Der Umgang mit Radikalisierungstendenzen ist für viele Lehrerinnen und Lehrer eine Herausforderung. Diese beschränkt sich nicht auf Inhalte und Methoden, sondern betrifft insbesondere auch rechtliche Fragen. Wo enden Meinungs- und Religionsfreiheit? Welche Meinungen und Verhaltensweisen sind zu akzeptieren, wann beeinträchtigen sie den Schulfrieden – und wann sind eventuell auch strafrechtliche Grenzen überschritten? In seinem Beitrag gibt Kurt Edler einen Überblick über den rechtlichen und pädagogischen Rahmen von Interventionen in Schule und Unterricht.
Politisch-religiöse Radikalisierungserscheinungen machen sich heute in vielen Schulen und Jugendeinrichtungen bemerkbar. Sie beeinflussen das Schulklima, belasten die Beziehungen, erschweren die pädagogische Arbeit, gefährden Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung und tragen in gravierenden Einzelfällen dazu bei, dass junge Menschen sich für eine Unterstützung terroristischer Ziele einspannen lassen.
Die schulische Radikalisierungsprävention sieht sich einem breiten Spektrum von Erscheinungsformen gegenüber. Sie reichen von der konfrontativen Religionsbekundung bis hin zur extremistischen Propaganda und Rekrutierung. Auf diese Herausforderung ist die pädagogische Praxis oft genauso wenig vorbereitet wie Schulleitungen und Schulaufsichten. Die vorliegende Anregung versteht sich als Rückenstärkung für die demokratische Schule, die sich nicht nur den Menschenrechten und den Grundwerten unserer Verfassung, sondern auch dem erreichten Freiheits- und Emanzipationsgrad der offenen Gesellschaft verpflichtet fühlt.
Auch Schulen, die bisher nicht betroffen sind, sollten ihre Verantwortung wahrnehmen und sich – ähnlich wie bei der Gewaltprävention – durch Präventionsmaßnahmen, Verfahrensregeln und Interventionsketten auf mögliche Entwicklungen vorbereiten. Entscheidend ist jedoch, ob ein Handlungskonzept auf einer soliden demokratiepädagogischen Grundlage steht. Denn vor der pragmatischen Routine kommt die Entwicklung eines Schul-Ethos und eines Selbstverständnisses unter der Fragestellung: Wie wollen wir an unserer Schule ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben in gegenseitigem Respekt realisieren?
Ein wirksames Präventionskonzept fußt auf der Kombination von Grundrechtsklarheit, politisch-historischer Bildung und Sensibilität für ideologische Versuchungen einerseits sowie pädagogischer Empathie und interkultureller Aufgeklärtheit andererseits. Es schließt auch die Wachsamkeit in Bezug auf offene und verborgene Formen der Diskriminierung mit ein. Unprofessionell handelnde Systeme erkennt man daran, dass sie zwischen den Extremen „überharte Reaktion“ und „Verharmlosung und Ignoranz“ schwanken.
Vorfallstypen – grob unterteilt
Radikalisierungstendenzen können sich in der Schule in Äußerungen und im Verhalten von Schülerinnen und Schülern zeigen als
a) rein pädagogische bzw. fachliche Herausforderung,
b) Eingriff in Rechte anderer / Störung des Schulfriedens,
c) Straftat.
Ein Beispiel für (a) ist, wenn ein Schüler im Unterricht gegen die Demokratie argumentiert, für (b) wenn Mitschülerinnen bedrängt werden, religiöse Kleidung anzulegen, und für (c) wenn ein Schüler IS-Videos an Mitschüler weiterleitet.
