Über die Proteste im Iran sprechen – Impulse für einen diversitätssensiblen und diskriminierungskritischen Umgang im Schulkontext
9. Februar 2023 | Diversität und Diskriminierung

Der Tod von Jina Mahsa Amini im Gewahrsam der Sittenpolizei hat in Iran eine Protestwelle in historischem Ausmaß nach sich gezogen. Auch im Klassenzimmer kommen die Ereignisse zur Sprache, z.B. weil sie die Familiengeschichten von Schüler*innen berühren oder Fragen und Ängste aufwerfen. Christina Schreck und Nicole Schweiß, Lehrerinnen und Hosts des Podcast „Kleine Pause“, geben Lehrkräften fünf Impulse für die pädagogische Arbeit an die Hand.

Seit dem Tod der 22-jährigen Kurdin Jina Mahsa Amini am 16. September 2022 reißen die Proteste in Iran nicht ab. Die Protestierenden fordern nicht weniger als eine feministische Revolution, das Regime reagiert mit Gewalt gegen die Protestierenden. Hunderte Menschen sind zu Tode gekommen, tausende Personen wurden verhaftet. Die Menschenrechte werden verletzt und all dies kann in den sozialen Netzwerken (z. B. TikTok) fast in Echtzeit verfolgt werden. Die Geschehnisse in Iran sowie die mediale Berichterstattung können und werden auch bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland Emotionen und Verunsicherung, Sorge und Angst auslösen. Die Schule als pädagogischer Raum, in dem täglich Menschen unterschiedlichster Positionierungen zusammenkommen, braucht einen diversitätssensiblen und diskriminierungskritischen Umgang mit gewaltvollen weltpolitischen Geschehnissen, auch um Schüler*innen Halt(ung) und Handlungssicherheit sowie einen sicheren Umgang mit sozialen Medien zu ermöglichen.

In den letzten Monaten haben wir versucht, uns als Lehrer*innen intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen, haben zugehört, gelesen, (ver)lernt, Gespräche geführt und uns täglich informiert. Die folgenden Hinweise dienen der Sensibilisierung von Lehrer*innen und sind geprägt von unserer eigenen Positionierung [1]. Sie sind als Impulse zu verstehen und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, regen aber hoffentlich dennoch dazu an, sich dem Thema in schulischen Kontexten anzunehmen.

1. Sensibilität für die Heterogenität der Klassen und Kurse zeigen

In jedem Raum, in dem wir unterrichten, kann es Schüler*innen (und andere Mitglieder der Schulgemeinschaft) geben, die auf die ein oder andere Weise von der Situation in Iran „betroffen“ sind. Das wissen wir als Lehrer*innen nicht immer. Wir sollten potenzielle Unsichtbarkeiten bedenken, Gesprächsbereitschaft signalisieren und mit Kolleg*innen und Eltern im Austausch bleiben. Bei Klassenlehrer*innen, Koordinator*innen und der Schulleitung können wir Informationen darüber erhalten, welche Schüler*innen einen iranischen Pass haben. Das sagt erst einmal nicht viel über die jeweils individuellen Geschichten und Situationen aus und ist damit sicher eine unzureichende Information. Es kann aber helfen, die derzeitige Situation in Lerngruppen besser einschätzen zu können.

Achtung: Wenn wir versuchen, zu erfassen, wer in unserer Klasse „betroffen“ ist, besteht die Gefahr des Otherings [2] und auch eine Gefahr des Fremd-Outings oder ungewünschten Spotlightens, also des Herausstellens einzelner Schüler*innen. Daher ist es sinnvoll, für diese und ihre Eltern aktiv zu zeigen, dass man als Ansprechpartner*in für den Schulkontext bereitsteht, sodass sie freiwillig auf die Lehrkraft zukommen können. Ohne Rücksprache vor der Klasse über eigene Wahrnehmungen oder Emotionen sprechen zu müssen, kann überwältigend [3] für Schüler*innen sein. Hier ist also Sensibilität gefordert.

