Srebrenica versus Sivas? Umkämpfte Erinnerungen in der (Post-)Migrationsgesellschaft
11. November 2021 | Geschichte, Biografien und Erinnerung

Die Massaker an bosnischen Muslim*innen in Srebrenica gehören wie die Pogrome gegen Alevit*innen in der Türkei zu den Verbrechen des 20. Jahrhunderts, die in der Erinnerungskultur in Deutschland bisher wenig Platz haben. Der Publizist Eren Güvercin kommentiert die Debatten unter türkeistämmigen Muslim*innen und plädiert dafür, der Auseinandersetzung mit diesen Verbrechen auch in Schule und Bildungsarbeit mehr Raum zu geben.

Der Bosnienkrieg in den 1990er Jahren und insbesondere der Völkermord in Srebrenica zwischen dem 11. und 19. Juli 1995 an bosnischen Muslim*innen hat sich in die Köpfe vieler Muslim*innen eingebrannt. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Bilder serbischer Kampfeinheiten unter der Führung des Kriegsverbrechers Ratko Mladic. Tausende muslimische Jungen und Männer – die Opfer waren zwischen 13 und 78 Jahre alt – wurden zusammengetrieben, exekutiert und in Massengräbern verscharrt.

Die europäischen Staaten sind trotz klarer Hinweise auf ein Massaker nicht eingeschritten. Dieser Völkermord mitten in Europa ist ein tiefsitzendes Trauma für viele in Europa lebende Muslim*innen. Das jährliche Gedenken am 11. Juli verbindet sich immer wieder mit der Frage, wie es zu so einem Massaker mitten in Europa kommen konnte, und wie man ähnliche Verbrechen in der Zukunft verhindern kann.

Aufrichtiges Gedenken und nationalistische Instrumentalisierung?

Gerade als europäische Muslim*innen müssen wir uns aber auch die Frage stellen, wie wir mit anderen Genoziden umgehen und diese erinnern. Wenn z.B. türkeistämmige Muslim*innen am 11. Juli leidenschaftlich an die Opfer von Srebrenica erinnern, ist es irritierend, wenn die gleichen Stimmen in anderen Kontexten schweigen, Genozide relativieren oder sogar rechtfertigen.

Ist das Gedenken an Srebrenica ein aufrichtiges Anliegen – oder spiegelt es ein eher selektives Erinnern? Denn wenn es um den Genozid an den Armenier*innen, um Pogrome gegen Alevit*innen etwa in Sivas oder Dersim geht, werden diese Verbrechen geleugnet oder die Opfer zu Tätern erklärt – also genau jene Haltung, für die sonst serbische Nationalist*innen in ihrem Umgang mit Srebrenica kritisiert werden.

Diese Haltung ist nicht nur bei nationalistischen Türk*innen bzw. bei türkisch-identitären Akteuren verbreitet. Relativierungen oder Rechtfertigungen von Genoziden und Pogromen an Armenier*innen oder Alevit*innen finden sich auch jenseits der nationalistischen Milieus. Es liegt daher nahe, hinter dem Gedenken dieser Akteure an Srebrenica kein ehrliches Erinnern, sondern eine Instrumentalisierung des Völkermords im Sinne eines Narratives zu vermuten, das vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in den vergangenen Jahren stark gemacht wurde: Europa bzw. der Westen führe einen Krieg gegen die Muslim*innen. Dieses Narrativ geht so weit, dass man die Lage der Muslim*innen in Europa mit den Juden unter der Nazi-Herrschaft vergleicht: „Wir Muslime sind die neuen Juden.“

„Blinde Flecken“ der eigenen Geschichte

Natürlich ist es wichtig, auf immer stärker werdende antimuslimische Ressentiments in Deutschland und Europa hinzuweisen. Aber gerade türkeistämmige Muslim*innen in Europa sollten über das Erinnern an Srebrenica und die Reflexion darüber lernen, welche blinden Flecken in unserer Erinnerung liegen und wie wir bestimmte historische Tatsachen bis heute leugnen und verdrängen. Ganz ähnlich, wie es bis heute auch unter Serb*innen im Zusammenhang mit den Verbrechen während des Bosnienkrieges zu beobachten ist.

