Entgegen weit verbreiteter Annahmen sind radikalisierte Personen nicht zwangsläufig sozial benachteiligt. Vielmehr stellt Radikalisierung ein milieuübergreifendes Phänomen dar. Dennoch scheint soziale Ungleichheit ein wichtiger Faktor für Hinwendungsprozesse und Radikalisierungsverläufe zu sein. Der Beitrag wirft einen differenzierten Blick auf den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Radikalisierung. Dabei wird deutlich, dass weniger die absolute als vielmehr die relative Ungleichheit von Bedeutung für Radikalisierungsprozesse ist.
In der Präventionsarbeit wird seit einigen Jahren über einen möglichen Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Radikalisierung diskutiert. Besonders die Ausreisewelle tausender europäischer Dschihadist*innen nach Syrien im Jahr 2015 – die Mehrheit von ihnen mit Zuwanderungsgeschichte – befeuerte die Debatte über mögliche Zusammenhänge. Die Pariser Banlieues, der Brüsseler Stadtteil Molenbeek oder auch die nordrhein-westfälische Stadt Dinslaken – Räume, die von sozialen Problemen und Strukturwandeln betroffen sind – gerieten wegen einer Vielzahl von Ausgereisten nach Syrien in die medialen Schlagzeilen. Diskutiert wird daher, ob die Menschen sich möglicherweise aufgrund ihrer Lebensbedingungen wie Arbeitslosigkeit, Armut, Rassismus oder räumlicher Segregation und fehlender Zukunftsperspektiven radikalisiert haben könnten.
Soziale Ungleichheit als Radikalisierungsfaktor?
Soziale Ungleichheit bezeichnet disparate Verteilungen von Ressourcen, Chancen, Macht und Privilegien innerhalb einer Gesellschaft zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. Relevante Unterscheidungsfaktoren können das Einkommen, die Bildung, die Beschäftigungssituation, der soziale Status, aber auch das Geschlecht und die Herkunft sein. Die bisherige Forschung zu möglichen Zusammenhängen zwischen Radikalisierung und sozialer Ungleichheit in Europa hat bislang nur wenige empirische Befunde liefern können.
Beispielsweise gaben die Erhebungsergebnisse der deutschen Sicherheitsbehörden keine dezidierten Hinweise auf signifikante Auffälligkeiten in den Bildungs- und Erwerbsbiografien von ausgereisten Dschihadist*innen nach Syrien (BKA/BfV/HKE 2016). In Frankreich wurde kontrovers über marginalisierte Jugendliche in den Banlieues (Kepel 2016) und über die Rolle von Delinquenz diskutiert (Roy 2016). In Belgien wurden Stigmatisierung und rassistische Diskriminierung als Ursachen für einen verstärkten Trend einer „identitätspolitischen“ Orientierungssuche muslimischer Jugendlicher angeführt (Coolsaet 2015).
Auch Aspekte der sozialräumlichen Radikalisierung in Verbindung mit marginalisierten Stadtteilen wurden in den letzten Jahren verstärkt in der Debatte aufgegriffen. So reisten im Zuge des syrischen Bürgerkriegs in Berlin allein zwölf Menschen aus dem als benachteiligt geltenden Bezirk Neukölln in die Levante aus, aus dem als privilegiert geltenden Friedrichshain dagegen nur eine Person (VerfSch Berlin 2015: 11). Ähnliche Hinweise ergaben sich auch für bestimmte Stadtteile in Frankfurt am Main, Dinslaken, Hamburg und Bremen. Aber auch in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien scheinen Auffälligkeiten zu bestehen, wenngleich dies auch auf selektive Eindrücke zurückzuführen sein mag.
Dem Soziologen Farhad Khosrokhavar zufolge lassen sich solche Phänomene auf „dschihadogene Stadtstrukturen“ zurückführen, die der Nährboden für dschihadistische Rekrutierungen sind. Er nennt zwei grundlegende Effekte, die dafür verantwortlich seien: soziale Netzwerke und die spezielle Beschaffenheit von Stadtgebieten. Viele Jugendliche in diesen Vierteln kämen durch formelle oder informelle Netzwerke, beispielsweise durch Freund*innen oder familiäre Beziehungen miteinander in Kontakt. Khosrokhavar identifiziert insbesondere die ethnische Herkunft als besonderes Merkmal der Stadtstruktur, die junge Menschen miteinander verbinde. Viele von ihnen lebten in „Problemzonen“, in denen Teile der Bevölkerung Stigmatisierung erführen und daher eine unterschwellige Wut entwickelten.
