Spiel dich frei! – Innovative Radikalisierungsprävention durch Theater, Musik und Sport
17. Mai 2018 | Jugendkulturen und Soziale Medien, Radikalisierung und Prävention

Streetfootball World -- Rheinflanke-1033443

Das Modellprojekt „Spiel dich frei! – Innovative Radikalisierungsprävention durch Theater, Musik und Sport“, das im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ gefördert wird, hat sich zum Ziel gesetzt, einen neuartigen Ansatz zu entwickeln, der Religions-, Musik- und Theaterpädagogik sowie Sportpädagogik miteinander verbindet und so jungen Menschen in Deutschland eine spielerisch-kreative und niedrigschwellige Auseinandersetzung mit dem Islam und der eigenen Identität ermöglicht. Dennis Diedrich vom Verein RheinFlanke hat uns aus der Arbeit des Projektes berichtet.

Theater, Musik und Sport – diese Themen spielen in der Präventionsarbeit bisher kaum eine Rolle. Um was genau geht es in Ihren Projekten mit Jugendlichen?

Das Konzept unseres Modellprojekts „Spiel dich frei!“ setzt auf einen spielerisch-kreativen Ansatz, der durch die Kombination aus Theater, Musik und Sport niedrigschwellige Zugänge zu gefährdeten Jugendlichen und einen attraktiven Rahmen für die Religions- und Anti-Radikalisierungsarbeit im Zusammenhang mit politischer Bildung schafft. Es ermöglicht die konstruktive Auseinandersetzung mit der eigenen Religion, Kultur und Identität sowie den Gefahren islamistischer Radikalisierung. Das Modell bietet sowohl alternative Selbstwirksamkeitserfahrungen als auch einen neuartigen und besonders stimulierenden Wechsel zwischen den unterschiedlichen kognitiven, kreativen, emotionalen und körperlich-aktiven Ebenen der Reflektion.

Wie genau sieht das denn in der Praxis aus?

 Die Jugendlichen erhalten zunächst Theorie-Inputs aus der politischen Bildung gegen Extremismus und zur Demokratiestärkung. Diese Inputs werden in unserem Projekt mit verschiedenen Praxis-Outputs verknüpft. So können die Teilnehmer_innen Themen und Bedarfe, die in den Gesprächen der Theorieeinheiten aufkommen, im direkten Anschluss unter professioneller Anleitung künstlerisch-kreativ verarbeiten und kanalisieren. Theater und Musik haben sich dabei als Ausdrucksmöglichkeit bewährt, die eine Reflektion, zum Beispiel über die Rollen der Geschlechter, anregen können.

Und welche Rolle spielen dabei sportliche Aktivitäten?

Die sportpädagogischen Ansätze ergänzen die mehrdimensionale Er- und Verarbeitung des Themas. Werte, wie Fair Play und Geschlechtergleichberechtigung, und Sozialkompetenzen, wie Dialog- und Konfliktlösungsfähigkeiten werden auf diese Weise spielerisch gefördert.  Dabei kommt mit football3 auch eine innovative sportpädagogische Methodik zum Einsatz, die gezielt interaktives Lernen und die Auseinandersetzung mit Diskriminierung, Geschlechtergleichberechtigung und Radikalisierung ermöglicht. Als Methode des Sozialkompetenz- und Anti-Gewalttrainings fördert football3 Toleranz, Dialogfähigkeit und Fair Play.

Welche Rolle spielt Sport aus ihrer Sicht allgemein für die Jugendsozialarbeit?

 Der Sport – und insbesondere der Fußball – hat sich im Zuge der langjährigen und vielfältigen Jugendsozialarbeit der RheinFlanke und von streetfootballworld in den unterschiedlichsten Kontexten als Brücke und Eisbrecher, also als ein besonders attraktives Mittel bewährt, um niederschwellige Zugänge zu schwer erreichbaren Jugendlichen zu erschließen. Mit Sport kann man für soziale Projekte begeistern. Außerdem können junge Menschen über die im Sport schnell geknüpfte vertrauensvolle Beziehung auch für eher wenig attraktive Themen wie politische Bildung und religiöse Fragen sensibilisiert werden. Durch gezielte sportbezogene Maßnahmen werden Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert, sie unterstützen bei der Bewältigung von Stress und Trauma und stärken das physische und mentale Wohlbefinden. Aber auch Sozialkompetenzen, Selbstvertrauen und Akzeptanz lassen sich über Sport leichter vermitteln.

