierenden Praktiken noch ganz am Anfang steht. Unser Selbstbild als Gesellschaft steht im Widerspruch zur Realität: Es ist nicht so, dass in Deutschland volle Gleichberechtigung der Geschlechter herrscht. Da braucht man nur einmal den Pay-Gap der Geschlechter und die Gewalt gegen Frauen oder die allgegenwärtige Sexualisierung ihrer Körper anzuschauen. Statt die fortdauernden patriarchalen Strukturen in der Gesellschaft zu thematisieren, schaut man vorwiegend auf problematische Verhältnisse bei jungen migrantischen Männern. Bemerkenswert und auch oft entlarvend finde ich das Timing solcher aufkommenden Diskurse: Aktuell verstärken sich die Erwartungshaltungen gegenüber Männern in Bezug auf eine moderne, fürsorgliche, an Gleichberechtigung orientierte Männlichkeit, zugleich sind althergebrachte Rollenbilder von starker, versorgender Männlichkeit noch virulent. Bei vielen Männern löst das Unsicherheiten und Überforderungsgefühle aus. Dass sich zeitgleich der Fokus auf die vermeintlich rückständige problematische Männlichkeit „anderer Männer“ richtet, ist meines Erachtens kein Zufall, sondern dient der Stabilisierung des Selbst. Diskurse über „andere Männer“, die „unsere“ Frauen bedrohen ziehen sich durch die Geschichte und haben immer wieder Konjunktur, sie dienen als Ressource der Stabilisierung und Grenzziehung und legitimieren zumeist Ausschlussprozesse. Ohne diese Kontextualisierung finde ich das Sprechen über vermeintlich problematische Verhältnisse unter migrantischen Jugendlichen problematisch.

Nina Eleni Sarakini: Wir ecken mit unserem Ansatz an. Zugleich sehen wir aber den Bedarf für Gespräche bei den jungen Männern, die zu uns kommen. Sie merken, dass sie eine Unstimmigkeit in ihrer Identität haben. Sie merken es selbst und an den Reaktionen ihrer Umwelt. Sie wollen darüber sprechen. Viele kommen seit Jahren und bringen immer wieder Freunde mit. Sie setzen sich mit schwierigen Themen auseinander. Wir sehen uns in erster Linie als sicheren Raum für (post-)migrantische Jugendliche, die Interesse an diesem speziellen Aspekt des Patriarchats haben, weil sie davon betroffen sind und nicht per se an alle, denen eine familiäre Migrationsgeschichte zugeschrieben wird. Auch unsere Ausbildung ist sehr intensiv: Bevor die Peers in die Schulen dürfen, müssen sie eine Trainingsphase von einem Jahr absolvieren, in der Themen wie Rassismus und Männlichkeitsbilder eine wichtige Rolle spielen. Das Othering ist ja nicht etwas, was sie bei uns lernen. Es findet permanent statt. Zum Beispiel in den Schulen durch die Lehrkräfte.

Heroes gegen Unterdrückung im Namen der Ehre für Gleichberechtigung: Das ist unser Name, aber es geht nicht nur um Ehre, sondern um unterdrückende Mechanismen und darum, Kritik am Patriarchat zu äußern, das uns ja alle behindert.

Özcan Karadeniz: Da bin ich ganz bei dir und ich finde auch, dass sich einiges in dieser Hinsicht bewegt. Noch vor ein paar Jahren war es kaum möglich, öffentlich über Rassismus zu debattieren. Wir alle müssen uns viel stärker mit Ungleichheitsverhältnissen und Machtstrukturen auseinandersetzen, sie aufdecken und thematisieren. In Bezug auf rassistische Strukturen in pädagogischen Einrichtungen stellt sich dann auch die Frage, warum in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer die Einteilung in originär Deutsche und Migrant*innen, Migrationshintergründe und Ausländer*innen so präsent ist, welche Obsession dem zu Grunde liegt und welchen Nutzen sie hat.

Nina Eleni Sarakini: Ich bin auch der Meinung, dass sich viel verändert und dass wir auf einem guten Weg sind. Gleichzeitig gibt es immer wieder Punkte, wo die Frage aufkommt: Einmal Schwarzkopf, immer Schwarzkopf? Man denke nur an den NSU oder Hanau. Am Ende zählen das Äußere und der Name. Vielleicht erklärt das, warum manche von unseren Jungs so lange dabeibleiben: Sie sind Peer-Educators, weil sie sich mit ihrer eigenen Identität beschäftigen und dann irgendwann zu der Frage kommen: Was für ein Vater möchten sie sein?

Ergebnisse

Der Fachtag war geprägt von intensiver Auseinandersetzung zwischen Kolleg*innen aus unterschiedlichen Fachbereichen und Tätigkeitsfeldern. Die Diversität der fachlichen Hintergründe erwies sich dabei als bereichernd: Manche Teilnehmer*innen verstanden sich als eher wenig religiös, andere verstanden sich als gläubig. Manche arbeiteten im Kontext von Prävention und Demokratieförderung mit Jugendlichen, wieder andere engagierten sich in der interreligiösen Zusammenarbeit. Gemeinsam war ihnen, dass sie sich mit politischer Bildung vor allem mit Jugendlichen beschäftigen und es in ihrer Arbeit häufig um Themen rund um gelebte Religion und Zusammenleben in der Gesellschaft geht.

In der Diskussion wurden häufig Beispiele aus der praktischen Bildungsarbeit zur Diskussion gestellt. Wie lassen sich die theoretischen Erkenntnisse über Religion und Säkularisierung und die damit verknüpften Themen Rassismus und Diskriminierung in die pädagogische Praxis umsetzen? Viele Perspektiven kamen zusammen und der Fachtag war geprägt von einer sehr kollegialen Auseinandersetzung.

Ganz deutlich wurde in der Diskussion, dass wir weit entfernt sind vom Ideal eines gleichberechtigten Aushandlungsprozesses im Kontext von Demokratie, Gesellschaft, Religion und Bildung, wie es im Titel der Veranstaltung suggeriert wird. Es sei, so ein Teilnehmer, eventuell nötig, den Titel zu verändern: Statt eines Aushandlungsprozesses auf Augenhöhe sei es vielleicht realistischer, von einen politischen Kampf zu sprechen, in dem sich Minderheiten ihre Rechte erstreiten müssten – womit sich auch für die politische Bildung neue Fragestellungen ergeben würden.

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