2. Heterogenität bezieht sich nicht nur auf Staatsangehörigkeiten. Sie ist multidimensional und intersektional

Die Situation in Iran ist eng mit der Geschichte und Gegenwart der kurdischen Minderheit im Land verbunden. Jina Mahsa Amini war Kurdin, von den kurdischen Gebieten gingen die Proteste aus. Schüler*innen, die eine kurdische Familiengeschichte aufweisen, können also ebenfalls „betroffen“ sein, auch ohne direkten Bezug zum Iran.

Gleichzeitig können die Bilder der Gewalt retraumatisierend für Schüler*innen sein, die beispielsweise selbst aus einer Familie mit Fluchterfahrung kommen, auch wenn diese anders verortet ist. Eine Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit kommt bekanntlich selten allein und so gibt es weitere Verstrickungen. Neben der Tatsache, dass es sich aufgrund der Frauenfeindlichkeit [4] des Regimes um eine feministische Revolution handelt, ist das iranische Regime für seine Queerfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus gegenüber Minderheiten im Land bekannt. Sensibilität ist also auf unterschiedlichen Ebenen notwendig, sodass niemand mit eigenen Erfahrungen unsichtbar gemacht wird und sich damit nicht gesehen fühlt.

3. Die Gefahr von antimuslimischem Rassismus mitdenken

Muslimische Schüler*innen, vor allem Hijab-tragende Mädchen, werden ebenfalls Schutz im Raum Schule brauchen. Sie werden sich vielleicht mit Generalisierungen und Fremdzuschreibungen durch Mitschüler*innen oder Lehrer*innen konfrontiert sehen. Von Diskriminierung betroffene Menschen berichten immer wieder, dass von ihnen gefordert wird, für Regierungen, Staaten oder gar eine ganze Religion zu sprechen oder dass von ihnen verlangt wird, sich zu „positionieren“, private Informationen zu teilen und sie generell übergriffig behandelt werden. Von Mädchen, die einen Hijab tragen, sollte auf keinen Fall gefordert werden, das Verhalten des iranischen Regimes oder den Kopftuchzwang in Iran zu erklären. Generell wäre es falsch, von ihnen eine Positionierung „zum Iran“ einzufordern.

Hilfreich für Lehrkräfte ist in diesem Zusammenhang eine Auseinandersetzung mit strukturellem Rassismus und anderen Diskriminierungsformen, aber auch mit der eigenen Sozialisation. Eine Lektüreempfehlung hierzu ist das Buch „Muslimaniac“ von Ozan Zakariya Keskinkılıç.

4. Die Rolle von Social Media

Soziale Netzwerke spielen bezüglich der derzeitigen Situation eine immens wichtige Rolle. Immer wieder ist die Forderung #betheirvoice zu hören und Menschen werden aufgefordert, Videos, Aufrufe und Petitionen zu teilen. Es gibt die Möglichkeit, Iraner*innen durch sogenannte „Snowflakes“ Zugang zum Internet zu ermöglichen und generell die Aufmerksamkeit und damit den politischen Druck hochzuhalten. Gleichzeitig nutzen natürlich auch die Gegenkräfte soziale Medien, indem sie beispielsweise falsch getippte, leicht veränderte Hashtags für propagandistische Zwecke nutzen.

Mit all diesen Phänomenen sind auch Schüler*innen tagtäglich konfrontiert. Sie müssen dabei pädagogisch begleitet werden, was wiederum voraussetzt, dass wir Lehrkräfte uns ebenfalls damit auseinandersetzen. Das Spannungsfeld zwischen Schutz vor und Begleitung bei der Nutzung von Social Media ist sicher nicht leicht zu navigieren, ignorieren ist jedoch keine Option. Das Thema Iran zeigt wieder einmal die Notwendigkeit der Verschränkung von politischer Bildung und Medienpädagogik auf.