In den Präventionsprojekten von RheinFlanke und streetfootballworld hat sich der Einsatz von Sport bewährt, um verschiedene Gruppen miteinander in gewaltlosen und respektvollen Austausch zu bringen und spielerisch gegenseitige Ressentiments abzubauen. Über Sport als Türöffner fällt es uns leichter, den jugendlichen Teilnehmern/-innen Zukunftsperspektiven in der Mitte der Gesellschaft aufzuzeigen, Perspektiv- und Orientierungslosigkeiten entgegenzuwirken und so letztlich Radikalisierungspotenzialen den Nährboden zu entziehen.

Kommen denn religiöse Fragen im Sport überhaupt vor? Ich könnte mir vorstellen, dass Jugendliche sagen, das Thema interessiere sie gar nicht. Bringen die Jugendlichen diese Fragen von sich aus ein?

Religion spielt im Leben vieler Jugendlicher durchaus eine Rolle und bestimmt auch viele Lebenssituationen und Entscheidungen. Gerade wenn die Themen, die z.B. in der Öffentlichkeit diskutiert werden, auch offen angesprochen und mit neuer Perspektive beleuchtet werden, kann dieses Themenfeld als Sperre zwischen allen abgebaut und vielmehr als etwas Vertrautes gehandhabt werden. Die Religion des anderen gehört zu dessen Identität, sie soll verstanden und respektiert werden und ist deshalb kein trennendes Element mehr. So lässt sich z.B. darüber sprechen, warum z.B. Mesut Özil vor dem Spiel ein muslimisches Gebet spricht oder andere sich bekreuzigen.

Können Sie diese Ansätze genauer beschreiben?

In der sportpädagogischen Einheit zu Projektbeginn geht es zunächst darum, schnell eine vertrauensvolle Beziehung zu den Projektteilnehmern in einem positiv besetzten Setting zu aufzubauen und erste ebenfalls positiv wahrgenommene gemeinsame Erfahrungen zu machen. In der Reflexionsrunde werden die Teilnehmer_innen durch die Sportpädagog_innen über die Ziele, Methoden und Ansätze des Projekts allgemein und die verschiedenen noch anstehenden Projektbausteine im Besonderen informiert. Auch Fragen dazu können so direkt beantwortet und mögliche Vorbehalte abgebaut werden. Die Theorie-Inputs, die von unserem Kooperationspartner, dem Liberal-Islamischen Bund, gestaltet werden, haben jeweils verschiedene, miteinander kombinierbare Themenschwerpunkte.

Welche sind dies?

Es sind insgesamt fünf Module: Gottesvorstellung und Menschenbild im Islam, Umgang mit Menschen anderer Religions­gemeinschaften und Weltanschauungen, Umgang mit dem Koran und die Frage nach der Auslegung, Toleranz, Frieden, innerislamischer Diskurs und die Frage nach der Identität, Medienkompetenz – Umgang mit extremistischen Angeboten im Internet und in Apps. Diese Themenschwerpunkte dienen in den Gesprächsrunden als Stichwortgeber, aus denen sich dann schnell entsprechend der persönlichen Erfahrungen und der Bedarfe der jeweiligen Gruppe lebhafte Diskussionen ergeben. Aber auch eigene, von den Teilnehmer_innen eingeworfene Themen und Fragen werden bearbeitet. Die Jugendlichen sollen gerade die Gesprächsmodule als geschützten Raum erleben, in dem sie auch einmal Fragen stellen können, die sie sich sonst nicht zu stellen trauen.

Abwertungen und Wahrheitsansprüche gibt es nicht nur im religiösen Kontext. Wenn man Extremismus im Fußball denkt, denkt man vor allem an Homophobie und Rassismus. Greifen Sie diese Themen auch auf?

Auch diese Themen werden von uns im Projekt aufgegriffen, aber nicht in einem Fußball-bezogenen Kontext, da die Fan- und Ultra-Szene nicht Kernzielgruppe von Spiel dich frei! Ist. Für diese Zielgruppe gibt es eigene Projekte bei RheinFlanke und Streetfootballworld mit ähnlichen Methoden, Mechaniken und Zielen, aber einem bedarfsgerecht modifizierten Theorieinput. In Spiel dich frei! geht es im Kern nicht um den Sport und den Fußball als ein soziokulturelles Phänomen, sondern um dessen Potenziale als soziales Lernfeld und Methode innerhalb der Jugend(sozial)arbeit.

