Im Oktober ist die Shell Jugendstudie zum 19. Mal erschienen. Sie erforscht die Lebenswelten Jugendlicher im Alter von 12 bis 25 Jahren in Deutschland. Im Rahmen unserer Arbeit bei ufuq.de interessieren wir uns insbesondere für die Interessen und Erfahrungen von jungen Menschen. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse für uns?
ufuq.de:
Sakina, was sind für dich interessante Erkenntnisse aus der Studie?
Sakina Abushi:
Für mich war wichtig, zu sehen, dass das Interesse von Jugendlichen an Politik in den letzten 20 Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Aktuell bezeichnen sich 55 % als „politisch interessiert“, 2002 waren es nur 34 %. Es ist wichtig für Jugendliche, sich zu informieren und zu engagieren. Politik wird längst nicht mehr als „Erwachsenensache“ gesehen und Jugendliche beteiligen sich an Themen, die sie als wichtig erachten. Das finde ich sehr positiv.
ufuq.de:
Welche politischen Themen beschäftigen Jugendliche?
Sakina Abushi:
Jugendliche haben seit 2019 vermehrt Angst vor Krieg in Europa. Aber auch die aktuelle wirtschaftliche Lage, der Klimawandel und Umweltverschmutzung beunruhigen sie. Eine weitere ausgeprägte Sorge sind die Themen Feindseligkeit zwischen Menschen generell und Ausländerfeindlichkeit im Speziellen. Die Angst vor Zuwanderung ist im Vergleich dazu eher gering. Neben dem Ukraine-Krieg beschäftigen Jugendliche aber auch der Überfall der Hamas auf Israel und der darauffolgende Krieg im Nahen Osten, das wissen wir auch aus unserer Arbeit an Schulen.
ufuq.de:
Wie schätzt du die Ergebnisse der Studie zu diesem Thema ein?
Sakina Abushi:
Beim Thema Israel und Palästina wird klar, dass es generell sehr unterschiedliche Wahrnehmungen des Konflikts unter Jugendlichen gibt: 30 % aller Jugendlichen begrüßen, dass Deutschland sich im aktuellen Krieg klar an die Seite Israels stellt. Genauso viele lehnen dies aber ab. 32 % denken, dass Deutschland eine besondere Verpflichtung gegenüber Israel hat, genauso viele lehnen diese Aussage ab. Das spiegelt in gewisser Weise die Polarisierung der aktuellen Debatte in Deutschland.
ufuq.de:
Spielt es eine Rolle, ob man Jugendliche mit oder ohne Migrationsgeschichte befragt?
Sakina Abushi:
Zunächst einmal nicht: Es gibt keine signifikanten Unterschiede, wenn man Jugendliche mit Migrationsbiografie und solche ohne betrachtet. Wenn man genauer hinschaut, scheint der familiäre Hintergrund der Jugendlichen aber schon eine Rolle zu spielen: Wenn Jugendliche oder ihre Eltern aus dem arabischen Raum oder der Türkei eingewandert sind, denken nur 26 % von ihnen, dass Deutschland eine besondere Verpflichtung gegenüber Israel hat, 42 % lehnen dies ab. Interessant ist aber auch, dass die Hälfte aller Jugendlichen sich klar dafür ausspricht, dass Deutschland das Leid der Palästinenser deutlicher anerkennen sollte. Nur 11 % lehnen das ab.
ufuq.de:
Findet die Studie denn Hinweise darauf, dass Antisemitismus unter Jugendlichen verbreitet ist?
Sakina Abushi:
Da muss man differenzieren: Wenn man die sogenannte „Toleranzfrage“ stellt, also ob Jugendliche es gut fänden, wenn eine jüdische Familie nebenan einzieht, dann verneinen dies nur 8 % der Befragten. Diese Zahl hat sich seit 2019 anscheinend nicht erhöht, was dafür spricht, dass Antisemitismus trotz des deutlichen Anstiegs antisemitischer Straftaten unter Jugendlichen nicht verbreitet ist. Man muss aber auch sagen, dass der Anteil derer, die es nicht gut fänden, wenn eine jüdische Familie nebenan einzieht, bei Jugendlichen mit arabischem oder türkischem Hintergrund größer ist, nämlich bei 16 %. Andererseits ist diese Gruppe aber gegenüber Jugendlichen ohne Migrationsbiografie deutlich toleranter gegenüber anderen Minderheiten, wie Geflüchteten oder Migrant*innen aus anderen Regionen der Welt.
ufuq.de:
Spielen hier der aktuelle Krieg und die schrecklichen Bilder aus Gaza eine Rolle?
Sakina Abushi:
Dafür sehe ich keine deutlichen Anzeichen, denn 2019 war dieser Wert bei 14 %, also nicht sehr viel niedriger. Insgesamt wäre ich vorsichtig, zu viele Schlüsse für das Thema Israel und Palästina aus dieser Studie zu ziehen – die Einstellungen Jugendlicher wurden hier nur in sehr begrenztem Maß abgefragt. Interessant ist dazu auch die Studie der Universität Mannheim vom Oktober dieses Jahres, die untersucht, ob ein linkes, universitäres Milieu verstärkt antisemitische Einstellungen aufweist – wobei die Studie auch für ihre Methodologie kritisiert wurde. Das ist ein spannendes Forschungsfeld, denn es geht auch um die Frage, wie wir als Gesellschaft mit israelkritischen Positionen umgehen.
ufuq.de:
Welche Schlüsse ziehst du für unsere Arbeit?
Sakina Abushi:
In unserer Gesellschaft wird häufig über, statt mit Jugendlichen gesprochen. Diese und andere Studien machen deutlich, welche Themen Jugendliche beschäftigen. Sie zeigt auch auf, dass Jugendliche durchaus in der Lage sind, sich umfassend zu informieren und sich ein Bild zu machen. Das bedeutet für uns als politische Bildner*innen, aber auch für Pädagog*innen, dass wir Räume eröffnen müssen, in denen Jugendliche Kontroversen und Widersprüche diskutieren können, statt aus Angst vor Konflikten im Schweigen zu verharren. Insbesondere der Konflikt im Nahen Osten polarisiert und emotionalisiert junge Menschen; sie sind genauso gespalten wie der Rest der Gesellschaft. Hier müssen wir ansetzen, um das Gespräch darüber nicht den extremen Kräften in unserem Land zu überlassen.
Bildnachweis © Josh Barwick/ unsplash