Arbeitslosigkeit, Schulabbruchquoten und Kriminalitätsraten seien dort vergleichsweise hoch. Dies führe zu einer Ghettoisierung mit illegalen Schattenmärkten, die Jugendliche anzögen und dazu verleiten würden, gesellschaftliche Normen zu übertreten. Diese Bedingungen formten eine „Identität der sozial Ausgegrenzten und kulturell Diskreditierten“, die sich durch Viktimisierung von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzten. In diesem Kontext gewinne der Islam als Ersatzidentität an Bedeutung, um Erfahrungen mit Rassismus und Ausgrenzung zu kompensieren (Khosrokhavar 2018).
Allerdings lässt die Vielfalt an individuellen und kollektiven Radikalisierungsverläufen bisher keine eindeutigen Schlussfolgerungen zu, die Radikalisierung allein auf strukturelle Faktoren zurückführen. Vielmehr zeigt sich, dass auch die Selbstwahrnehmung der Radikalisierten von Bedeutung sein kann, die psychologisch erklärt werden kann.
Relative Deprivation und Desintegrationsprozesse
Die Deprivationstheorie unterscheidet zwischen tatsächlichen Erfahrungen von Ungleichheit (absolute Deprivation) und Gefühlen von Ungleichheit (relative Deprivation) (Neumann 2020: 18; Kurtenbach 2021: 19ff.). Relative Deprivation basiert auf dem Widerspruch von Werterwartungen und Wertansprüchen, d.h. die subjektive Wahrnehmung von sozialer Ausgrenzung. Dies kann zu Unzufriedenheit und Frustration führen (Baehr 2019: 226)
In Anbetracht der Diversität von sozialen und sozioökonomischen Hintergründen radikalisierter Personen, scheint die absolute Deprivation nur eine geringfügige Rolle zu spielen. Vielmehr scheint im Kontext der Radikalisierung die relative Deprivation von Bedeutung zu sein. Durch relative Deprivation kann im weiteren Verlauf ein politisches Mobilisierungspotenzial entstehen, wenn politische oder religiöse Akteur*innen Missstände benennen und zu Gegenmaßnahmen aufrufen. Dabei schließen die politischen Mobilisierungsversuche an Überzeugungen und Erfahrungen marginalisierter Gruppen an. Infolgedessen kann es zu sozialen Desintegrationsprozessen kommen. Nicht immer sind diejenigen, die angesprochen werden sollen, selbst von Nachteilen betroffen. Es reicht auch die Wahrnehmung einer Zugehörigkeit zu einer Bezugsgruppe oder zumindest ein ausgeprägtes Solidaritätsempfinden, um sich als Teil der ungleich behandelten Gruppe zu betrachten (Hegemann/Kahl 2018: 86).
Bei islamistischer Propaganda ist es auffällig, dass klassische Formen der sozialen Ungleichheit (Schichten und Klassen), wie ungleiche Bildungs- und Aufstiegschancen oder Einkommensungleichheit, thematisch kaum eine Rolle spielen. Dies ließe sich darauf zurückführen, dass eine Thematisierung sozialer Ungleichheit das Identitätsmerkmal „muslimisch“ aufweichen und zwangsweise andere benachteiligte Gruppen inkludieren würde. Dadurch wäre auch die Konstruktion als exklusive Opfergruppe gefährdet.
Vielmehr fokussieren sich Islamist*innen auf Themen, die vor allem Muslim*innen betreffen und auch für Muslim*innen mit einem hohen sozialen Status oder einem hohen Bildungsgrad erfahrbar und anschlussfähig sein können, wie Rassismus, Muslimfeindlichkeit oder Kolonialismus. Dadurch soll die Gruppenidentität einer muslimischen Gemeinschaft gestärkt werden und eine zunehmende Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft als vermeintliche Verursacherin des empfundenen Leids bewirkt werden.
Durch relative Deprivation entsteht somit eine Basis für eine kognitive Öffnung, „also eine Bereitschaft, eigene Denkmuster zu überprüfen und mit neuen Ideen und Wertvorstellungen“ zu füllen (Neumann 2013). Diese können unter anderem durch Vorurteile gegenüber vermeintlich verantwortlichen Personen und Gruppen, häufig in Form von Elitenkritik, geprägt sein. Es kommt zur Abwertung von Fremdgruppen (Out-group) und zu Aufwertung der Eigengruppe (In-group). Eine Konstante der Persuasionsversuche von Islamist*innen sind Ideologien der Ungleichwertigkeit, die die Frustrationen und Minderwertigkeitsgefühle vor allem vulnerabler Zielgruppen in religiöse Deutungskategorien und Selbstperzeptionen übersetzen.