5. Gespräche sorgfältig planen

  • Wenn man sich dazu entscheidet, ein aktives Gespräch mit den Schüler*innen über die Situation in Iran zu führen, sollte man sich auf das Gespräch vorbereiten und informiert sein. Ein Bewusstsein darüber, dass in politischen Konflikten insbesondere auf Social Media Falschinformationen verbreitet werden, ist wichtig. Faktenchecks wie jener der investigativen Redaktion CORRECTIV können hilfreich sein, ersetzen jedoch keine kritische Praxis. Gleichzeitig sollte Unsicherheit nicht dazu führen, dass man dem Thema keinen Raum einräumt, auch die eigenen Unsicherheiten dürfen vor Schüler*innen angesprochen werden. Austausch und Kommunikation mit Kolleg*innen können helfen. Vielleicht geht man gemeinsam in ein Gespräch oder zieht externe Expert*innen hinzu. [5]
  • In den meisten Fällen ist es besser, Gespräche nicht spontan, sondern mit Ankündigung anzubieten, sodass auch die Schüler*innen sich vorbereiten können und die Rahmenbedingungen stimmen. Hierzu gehört, dass das Gespräch auf Freiwilligkeit beruht und es ein „Escape-Signal“ gibt, mit dem Schüler*innen zeigen können, wenn es ihnen zu viel wird und sie sich ausklinken möchten. Während des Gesprächs ist es zudem wichtig, es den Schüler*innen zu überlassen, ob sie über ihre persönlichen Gefühle oder lieber über die Sachebene (Fakten) sprechen.
  • Sprachliches Framing ist auch bei Lehrer*innen von Bedeutung. So weisen beispielsweise Journalist*innen und Expert*innen derzeit regelmäßig darauf hin, dass in der Berichterstattung teilweise gravierende Fehler gemacht werden. Hieran kann man sich auch als Lehrer*in orientieren. [6] Beispielsweise sollte die Lehrkraft begrifflich klar zwischen dem Islam, Islamismus, der Islamischen Republik Iran, Muslim*innen, usw. unterscheiden können und hier als sprachliches Vorbild agieren, damit Fremdzuschreibungen und Diskriminierung verhindert werden.
  • Wenn es zur Relativierung oder gar zu verbaler Unterstützung von staatlicher Repression und Gewalt kommt, ist eine klare Intervention seitens der Lehrkraft notwendig. Eine Lerngruppe oder Schulgemeinschaft sollte demokratische Werte leben und jeder Verletzung dieser Werte entgegentreten. Eine offen geäußerte Aussage, die staatliche Gewalt relativiert oder gar Betroffene verhöhnt, darf nicht unkommentiert stehen gelassen werden. Genauso ist jeder Art von Beleidigung entgegenzuwirken, um nachfolgende Ausgrenzung oder Mobbing zu vermeiden.
  • Insgesamt sollte man sich als Lehrkraft zurücknehmen und den Schüler*innen Raum geben, um ihre Gedanken zu teilen. Relativierungen, Generalisierungen und vor allem Whataboutism [7] sollten vermieden werden. Es ist wichtig, dass die Ängste der Schüler*innen Raum finden und ihnen ihre Gefühle in einer solchen Situation nicht durch Sätze wie „Alles wird gut!“ abgesprochen werden. Im Nachgang sollte man bei den Schüler*innen und ihren Eltern nachfragen, wie es ihnen geht und gegebenenfalls weitere Gesprächsangebote machen.

Fazit

Wir hoffen, dass dieser Beitrag die Komplexität der Auseinandersetzung aus pädagogischer Sicht aufzeigt und gleichzeitig nicht zu einschüchternd wirkt. Auch der Austausch mit Lehrer*innen außerhalb der eigenen Schule kann helfen. In pädagogischen Kontexten kann außerdem das Konzept der Dramatisierung, Entdramatisierung und Nicht-Dramatisierung hilfreich sein [8], das Schüler*innen die Möglichkeit gibt, belastende Themen angemessen zu besprechen, sie dann aber auch wieder loslassen dürfen, um den Schulalltag weiter bewältigen zu können. Wir bewegen uns als Lehrer*innen oft in sensiblen Spannungsfeldern, die viel Verantwortung mit sich bringen. Das Konzept kann somit helfen, einen Weg heraus aus der Thematik, und hin zu anderen Dingen, die für Kinder und Jugendliche nicht minder wichtig sind, zu finden. Pauschale Lösungen und Rezepte wird es hierzu nicht geben und auch dieser Text sollte nicht als solche verstanden werden.