Übungsleiter_innen und Trainer_innen beklagen sich oft, dass sie kaum Kapazitäten haben, um all diese Themen zu behandeln. Ist es trotzdem Ihr Ziel, dass der Ansatz auch von anderen aufgegriffen wird?

Wir wenden uns in dem Projekt bei der Multiplikatorenschulung im Kern an Lehrer, Schulsozialarbeiter und andere pädagogische Fachkräfte, um diese so zu schulen, dass sie neue Handlungskompetenzen und Werkzeuge für ihren pädagogischen Alltag bekommen. Bei ehrenamtlich tätigen Trainern und Übungsleiter_innen sind die Kapazitäten tatsächlich sehr begrenzt. Aber auch hier versuchen wir, zu informieren und zu sensibilisieren, so dass diese, auch gestützt auf das Handbuch, das wir zur Verfügung stellen, in ihrer Arbeit mit jungen Menschen zumindest Anzeichen für Extremismus und Radikalisierungstendenzen frühzeitig erkennen können, um sich dann Unterstützung und Hilfe zu holen, wenn die Problematiken und Bedarfe die eigenen Möglichkeiten überschreiten. Sowohl für die geschulten Fachkräfte als auch für die Ehrenamtler_innen, die als Multiplikator_innen fungieren, stehen wir auch nach Projektende bei Bedarf zur Beratung oder als Lotse zu weiterführenden Fachdiensten bereit.

Arbeiten Sie auch mit Kooperationspartnern vor Ort? Wer ist aus ihrer Sicht für ein solches Projekt besonders wichtig?

Das Projekt richtet sich primär an Schulen, sowie an diverse Einrichtungen der Jugendhilfe und Vereine. Neben der engen und nachhaltigen Zusammenarbeit mit den direkten Projektpartnern und Veranstaltungsorten, die auch nach der Projektwoche und der Multiplikatorenschulung noch bei Bedarf weiter beraten und unterstützt werden, verstehen sich die Spiel dich frei!-Projektverantwortlichen auch als Lotsen im jeweiligen sozialräumlichen Netzwerk. Die Mitarbeiter_innen versuchen dabei, in den Fällen, in denen die Bedarfe der Jugendlichen nicht adäquat bedient werden können, die geknüpfte vertrauensvolle Beziehung zu den jungen Menschen zu nutzen, um diese zu verschiedenen Fachdiensten, Institutionen und Beratungsstellen zu vermitteln und zu begleiten. Sowohl mit Blick auf eine mögliche Radikalisierung als auch auf andere Hemmnisse, die eine nachhaltige Integration und einen gelungenen Lebensentwurf in Deutschland erschweren bzw. unmöglich machen (Drogen, Schulden etc.).

Woran messen Sie den Erfolg ihrer Arbeit?

 Der Erfolg lässt sich zunächst daran erkennen, dass das Angebot die Zielgruppe erreicht, im nächsten Schritt dann daran, dass die Zielgruppe das Angebot auch langfristig wahr- und annimmt – dies lässt sich quantitativ über Teilnehmerlisten messen – und die Methoden und Ziele des Angebots grundsätzlich für relevant hält.

Dies lässt sich über Beobachtungen, Fragebögen und Experteninterviews qualitativ erfassen. Ob die Projektteilnehmer langfristig ihre Einstellungen, Haltungen und Handlungskompetenzen ändern bzw. weiterentwickeln, zeigt sich in den Reflexionsrunden und Wirksamkeitsdialogen nach Ende der Projektwoche im fachlichen Austausch mit den Verantwortlichen vor Ort (Lehrern, Schulsozialarbeitern etc.) und weiteren Beratungs- und Unterstützungsterminen. Ein erster Erfolg ist es immer schon, wenn die Jugendlichen zum Nachdenken und Hinterfragen angeregt werden und das in ihr praktisches Leben transferieren können.

Dass es im ersten Projektdurchlauf in Köln offensichtlich gelungen ist, zu vielen Jugendlichen eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen, zeigt sich auch daran, dass einige Jugendliche, nachdem sie in der Projektwoche erstmals mit der RheinFlanke und ihren Projektpartnern in Kontakt gekommen sind, nach dem Ende der Woche an die verschiedenen, offenen sport- und gruppenpädagogischen Angebote der RheinFlanke in den verschiedenen Kölner Bezirken angebunden und integriert werden konnten.

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