Solche Ideologien werden als Resultat kategorialer Einordnungen von Menschengruppen auf Grundlage gesellschaftlicher Norm- und Normalitätsvorstellungen verstanden. Die Abwertung wird auf Basis von sozialen, politischen oder auch religiösen Ansichten und Überzeugungen gerechtfertigt. „Die Abwertung ihrerseits kann wiederum als Legitimation für diskriminierendes und gewalttätiges Verhalten gegenüber den als abweichend deklarierten Gruppen fungieren“ (Grau 2017: 11).
Gegenkultur und selbstbestimmte Exklusion
In der Radikalisierungsforschung wird die Attraktivität eines islamistischen Selbstverständnisses als Gegenkultur betont, das für identitätssuchende Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte attraktiv wirken kann. El-Mafaalani betont zudem das „gegenkulturelle Moment“ des Islamismus „als jugendkulturelle Provokation“ (El-Mafaalani 2014). Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte stehen oftmals vor der Herausforderung, traditionsbewusste Familienkontexte und eigene Lebensrealitäten und Teilhabechancen (durch Sprache, Bildung, Vereine etc.) miteinander zu vereinbaren. Das gelingt nicht immer, weshalb sich aus Frustration gegenkulturelle Gruppen bilden können, die sich deviante Verhaltensweisen habituell aneignen (Heitmeyer/Hermann 2010).
Auch wenn es keine eindeutigen Befunde dafür gibt, dass „klassische“ Faktoren der sozialen Ungleichheit im Zusammenhang mit Radikalisierung stehen, deutet die Selbstperzeption islamistischer Akteur*innen dennoch darauf hin, dass es Wechselwirkungen zwischen Deprivationserfahrungen und Hinwendungsprozessen gibt. Vor allem das Gefühl von vielen jungen Muslim*innen, nicht als Teil der Gesellschaft anerkannt zu sein, könnte darauf hinweisen, dass die Rolle von Diskriminierungserfahrungen wie Rassismus und antimuslimischer Rassismus zumindest einen Nährboden für Radikalisierungsprozesse bietet.
Junge Menschen reagieren auf kognitive und emotionale Reize stärker als Erwachsene. In der Adoleszenz beginnen sie, eigene Lebensentwürfe zu entwickeln und sich unabhängig vom Elternhaus beruflich, sozial und politisch zu positionieren. Die Aushandlung mit ihren sozialen Zugehörigkeiten und Identitäten kann durch Diskriminierungserfahrungen erschwert werden. Umso mehr sind Jugendliche auf die Anerkennung und Wertschätzung durch ihr soziales Umfeld, und nicht zuletzt auch durch die Mehrheitsgesellschaft, angewiesen. Wenn sie das Gefühl vermittelt bekommen, aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Religionszugehörigkeit nicht erwünscht zu sein, kann sich dies begünstigend auf Hinwendungsprozesse auswirken. Gerade in Zeiten multipler Krisen, wie Terrorismus und Rechtsextremismus, können diese Gefühle der Exklusion deutlich verstärkt werden.
Islamist*innen kennen das (religiöse) Alltags- und Familienleben, die Generationenkonflikte, die Subkulturen, die Freizeitgestaltung, die Sprachregelungen und Gruppendynamiken ihrer jungen Zielgruppen gut. Dabei beziehen sie sich auf Themen, mit denen sich häufig auch muslimische Jugendliche auseinandersetzen, wie Ausgrenzung und Rassismus, Perspektivlosigkeit, Kriminalität, Zukunftsängste und Gruppenkonflikte. Sie bieten sich bewusst als Ansprechpartner und Interessensvertreter für muslimische Jugendliche an, um sie in ihren Selbstwahrnehmungen zu bestärken und sich als „Tugend der selbstbestimmten Exklusion“ zu inszenieren (El-Mafaalani 2014: 364). Durch „religiöse Identitäten und Diskurse, die sich in islamistischen Machtvorstellungen und Mythologien niederschlagen und durch gemeinsame Praktiken wie Rituale und Symbole verstärkt und weiter transportiert“ werden, kann ein „Wir“-Gefühl geschaffen werden (vgl. Bozay 2017: 139).