Die Verantwortung der Schule
Die Schule muss in der Konfrontation mit derlei Vorfällen Urteilssicherheit aufbringen. Ihr Handeln muss justiziabel sein. Es muss also den Maßgaben des jeweiligen Landesschulgesetzes und der darüber stehenden Landesverfassung genügen. Die Schule darf strafrechtlich relevante Erkenntnisse nicht zurückhalten. Im Mittelpunkt steht jedoch immer die pädagogische Sorge um die Entwicklung der jungen Menschen. Im Ernstfall geht es um Gefahrenabwehr – wenn z.B. der Verdacht besteht, ein Schüler bereite sich auf die Ausreise in den sog. „Dschihad“ vor – aber auch um den Schutz von Mitschülern vor religiösem Mobbing, ideologischer Überwältigung oder gar dschihadistischer Rekrutierung.
Um in solchen Situationen zu bestehen, braucht die Schule ein passgenaues Handlungskonzept. Es muss sich auf eine Typisierung von Radikalisierungserscheinungen stützen[1] und zumindest folgende Fragen klären:
- Wer muss bei Interventionsbedarf informiert werden?
- Welche Informationswege sind innerschulisch festzulegen?
- Wie ist der jeweilige Vorfall rechtlich / pädagogisch / psychologisch zu bewerten?
- Wie sind die mit ihm verbundenen Risiken und Folgen einzuschätzen?
- Welche vorgesetzten Stellen sind zu unterrichten?
- Besteht eine Anzeigepflicht gegenüber Polizei, Jugendämtern usw.?
Es gibt Fälle, bei denen Eile geboten ist, aber auch andere, bei denen es eher um eine langfristige Bearbeitung geht, auch, um daraus Präventionskompetenzen des Kollegiums und der Schulpartner zu gewinnen. Häufig sind Schulen „vergesslich“. Sie intervenieren einmal und gehen danach wieder zum Alltagsgeschäft über. Zu empfehlen ist daher, die Radikalisierungsprävention zu einer Säule der Schul- und Personalentwicklung zu machen und sie auch in das schulische Curriculum zu integrieren.
Die Verantwortung der Pädagogik
Die Immunisierung gegen totalitäre Rattenfänger beginnt schon mit der vorschulischen Demokratieerziehung. Ein Kind, das sich – z.B. durch die Androhung von Höllenqualen – nicht einschüchtern lässt und gelernt hat, Überwältigungsversuche und ideologische Einflüsterungen abzuwehren, wird nicht so leicht zum Opfer einer Radikalisierung werden. Darin eben liegt die demokratiepädagogische Verantwortung einer Schule. Sie muss, mit etablierten Foren wie Klassenrat und Kinderkonferenz, Gelegenheiten für die Entwicklung einer demokratischen Persönlichkeit bieten. Wenn die Schule die Maßgaben der Europarats-Charta „Education for Democratic Citizenship and Human Rights“ erfüllt, können ihre jungen Absolventen Fähigkeiten und Haltungen erwerben, die sie für totalitäre Machtphantasien unzugänglich machen. Dazu gehören Analyse- und Kritikfähigkeit, Konfliktfähigkeit, Ambiguitätstoleranz und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, aber auch ganz elementar die Freude am Diskurs und an der Vielfalt von Meinungen und Weltanschauungen. In einer Schule, in der solch eine Kultur gepflegt wird, findet, wer anderen die Unterwerfung unter eine religiöse Despotie empfiehlt, kaum Anklang.
