Fußball in Vereinen bietet Jugendlichen und Trainer*innen eine Gelegenheit, sich über ihre Werte bewusst zu werden und sie in der Mannschaft auszuhandeln. Denn zwischen der Wertebildung im Jugendfußball und politischer Bildung gibt es Schnittmengen. Um das zu unterstützen, hat das Projekt „TeamUp!“ der Bertelsmann Stiftung ein umfassendes Konzept entwickelt, das Projektmanagerin Julia Tegeler im Interview mit ufuq.de vorstellt.
ufuq.de: Frau Tegeler, die Bertelsmann Stiftung hat gemeinsam mit dem Fußball- und Leichtathletik-Verband Westfalen das Konzept „TeamUp! – Werte gemeinsam leben“ entwickelt und erprobt. Was ist TeamUp! und welche Ziele hat das Konzept?
Julia Tegeler („TeamUp!“): TeamUp! ist ein ganzheitliches Konzept für die Wertebildung im Jugendfußball. Es zielt darauf ab, Werthaltungen und Kompetenzen zu stärken, die für ein gutes Miteinander im Sport und in unserer Gesellschaft wichtig sind, und letztlich wertorientiertes Handeln zu fördern. Dazu richtet sich TeamUp! an diejenigen, die tagtäglich mit den Jugendlichen in Kontakt kommen und wichtige Bezugspersonen sind, also an Trainer*innen, Betreuer*innen und weitere Engagierte im Jugendfußball. TeamUp! lässt sich direkt in den Fußballalltag integrieren. Es verbindet Training, Mannschaftsführung und Jugendarbeit im Verein mit wirksamen Ansätzen der Wertebildung.
ufuq.de: Was verstehen Sie unter Wertebildung, und was unterscheidet das Konzept von politischer Bildung?
Tegeler: Wertebildung meint, vereinfacht gesagt, das Lernen und Leben von Werten: In der Auseinandersetzung mit unserer Umwelt entwickeln wir Werthaltungen. Das sind Vorstellungen davon, was uns wichtig ist. Sie geben uns Orientierung für unser Handeln und den Umgang miteinander. Um diese Haltungen zu leben, benötigen wir Kompetenzen, die wir im Laufe unserer Persönlichkeitsentwicklung ausbilden: Wer beispielsweise den Wert „Gewaltfreiheit“ wichtig findet und sich entsprechend verhalten möchte, braucht Kompetenzen, um Konflikte friedlich zu lösen. Wem Solidarität und Teamgeist wichtig sind, der braucht Empathie und Kooperationsfähigkeit, um diese Werthaltungen zu leben. Schließlich umfasst Wertebildung das Einüben wertorientierten Handelns selbst, für das die Haltungen die Orientierung und Motivation geben und zu dem die Kompetenzen befähigen.
Dieser Prozess der Wertebildung vollzieht sich ein Leben lang, vor allem aber in der Kindheit und Jugend. Schon als Kinder werden wir mit Moral- und Wertvorstellungen konfrontiert – zuerst im Elternhaus, später in Kita, Schule, im Freundeskreis oder auch im Sportverein: Welches Verhalten gilt als erwünscht, welches als unerwünscht? Durch die Auseinandersetzung mit persönlichen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen entwickeln wir einen eigenen ethischen Kompass. Dieser Prozess kann und sollte pädagogisch begleitet werden. Etwa, indem Eltern, Lehrer*innen und andere Bezugspersonen ihre Vorbildrolle wahrnehmen und Werte vorleben, oder indem sie mit Kindern und Jugendlichen über Werte sprechen und so die bewusste Auseinandersetzung damit fördern. Wichtig ist außerdem, jungen Menschen Gelegenheiten zu geben, wertorientiertes Handeln selbst einzuüben. Das kann in Form von Projekten sein oder im alltäglichen Miteinander.