Beispielsweise versuchen Islamist*innen Anschluss an die Rap- und Hip-Hop-Szene zu finden. Denn in dieser Musikszene kulminieren auch die häufig übertriebenen Selbst- und Fremdwahrnehmungen von meist migrantischen Außenseitern, die ein Leben in Armut, Kriminalität und gesellschaftlicher Ausgrenzung inszenieren, und gleichzeitig Kritik an diesen Verhältnissen üben. Insbesondere der ehemalige Rapper Denis Cuspert alias „Deso Dogg“ stand früher sinnbildlich für ein Milieu, das als primäre Zielgruppe von Salafist*innen galt (Rapp 2015). Als Kind eines Ghanaers und einer deutschen Mutter, das in Armut und zerrütteten Familienverhältnissen aufgewachsen und als Jugendlicher mit kriminellen Gangs in Berlin herumgezogen war, fungierte Cuspert als nunmehr geläuterter Muslim als Vorbild einer perspektivlosen Jugend (Korfmacher 2019). Mithilfe von Erzählungen über soziale Ungleichheit innerhalb migrantischer und muslimischer Communities und die vermeintliche Verdorbenheit der westlichen Konsumgesellschaft und Glorifizierung einer Utopie einer rein muslimischen Gesellschaft auf Basis der Scharia agitierte er für den Salafismus.
Dabei kam ihm insbesondere seine Vergangenheit als delinquenter Rapper zugute, die ihn zu einer Identifikationsfigur für eine städtische, perspektivlose Jugend machte. „Du kannst jeden fragen: meine Geschichten, die ich erzähle, sind alle nicht erfunden. Die sind alle echt, nicht wie bei den meisten Leuten“, sagte Cuspert einmal in einem Propagandavideo (Mano Bang 2009).
Soziale Ungleichheit als Selbstperzeption in der islamistischen Propaganda
Die islamistische Propaganda greift Themen zu sozialer Ungleichheit in vielfältiger Weise auf. Meist geht es Islamist*innen darum, einen Konflikt zwischen Muslim*innen und der Mehrheitsgesellschaft zu behaupten, der auf klaren Täter- und Opfer-Zuschreibungen basiert. Das Hauptnarrativ von Islamist*innen ist die Unterdrückung der bzw. der Kampf gegen Muslim*innen. Diese würden durch vermeintlich übermächtige Gegner wie die Ungläubigen, der Westen oder deren heuchlerischen Vasallen verfolgt und unterdrückt werden. Die Konsequenz müsse eine Auflehnung der Muslim*innen gegen diese Unterdrückung sein. Sie müssten sich vereinigen und stattdessen die Macht übernehmen. Dichotomes Denken und Sprachregelungen wie „Wir und „Ihr“ oder „Muslime“ und „Kuffar“ bilden so eine Grundlage für religiöse und ideologische Abstraktionen, mit denen Wert-, Täter- und Opferzuschreibungen einhergehen.
Die kolportierte Unterdrückung spiegelt sich in völlig unterschiedlichen Narrativen und Subtexten wider: beispielsweise in der vermeintlichen Einschränkung der Glaubenspraxis, in der als erzwungen wahrgenommenen Anpassung an demokratische oder pluralistische Lebensstile und Werte, in Rassismus und Islamhass, in der Medienberichterstattung über Muslim*innen oder in der Deutung der geopolitischen Dominanz des Westens als koloniale Ausbeutung. Islamist*innen bezeichnen allerdings nicht nur Nichtmuslim*innen als Verursacher*innen von Unterdrückung, sondern wenden sich auch gegen andere muslimische Akteur*innen und Vereinigungen, die in ihren Augen im Dienst der Ungläubigen stehen oder ihren Glauben nicht angemessen praktizieren. Ziel ihrer Kritik an vermeintlichen Ungleichheiten ist allerdings nicht, als politische Interessenvertreter für muslimische Minderheiten innerhalb der freiheitlich-demokratischen Gesellschaft zu fungieren oder muslimische Perspektiven stärker in öffentliche Diskurse einzubringen. Vielmehr zielen Islamist*innen darauf ab, ein Gefühl des Fremdseins („Ghuraba“) unter Muslim*innen zu verbreiten eine Ablehnung des bestehenden Systems zu forcieren und und Muslim*innen für ihre islamistischen Ideologien und reaktionäre Vorstellungen von Gesellschaft und Staat zu gewinnen.