Konfliktanlässe und rechtliche Bewertung
Es gibt jedoch auch Problemlagen „diesseits“ des religiösen Extremismus. Religion ist für manche Jugendliche zu einem Vehikel der Differenz geworden, und sie wird nicht als Friedens-, sondern als Unfriedensbotschaft in die Schule getragen. Wir bekommen mit Erscheinungsformen konfrontativer Religionsbekundung zu tun, hinter denen häufig eine Ungleichwertigkeits-Ideologie aufschimmert. Aber Vorsicht! „Es geht nicht um Religion, es geht um Pubertät“, sagte vor längerer Zeit ein alter Imam, der mit uns in einem Präventionsarbeitskreis beim Hamburger Landeskriminalamt zusammensaß. Die konfliktträchtigen Verhaltensweisen jener jungen Leute, die den Islam für sich entdeckt haben, enthalten auch immer eine Selbstoffenbarungs-Botschaft, sind womöglich Indikatoren für einen eventuell schwierigen Ablösungsprozess von einem kulturmuslimischen, aber areligiösen Elternhaus. Mit nichts lässt sich die abgeklärte Party-Gesellschaft von heute besser provozieren als mit einer Burka. Dennoch hat unsere Toleranz Grenzen. Wir müssen Grenzen ziehen, weil Demokratie nicht nur eine Regierungsform, sondern auch eine Lebensform ist. Und dazu brauchen wir das Recht – auch in der Schule. Aber niemals kann das Recht die Pädagogik ersetzen.
Religiöse Kleidung
Die Schulgemeinschaft kann den Schulbesuch an äußerliche Voraussetzungen knüpfen, verbindlich für alle (Schuluniform) oder als Anstandsregel. Sie kann dazu in ihrem Leitbild einen Kodex festlegen. Dieser darf jedoch nicht eine bestimmte Kultur oder Religion diskriminieren[2]. Wo es Grund zu der Sorge gibt, dass religiöse Selbstdarstellungen den Schulfrieden gefährden, kann sie sichtbar zur Schau gestellte Religiosität unterbinden. Wo sie religiöse Kleidung zulässt, darf diese den Sicherheitsanforderungen (Sport, Chemie) bzw. der freien Beweglichkeit (Spiel, Theater) nicht im Wege stehen. Eine religiös begründete Freistellung von der Beteiligung am Unterricht oder bestimmten anderen schulischen Aktivitäten darf es nicht geben.
Gesichtsverhüllung
Schulen und andere Erziehungseinrichtungen sollten die Gesichtsverhüllung bei Mädchen und Frauen auf keinen Fall gestatten. Kein Gericht in Europa verpflichtet eine öffentliche Schule dazu[3]. Die Gesichtsverhüllung verunmöglicht die Identifikation der Person. Die pädagogische Arbeit setzt eine menschliche Kommunikation über das Gesicht, Mimik und Gestik voraus. Die Mitschülerinnen und Mitschüler haben ein Recht darauf, dem oder der anderen ins Gesicht zu schauen. Die Gesichtsverhüllung diskriminiert die Trägerin und schließt sie aus der visuellen Kommunikationsgemeinschaft, die eine Schule immer ist, aus. Das Menschenrecht auf uneingeschränkte Teilhabe am Bildungsprozess ist unveräußerlich, kann also auch von der Trägerin nicht negiert werden.
Religiöse Vorbehalte gegen Bildungsinhalte und Schulfächer
Aus der Schulpflicht ergibt sich die verbindliche Teilnahme an allen Teilen und Formen der Ausbildung. Religiöse Bedenken gegen Fächer oder Fachinhalte (Sexualkunde, Abstammungslehre usw.) sind kein hinreichender Grund für eine Freistellung. Das gilt z.B. auch für das Kulturgut der Romantik, atheistische Schriftsteller oder den Besuch einer Kirche oder Synagoge. Die Schule muss aufpassen, dass ein religiöser Radikalismus den Bildungshorizont nicht einengt. Das gilt auch für die verbindliche Teilnahme an Schulfahrten, Exkursionen usw., die zum Pflichtprogamm der Schule gehören. Gegen Eltern, die ihre Kinder in diesem Sinne der Schulpflicht entziehen, sollten nach vergeblicher Abmahnung Bußgelder verhängt werden.