Bei der politischen Bildung geht es im engeren Sinne darum, die Auseinandersetzung mit demokratischen Grundwerten anzuregen und ein an diesen Werten orientiertes Handeln zu fördern. In diesem Sinne ist Wertebildung ein wichtiges Ziel von politischer Bildung.
ufuq.de: Warum sollte man sich als Jugendleiter*in oder Jugendtrainer*in im Fußballverein mit Wertebildung beschäftigen?
Tegeler: Jugendleiter*innen und Jugendtrainer*innen arbeiten mit jungen Menschen und nehmen dadurch Einfluss auf deren Persönlichkeitsentwicklung und Wertebildung. Daraus erwächst zum einen eine besondere Verantwortung, die sie sich bewusst machen sollten. Zum Beispiel ist ein*e Trainer*in immer Vorbild – im positiven wie im negativen Sinne. Das heißt, die Jugendlichen orientieren sich an ihm*ihr. Verliert ein*e Trainer*in regelmäßig die Beherrschung und schreit am Spielfeldrand herum, dann kann das dazu führen, dass die Jugendlichen dieses Verhalten auch übernehmen. Achtet ein*e Trainer*in darauf, dass alle respektvoll miteinander umgehen – etwa sich ausreden lassen oder Feedback wertschätzend geben – dann lernen die jungen Spieler*innen, wie wichtig Respekt ist und wie sie ihn im Alltag leben können.
Zum anderen geht mit der Rolle als Bezugsperson auch die Chance einher, Jugendliche in ihrer Wertebildung bewusst zu unterstützen. Diese Chance sollten Trainer*innen und Jugendleiter*innen nutzen – davon profitieren nicht nur die Jugendlichen, sondern auch der Sport. Denn Werte wie Teamgeist, Fairness und Respekt spielen im Fußball eine zentrale Rolle. Sie geben Orientierung für den Umgang miteinander und helfen dabei, als Team auf sportliche Ziele hinzuarbeiten. Auf und neben dem Platz ist ein an sozialen Werten ausgerichtetes Verhalten gefragt: Die jungen Spieler*innen sollen im Team agieren, Verantwortung übernehmen, Konflikte friedlich lösen und sich fair und respektvoll gegenüber Mitspielenden und Gegner*innen verhalten. Deshalb sollten Jugendleiter*innen und Trainer*innen neben der sportlichen Ausbildung immer auch die Persönlichkeitsentwicklung und Wertebildung ihrer jungen Spieler*innen unterstützen. Nach den Ausbildungsordnungen im organisierten Sport gehört dies übrigens auch offiziell zu ihren Aufgaben.
ufuq.de: Um welche Werte geht es ganz konkret?
Tegeler: In unserem Konzept „TeamUp!“ geht es vor allem um Werte und Kompetenzen, die für ein friedliches, solidarisches und demokratisches Miteinander in unserer vielfältigen Gesellschaft unverzichtbar sind. Viele dieser Werte sind im Grundgesetz, in der Menschen- und Kinderrechtskonvention verankert. Sie ermöglichen es, dass Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen, Meinungen, religiösen und kulturellen Hintergründen friedlich und selbstbestimmt zusammenleben können und Verantwortung füreinander übernehmen. Kurzum: Es geht um Werte wie Freiheit, Gleichheit, Toleranz, Fairness, Solidarität, Respekt, Offenheit, Akzeptanz von Vielfalt und um die Kompetenzen, die es braucht, um diese Werte zu leben – wie etwa Empathie, Konflikt- und Kommunikationsfähigkeit.
Darüber hinaus können und sollen Vereine und Mannschaften natürlich auch eigene Schwerpunkte setzen. Dem eine*n Trainer*in und seiner*ihrer Mannschaft sind Fairplay und Teamgeist vielleicht wichtiger als Leistungsorientierung. Ein anderes Team wiederum arbeitet mit seinem*r Trainer*in auf den Aufstieg hin und konzentriert sich auf den sportlichen Erfolg. Und schließlich kommt es immer auch darauf an, wie die Beteiligten einen bestimmten Wert verstehen und wie sie ihn leben wollen. Deshalb ist auch die gemeinsame Verständigung darüber so wichtig, was die sonst abstrakt bleibenden Begriffe wie „Freiheit“ oder „Fairness“ konkret bedeuten sollen.
ufuq.de: Sie beziehen sich in Ihren Konzepten ja auch auf das Konzept der „Lebenskompetenzen“ der WHO. Sind diese Werte fix oder verändern sich diese Werte und Kompetenzen?