Besonders bei Krisenereignissen wie dem aktuellen Nahostkonflikt, die oftmals religiös gedeutet werden, nimmt der Druck auf vulnerable bzw. junge Menschen zu. Das zeigte bereits der syrische Bürgerkrieg, in dessen Zuge Islamist*innen Menschen für ihre eigenen dschihadistischen Ziele anwarben, auch indem sie das immense Leid der dortigen Zivilbevölkerung für ihre Propaganda instrumentalisierten. Im Internet kursierten zahllose audiovisuelle Inhalte, in denen die Gräueltaten des Krieges teilweise aufwendig und emotionalisierend mit Musik oder visuellen Manipulationen aufbereitet wurden. Die dschihadistische Propaganda reichte von Spendenaufrufen und persönlichen Ansprachen in Moscheen bis hin zu konkreten Aufrufen zur Ausreise in den Dschihad in den sozialen Medien. Dabei wurde an das moralische Gewissen von Muslim*innen appelliert und auf religiöse Verheißungen Bezug genommen. Auch die Utopie eines islamischen und gerechten Staates, in dem sich Muslim*innen selbst verwalten und in Frieden unter den Gesetzen des Koran und der Scharia leben, entfaltete eine Sogwirkung auf viele junge Menschen.
Die Anziehungskraft dieser Ansprachen spiegelt auch den Idealismus und ein Unrechtsbewusstsein wider. Für viele Radikalisierte ist die Mobilisierung für die „gute Sache“ und für die „Gemeinschaft der Muslim*innen“ sinnstiftend. Sie erfahren dadurch nicht nur eine Selbstaufwertung, indem sie Schwächeren helfen, sondern auch Sinn in ihrem Handeln. Sie internalisieren dadurch auch eine Selbstwahrnehmung als einsame Avantgarde, die gegen alle Widerstände an ihren Überzeugungen festhält.
Die Gefangenenhilfe und Spendentätigkeiten stellen daher ebenfalls eine Konstante in der Selbstperzeption islamistischer Akteur*innen im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit dar. Hier vereinen sich Idealismus und Agitation. Die Hilfe untereinander stärkt nicht nur das Gefühl als Solidargemeinschaft, sondern auch die Verinnerlichung und gleichzeitige Weiterverbreitung der eigenen Weltbilder und Narrative.
Schlussfolgerungen
Auch wenn die bisherigen empirischen Befunde gegen einen direkten Zusammenhang von Radikalisierung und sozioökonomischer Ungleichheit sprechen, scheint die relative Deprivation durchaus eine Schlüsselrolle in Radikalisierungsprozessen zu spielen und kann als Erklärungsansatz herangezogen werden, der die Wahrnehmungen und Selbstperzeptionen radikalisierter Menschen stärker berücksichtigt. So können Gefühle der Benachteiligung, Exklusions- und Diskriminierungserfahrungen bei vulnerablen Menschen dazu führen, dass sie sich von der Mehrheitsgesellschaft stärker abgrenzen und damit ansprechbar für extremistische Botschaften werden.
Klar ist, dass soziale Ungleichheit ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt und sich nicht nur mithilfe der Präventionsarbeit lösen lässt. Andernfalls besteht die Gefahr, sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen im Zusammenhang mit Radikalisierung zu stigmatisieren. Politische Entscheidungsträger*innen sind gestalterisch und finanziell maßgeblich verantwortlich, gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, bei denen soziale Disparitäten, Segregationstendenzen und Diskriminierung wirksam reduziert und zugleich Desintegrations- und Radikalisierungsprozesse vorgebeugt werden können.
Die Präventionsarbeit kann allerdings dort ansetzen, wo sich die Zielgruppen ihrer Arbeit bewegen und aufhalten. In der pädagogischen Arbeit und in der Sozialarbeit trifft sie auf die Zielgruppen vor Ort oder im Internet. Zuallererst geht es darum, Jugendlichen bei ihren alltäglichen lebensweltlichen Problemen, die mit vielen Aspekten sozialer Ungleichheit im Zusammenhang stehen, Hilfestellungen zu leisten.
Dazu gehören beispielsweise Räume und Möglichkeiten, Gefühle und Emotionen zu Erfahrungen von Benachteiligungen frei äußern zu können, genauso auch das Aushalten und das Akzeptieren provokanter Aneignungsweisen, die mit dem Jugendalter häufig einhergehen können. Ebenso müssen die Ambivalenzen zwischen Selbstperzeptionen und der Komplexität gesellschaftlicher Realität klar vermittelt werden.
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