Weiterführende Materialien

Film- und Literaturempfehlungen, die einen Einstieg in das Thema ermöglichen können und (je nach Lerngruppe und unter Einbezug der o.g. Punkte) auch im Unterricht einsetzbar sind:

Filme und Dokumentationen

  • The Green Wave (2010)
  • Teheran Tabu (2017)
  • Nur wir drei gemeinsam (2015)
  • Ein Augenblick Freiheit (2008)
  • Mit wehenden Haaren gegen die Mullahs (2021)
  • Iranian Revolutionary Justice (BBC 2015)
  • Coup 53 (2019)
  • My stolen Revolution (2013) – sowie weitere Filme von Nahid Persson
  • Born in Evin (2019)

Literatur

  • Alinejad, Masih: The wind in my hair: my fight for freedom in Modern Iran (2018)
  • Amiri, Natalie: Zwischen den Welten (2020)
  • Atai, Golineh: Iran. Die Freiheit ist weiblich (2021)
  • Bazyar, Shida: Nachts ist es leise in Teheran (2016)
  • Ebadi, Shirin: Mein Iran: Ein Leben zwischen Hoffnung und Revolution (2016)
  • Hakakian, Roya: Bitterer Frühling. Meine Jugend im Iran der Revolutionszeit (2008)
  • Khorram, Adib: Darius der Große fühlt sich klein (2020); Darius der Große verdient mehr (2021)
  • Satrapi, Marjane: Persepolis (2004)
  • Soltani, Amir und Khalil: Zahra’s Paradise (2011)

Podcast

Einmal pro Woche fassen Gilda Sahebi und Sahar Eslah in „Das IRAN Update“ die wichtigsten Geschehnisse zusammen. Der Podcast ist auf allen bekannten Plattformen abrufbar.

Anmerkungen

[1] Positionierung ist an dieser Stelle als Standortreflexion innerhalb diskriminierungsrelevanter Strukturen gemeint. Der Transparenz dienend, sind wir beide Weiße, christlich-sozialisierte, cis, hetero, ableisierte, verbeamtete Lehrerinnen.

[2] Der Begriff des Otherings stammt aus der Antirassismusarbeit und meint die „Andersmachung“ von Menschen, die marginalisierten Gruppen angehören. Es führt zu einer Trennung zwischen einem vermeintlichen „Wir“ (Norm) und einem „Ihr“ (Abweichung). Weitere Infosrmationen und Begriffserklärungen finden sich beispielsweise hier: https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/.

[3] Mehr zum Überwältigungsverbot z.B. hier: https://www.bpb.de/die-bpb/ueber-uns/auftrag/51310/beutelsbacher-konsens/.

[4] Wir nutzen an dieser Stelle aus Gründen der Verständlichkeit bewusst den Begriff Frauenfeindlichkeit, möchten aber darauf hinweisen, dass Feindlichkeit gegenüber „FINTA“ (Frauen*, Inter*, nicht-binäre und Trans* Personen sowie agender Personen) eine präzisere Wortwahl wäre.

[5] Gilda Sahebi und Sahar Eslah haben dem Thema in ihrem Podcast „Das Iran Update“ eine ganze Folge gewidmet: https://dasiranupdate.podigee.io/12-11-fake-news.

[6] Eine Übersicht über Accounts, die über die Revolution informieren, haben wir auf unserem Instagram-Account @kleinepause_podcast veröffentlicht. Eine gute Quelle ist hier ebenfalls das Glossar der Neuen deutschen Medienmacher.

[7] Whataboutism bezeichnet eine Diskussionsstrategie, bei welcher durch den Verweis auf vermeintlich naheliegende Themen/ Geschehnisse/Akteur*innen bewusst von der ursprünglichen Fragestellung abgelenkt wird.

[8] Vgl. hierzu: Debus, Katharina (2012): Dramatisierung, Entdramatisierung und Nicht-Dramatisierung in der geschlechterreflektierten Bildung. In: Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungenarbeit, Geschlecht und Bildung. S.149-158.

Bildnachweis

Graffiti-Mural in Berlin; Bild: @devita_art und @northsidegalleryberlin/Instagram

Logo des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX)
Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerks „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).
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