Tegeler: Das Konzept der Lebenskompetenzen definiert zehn zentrale Kernkompetenzen, die ein Mensch für einen angemessenen Umgang mit sich selbst und mit anderen braucht. Lebenskompetent ist laut WHO, „wer sich selbst kennt und mag, empathisch ist, kritisch und kreativ denkt, kommunizieren und Beziehungen herbeiführen kann, durchdachte Entscheidungen trifft, erfolgreich Probleme löst, Gefühle und Stress bewältigen kann.“ Das sind aus meiner Sicht sehr grundlegende Kompetenzen, die man braucht, um ein gutes Leben zu führen und an der Gesellschaft teilzuhaben. Zusätzlich ist die Anerkennung demokratischer und menschenrechtsbezogener Werte für ein gelingendes Zusammenleben in unserer vielfältigen Gesellschaft entscheidend. Konkret bedeutet das, offen und tolerant gegenüber anderen Sichtweisen zu sein, Menschen mit anderen Wertvorstellungen und Lebensweisen als gleichwertig anzuerkennen und Konflikte gewaltfrei zu lösen. Ich denke, diese Kompetenzen und Werte werden wohl auch in Zukunft wichtig bleiben. Gleichzeitig sind diese Werte und Kompetenzen niemals „fix“ in dem Sinne, dass sie in ihrer Bedeutung fest definiert sind. Werte werden erst durch das, was wir mit ihnen verbinden, konkret, und ihre Bedeutung und Wichtigkeit für uns können sich durchaus verändern. Ein Wert kann für verschiedene Menschen, Gruppen oder Gemeinschaften, in verschiedenen Kontexten und zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich interpretiert und gewichtet werden. Deshalb geht es bei der Wertebildung auch immer um die Auseinandersetzung damit, was ein bestimmter Wert für mich persönlich, für eine Gemeinschaft oder eine Gesellschaft bedeutet, und wie er im Miteinander konkret ausgestaltet und gelebt werden soll.
ufuq.de: Was kann ich als Jugendleiter*in tun, um die Wertebildung bei meinen Jugendlichen zu unterstützen?
Tegeler: Jugendleiter*innen koordinieren die Jugendarbeit im Verein und sind wichtige Ansprechpartner für Jugendtrainer*innen, Jugendspieler*innen und deren Eltern. Damit haben sie viele Möglichkeiten, um die Wertebildung von Jugendlichen zu unterstützen. Zunächst einmal können sie selbst Vorbild sein und bestimmte Werte vorleben, so dass sich die Jugendlichen daran orientieren können. Darüber hinaus können sie Wertebildung im Verein bzw. in der Jugendabteilung zum Thema machen, dafür sensibilisieren und wertebildende Konzepte wie TeamUp! in die Vereinsjugendarbeit integrieren. Auf dieser Basis können sie mit dem Vorstand, den Jugendtrainer*innen und weiteren Engagierten, aber vor allem auch mit den Jugendlichen konkrete wertebildende Maßnahmen planen und umsetzen.
Ein erster Schritt könnte darin bestehen, gemeinsame Werte für die Jugendabteilung zu erarbeiten und sich darüber zu verständigen, wie diese im Alltag gelebt werden sollen. Hieraus lassen sich dann konkrete Maßnahmen ableiten: Beispielweise könnte eine Maßnahme sein, dass alle Trainer*innen am Anfang der Saison mit ihren Mannschaften über Werte sprechen, um so die bewusste Auseinandersetzung mit Werten anzuregen. Gemeinsam könnten auch Mannschaftswerte entwickelt und daraus Verhaltensregeln abgeleitet werden, an denen sich die Jugendlichen dann im Alltag orientieren können. Anlassbezogen können Jugendleiter*innen mit den Jugendtrainer*innen und den Jugendlichen über Werte ins Gespräch kommen – etwa, indem sie über die Vorbildrolle der Trainer*innen, über das Fehlverhalten eines Spielers oder über ein gutes Teamplay in den Mannschaften sprechen. Auch könnten Übungen zum Fairplay oder zum Teambuilding als feste Bestandteile ins Training integriert werden. Bei Teamsitzungen in der Abteilung oder den Mannschaften könnten Regeln zur wertschätzenden Kommunikation eingeführt und einübt werden.
