Der Bereich Schule ist einer der wichtigsten Lebens- und Lernorte von Kindern und Jugendlichen und damit ein wichtiges Handlungsfeld der Extremismus- und Gewaltprävention. Es existieren zahlreiche Präventionsprogramme für den schulischen Bereich, die jedoch häufig parallel bearbeitet werden. Der Psychologe Thomas Gödde kritisiert in unserer neuen Analyse, dass dadurch Überschneidungen ausgeblendet und Ressourcen nicht optimal eingesetzt werden. Er plädiert für eine übergreifende, systemisch orientierte Sichtweise auf unterschiedliche Gewaltphänomene, benennt deren wesentliche Wirkfaktoren und arbeitet Überschneidungen zwischen ihnen heraus. Im Kurzinterview erklärt er, warum die Stärkung und Förderung sozialer Kompetenzen der wirkmächtigste Hebel der übergreifenden Gewaltprävention sein könnte.
Sakina Abushi (ufuq.de):
Lieber Herr Gödde, warum sollten wir sozialen Kompetenzen in Bildung und Prävention mehr Aufmerksamkeit schenken?
Thomas Gödde:
Bildung bedeutet ja nicht nur, breites und vernetztes Wissen zu besitzen, sondern auch die Fähigkeit, dieses Wissen nutzbringend für sich selbst, die eigene Familie, im Beruf und in der Gemeinschaft – auch als politischer Mensch – einbringen zu können. Dazu gehören z.B. Kommunikations- und Teamfähigkeit. Soziale Kompetenzen sind die Grundlage solcher Fähigkeiten. Erst wenn beides vorhanden ist, Wissen und soziale Kompetenzen, spreche ich als Psychologe von gelungener Bildung. Dann ist Bildung gleichzeitig auch Prävention, da stabile pädagogische Beziehungen, individuelles Lernen mit guten Rückmeldestrategien und die Förderung sozialer Kompetenzen die Grundlage für einen guten Selbstwert sind. Dieser schützt nicht nur vor einem Abdriften in Richtung Gewalt, sondern ist auch die Grundlage von Gesundheitskompetenz.
Sakina Abushi (ufuq.de):
Wie kann man soziale Kompetenzen im Bildungsbereich gezielt fördern?
Thomas Gödde:
Da geht es zunächst einmal um einen Sinneswandel. Bislang wird der Erwerb von sozialen Kompetenzen im Vergleich zu anderen Bildungsinhalten eher beiläufig und nach einem Gießkannenprinzip gefördert, oder aber nur dann, wenn Defizite erkennbar sind. Wir sollten diesen Schatz gezielt heben und die Förderung sozialer Kompetenzen als Bildungsziel wesentlich wichtiger nehmen. Dazu bedarf es einer wissenschaftlich fundierten Landkarte der sozialen Kompetenzen für zielgerichtetes Lernen. Diese wurde seitens der Psychologie wissenschaftlich präzisiert und kann genutzt werden. Das wird aber nur gelingen, wenn Pädagogik und Psychologie synergetisch zusammenarbeiten und ihre jeweilige fachliche Expertise einbringen.
Sakina Abushi (ufuq.de):
Sie blicken auf über 30 Jahre Tätigkeit als Schulpsychologe in Nordrhein-Westfalen zurück. Was nehmen Sie mit?
Thomas Gödde:
Schulpsychologie wurde bis Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts von Politik und Schule als Reparaturbetrieb gesehen. Ich selbst habe das Glück gehabt, seit den 90ern den Wandel von einer problemorientierten hin zu einer systemisch lösungsorientierten Sichtweise und stärker präventiv orientierten Arbeit miterleben und auch mitgestalten zu dürfen. Dabei durfte ich immer auch mit Verantwortungsträgern aus Schule und natürlich mit Kolleginnen und Kollegen aus der Schulpsychologie zusammenarbeiten, die meine Philosophie von umfassender Bildung geteilt und unterstützt haben. Das war ein Glück für mich und hat mir meinen Optimismus erhalten, bei allen Hindernissen das Ziel von mehr individuellem Lernen in allen Bildungsbereichen als langfristig erreichbar zu sehen. Dafür bin ich dankbar.
Der nächste Schritt ist nun noch zu gehen: Wir sollten die Expertise des Fachs Psychologie, also die Expertise im Bereich des menschlichen Wahrnehmens, des Denkens, Fühlen und Handelns im Allgemeinen und des Lernens und der Kommunikation im Speziellen bei der Gestaltung von schulischer Bildung stärker einbeziehen. Wir müssen Bildung multiprofessionell denken.
Die Reihe „Analyse“ erscheint im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).