Beten und Gebetsräume in der Schule
Die Schule ist keine Sakralstätte und muss weltanschaulich und religiös plural bzw. neutral sein. Sie muss das Menschenrecht, ohne Religion zu leben, genauso achten wie die Religionsfreiheit. Gegen ein stilles Gebet einzelner Schülerinnen oder Schüler ist nichts einzuwenden. Tritt jedoch eine Gruppe mit der Forderung auf, ihr einen Gebetsraum zur Verfügung zu stellen, ist Wachsamkeit angesagt. Kollektive Kulthandlungen, womöglich unter der Anleitung eines selbsternannten kleinen „Hodschas“, darf die Schule nicht zulassen. Das wäre auch nicht im Sinne der Religionsgemeinschaften. Die Religionsfachschaft des Lehrkörpers kann sich einen Raum der Weltreligionen einrichten, mit dessen Dekoration sichtbar auf alle großen Religionen Bezug genommen wird. Dieser Raum kann dann auch als Gebetsraum angeboten werden. Salafistisch orientierte Schüler oder Mitglieder anderer radikal-religiöser Strömungen mit einer Ungleichwertigkeits-Vorstellung gegenüber anderen Religionen werden einen solchen Raum niemals akzeptieren.
Abwesenheit aus religiösem Grund
An hohen religiösen Feiertagen können Mitglieder einer Religionsgemeinschaft auf Antrag von der Schulpflicht befreit werden, wenn sie glaubhaft machen können, dass sie sich an den entsprechenden Feiern beteiligen. Eine pauschale Freistellung als Angebot sollte seitens der Schule nie erfolgen. Die Zahl der nominellen Religionsangehörigen ist immer größer als die Zahl der praktizierenden. Die Schule muss über hinreichende interkulturelle und interreligiöse Kompetenz verfügen, um die Triftigkeit eines Antrags überprüfen zu können. Seitens der Schulministerien sollte es einen Katalog der religiösen Feiertage und eine Verfahrensregelung geben[4]. Bei einer Freistellung ist darauf zu achten, dass den Freigestellten daraus – z.B. bei Klausurterminen am Tag der Abwesenheit – keine Nachteile erwachsen.
Islamistische Machtausübung
Es gibt unterhalb der Ebene organisierten extremistischen Einflusses in manchen Schulgemeinschaften ungute, häufig verdeckt bleibende Herrschaftsstrukturen innerhalb der Jahrgänge und Klassen. Die am meisten davon betroffenen sind diejenigen, die von den Akteuren als Musliminnen registriert werden. In aller Regel geht es um männliche Bevormundung zum Nachteil des weiblichen Geschlechts. Diese Bevormundung kann die Kleidung betreffen, aber auch die Beteiligung am Unterricht, wenn es um „heiße Themen“ geht, wie z.B. die Ehe und andere Lebensformen, die Sexualität oder die Emanzipation der Frau. Die Pädagogik in diesem Feld braucht neue Antennen für die horizontale Menschenrechtsverletzung, und diese Erwartung kann nicht die einzelne Lehrperson erfüllen, sondern sie ist eine Verpflichtung der ganzen Schule. Verborgene Formen der religiös motivierten Unterdrückung unter Gleichaltrigen aufzuspüren, ist ein hervorragender Anlass, die Schülerschaft demokratisch wachzurütteln und in die Prävention peer-to-peer miteinzubeziehen.
Von Kurt Edler ist 2015 das Buch Islamismus als pädagogische Herausforderung im Kohlhammer-Verlag erschienen.
Anmerkungen
[1] s. dazu die Tabelle „Problemtypen und Lösungswege“ in K. Edler: Islamismus als pädagogische Herausforderung. Stuttgart (Kohlhammer) 2015. S. 112-114.
[2] BVG-Urteil 27.1.2015 zur Diskriminierung von Religionen in den Ländergesetzen (1 BvR 471/10)
[3] Maria Pottmeyer: Religiöse Kleidung in der öffentlichen Schule in Deutschland und England. Tübingen 2011.
[4] Beispiel aus Hamburg: Broschüre „Vielfalt in der Schule“ – Ratgeber für Eltern. Beratungsstelle Interkulturelle Erziehung. Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung. (3)2013.