Letztlich bietet der Vereinsalltag unzählige Gelegenheiten, die als Lernanlässe für Wertebildung genutzt werden können. Ein Jugendkonzept mit wertebildenden Zielen und eine Saisonplanung mit entsprechenden Meilensteinen – wie etwa Fairplay-Turniere, Teamevents oder regelmäßige wertebildende Fußballtrainings – helfen dabei, wertebildende Maßnahmen systematisch und kontinuierlich der Jugendarbeit zu verankern.
ufuq.de: Sollten dabei auch die Eltern eingebunden werden?
Tegeler: Die Eltern sind im Jugendfußball ja sehr präsent. Jugendleiter*innen und Trainer*innen sollten die Eltern als Kooperationspartner und Unterstützer*innen bei der Wertebildung im Verein miteinbeziehen. Zum Beispiel ist es sinnvoll, die Eltern darüber zu informieren, welche Werte in Verein und Mannschaft gelebt werden sollen. Hilfreich kann es auch sein, gemeinsam mit den Eltern eigene Regeln zu einem fairen und respektvollen Verhalten am Spielfeldrand zu erarbeiten. Kurzum: Die Eltern sollten im Bilde sein, welche wertebildenden Ziele und Maßnahmen im Verein umgesetzt werden, und welche Rolle der*die Trainer*in und sie dabei einnehmen können.
ufuq.de: Lassen sich die Methoden und Erkenntnisse von TeamUp! auch auf andere Bereiche der Jugendarbeit oder auf andere Sportarten übertragen?
Tegeler: Ja, das TeamUp!-Konzept kann sehr gut auf andere Arten von Vereins- und Mannschaftssport übertragen werden. Der Württembergische Landesportbund beispielsweise will das Konzept ab nächstem Jahr sportartübergreifend nutzen. Ende November 2021 bilden wir dafür Referent*innen des Verbands zu TeamUp!-Referent*innen aus. Auch für die außersportliche Vereinsjugendarbeit bietet TeamUp! viele Anregungen: Die Reflexion eigener Werte, die Verständigung auf gemeinsame Werte und das Leben dieser Werte im Miteinander ist ja auch in anderen Kontexten der Jugendarbeit wichtig. Auch die erlebnispädagogischen Übungen für Vertrauen und Kooperation, wertschätzende Kommunikation und Methoden zum konstruktiven Umgang mit Konflikten sind hier relevant. Künftig wollen wir mit unseren Konzepten und Methoden der Wertebildung vermehrt auch über den Sport hinaus Multiplikator*innen in der Jugendarbeit erreichen und sie so in ihrer wichtigen Arbeit unterstützen.
Materialien zum Thema
Im Rahmen des Projekts „TeamUp!“ sind drei Handbücher entstanden, die Sie auf der Webseite der Bertelsmann Stiftung kostenpflichtig bestellen können:
René Märtin/Julia Tegeler (2020): Wertebildung im Jugendfußball – Ein Handbuch für Trainer. TeamUp! – Werte gemeinsam leben.
René Märtin/Verene Muckermann/Julia Tegeler (2021): Wertebildung im Jugendfußball – Ein Leitfaden für Lehrreferent:innen. TeamUp! – Werte gemeinsam leben.
René Märtin/Julia Tegeler (2021): Wertebildung im Jugendfußball – Ein Leitfaden für Jugendleiter:innen. TeamUp! – Werte gemeinsam leben.