Kritische Erinnerungskultur ist etwas, was vielen Muslim*innen aus ihren Herkunftserzählungen fremd ist. Im türkischen Kontext zum Beispiel ist die Illusion weit verbreitet, das osmanische Reich sei ein multireligiöses Utopia gewesen, in dem alle gleichberechtigt und friedlich miteinander gelebt hätten. Vielen ist nicht bewusst, dass der Wandel vom Sultanat zum Nationalstaat auf Kosten religiöser Minderheiten vollzogen wurde.

Die Pogrome gegen jüdische Minderheiten Ende der 1920er-, Anfang der 1930er-Jahre in Thrakien und der nördlichen Ägäis hatten handfeste nationalstaatliche Motive, wurden aber durch eine religiöse Aufwiegelung befeuert. Gleiches gilt in Bezug auf die September-Pogrome gegen die christlichen Minderheiten in Istanbul 1955, denen auch Jüd*innen und Armenier*innen zum Opfer fielen. Die politisch Verantwortlichen werden bis heute, gerade unter dem jetzigen Regime, als Helden verehrt.

Auch wenn es schwerfällt: Ohne Bildungsangebote geht es nicht

Ein Problembewusstsein, eine aktive Selbstkonfrontation mit historischer Schuld und Verantwortung ist – leider – nicht im Ansatz vorhanden. Sie muss daher politisch und gesellschaftlich vorgelebt und gelernt werden.

Konflikte und negative Reflexe werden dabei nicht zu vermeiden sein. Und man muss als Gesellschaft früh ansetzen, insbesondere in der Schule und der politischen Bildung, die auch wirklich diese Zielgruppe anspricht und erreicht. Die Thematisierung des Genozids an den Armenier*innen oder der Verfolgung von Alevit*innen wird bei vielen türkeistämmigen Jugendlichen Abwehrreaktionen und Gegenwehr auslösen. Aber das darf nicht dazu führen, dass man diese Themen aus Angst vor negativen Reflexen ausklammert.

Die Herausforderung besteht darin, der jugendlichen Zielgruppe nicht das Gefühl zu geben, dass sie von oben herab belehrt wird. Es geht vielmehr darum, Jugendlichen zu verdeutlichen, dass gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Verfolgung von Minderheiten auch in Kontexten vorkommen, in denen sie das bisher gar nicht wahrgenommen haben.

Im März dieses Jahres wurde ich von einer Schule im Ruhrgebiet zu einer Veranstaltung im Rahmen einer Projektwoche eingeladen, während der sich Schüler*innen – viele davon mit einer türkischen Einwanderungsgeschichte – mit dem Film „The Cut“ von Fatih Akin beschäftigten, der den Genozid an den Armenier*innen thematisiert. Die Schüler*innen hatten die Möglichkeit, mit mir und einem weiteren Gast mit türkischem Hintergrund über den Film und das darin behandelte Thema zu sprechen. Auch in diesem Gespräch gab es reflexhafte Reaktionen von Schüler*innen, die einen Genozid schlichtweg leugneten. Dennoch war die Mehrheit der Schüler*innen und Schüler mit türkischem Hintergrund aufgeschlossen und setzte sich – wahrscheinlich oft zum ersten Mal – ernsthaft mit diesem Thema auseinander. Viele Details waren ihnen schlicht unbekannt, was auch in Betroffenheit zum Ausdruck kam.

Im Gespräch mit den Schüler*innen war nach einer anfänglichen Skepsis ein Zugang möglich –was wahrscheinlich dadurch erleichtert wurde, dass an dem Gespräch zwei Gäste, die selbst eine türkische Einwanderungsgeschichte hatten, beteiligt waren. So wurde deutlich, dass es nicht darum geht, alles Türkische und den Bezug zur türkischen Kultur, die man über die Eltern oder Großeltern vermittelt bekommen hat, „in den Dreck zu ziehen“, sondern um eine Auseinandersetzung mit einem dunklen Kapitel der eigenen Geschichte, aus der sich Lehren für das Hier und Heute ziehen lassen.

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