Aktuell geht der Romn*ja Powermonth zu Ende. Passend dazu erscheint die fünfte Ausgabe unserer Reihe „Jetzt mal konkret“ über Sinti und Roma in Deutschland. Die Geschichte dieser nationalen Minderheit, ihre Held*innen des Widerstands sowie ihre Diskriminierungserfahrungen verdienen im öffentlichen Diskurs viel mehr Aufmerksamkeit. Sakina Abushi von ufuq.de informiert über die strukturelle Benachteiligung von Angehörigen der Minderheit in der Schule und erklärt, wieso die Geschichte und Gegenwart der Roma und Sinti in der Bildungsarbeit stärker thematisiert werden sollten.
ufuq.de:
Liebe Sakina, wieso muss das Thema „Antiziganismus“ in der Schule aufgegriffen werden?
Sakina Abushi:
Antiziganistische Ressentiments und Bilder finden sich in allen gesellschaftlichen Bereichen, auch in der Schule. In der RomnoKher-Studie (pdf) aus dem Jahr 2021 berichteten 60% der über 600 befragten Rom*nja und Sinti*zze von Diskriminierung in der Schule, die hauptsächlich von Lehrkräften ausging. Auch fehlende Unterstützung und Zurückweisung wurden beklagt. Das Leibniz-Insititut für Bildungsmedien | Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung fand in einer Untersuchung (pdf) im gleichen Jahr heraus, dass Antiziganismus in keinem von 197 Lehrplänen Thema ist, dass der Z-Begriff noch immer verwendet wird und sich in zahlreichen Büchern stereotype Darstellungen von Sinti*zze und Rom*nja finden. Im Bereich Schule, aber auch in der außerschulischen Bildungsarbeit gibt es noch einiges zu tun: So kritisiert die Unabhängige Kommission Antiziganismus (UKA) in ihrem Bericht von 2021 (pdf), dass für Schulen oder die politische Bildungsarbeit weder feste Vorgaben noch ausreichende Materialien für die Bekämpfung von Antiziganismus existieren.
ufuq.de:
Wie äußert sich die strukturelle Benachteiligung von Sinti*zze und Rom*nja in der Schule?
Sakina Abushi:
Die strukturelle Benachteiligung zeigt sich nicht nur auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt, sondern auch im Bildungssystem. Der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa) des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) untersuchte unter anderem, wie Lehramtsstudierende Schüler*innen verschiedener Gruppen bewerten und welche Empfehlungen für weiterführende Schulen sie diesen geben. Über 200 Studierende nahmen an der Befragung teil. Die Ergebnisse zeigen, dass Kinder von Sinti*zze und Rom*nja ungeachtet ihrer tatsächlichen schulischen Leistung am häufigsten eine Hauptschulempfehlung erhalten, gefolgt von türkeistämmigen Schüler*innen und solchen ohne Migrationsbiografie. Hinzu kommt, dass in der Gruppe der Sinti*zze und Rom*nja fast jede*r Dritte das Bildungssystem ohne Schulabschluss verlässt und die Personen sich häufiger in prekären Arbeitsverhältnissen befinden.
ufuq.de:
Insgesamt scheint Antiziganismus im öffentlichen Diskurs nicht gleichsam präsent wie andere Rassismus- und Diskriminierungsformen, wie z.B. Antisemitismus. Woran liegt das?
Sakina Abushi:
Das ist in der Tat so. Der Genozid an den Sinti*zze und Rom*nja während des Nationalsozialismus ist bis heute noch nicht ausreichend erforscht und daher auch noch nicht derart stark im kollektiven Gedächtnis verankert. Erst 1982 kam es zur offiziellen Anerkennung des Genozids. Viele weitere Jahre später, nämlich erst 2012, wurde ein Denkmal für die ermordeten Sinti*zze und Rom*nja in Berlin errichtet. Dies alles trug und trägt dazu bei, dass Sensibilität und ein gesellschaftliches Bewusstsein für Diskriminierungsmechanismen gegenüber dieser Gruppe noch immer fehlen.
ufuq.de:
Warum ist das problematisch?
Sakina Abushi:
Eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Sinti*zze und Rom*nja ist wichtig, um Nachwirkungen in der Gegenwart verstehen zu können. Die Ausblendung des Themas im Schulunterricht ist insbesondere deshalb problematisch, weil durch fehlendes Bewusstsein schneller auf abwertende Zuschreibungen zurückgegriffen werden und Benachteiligung so legitimiert werden kann. Die Vermittlung von Wissen über die Verfolgungsgeschichte der Sinti*zze und Rom*nja sowie über institutionalisierte Diskriminierungspraktiken ist unbedingt notwendig, damit Rassismus sich nicht fortsetzt und Schule ihrem Auftrag, Chancengleichheit zu gewähren, gerecht werden kann.
Die Arbeitshilfe „Jetzt mal konkret! – Anregungen für den Unterricht“ ist kostenlos und sowohl für den Unterricht als auch für die außerschulische Bildungsarbeit geeignet.
Diese Publikation erscheint im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX) und in Kooperation mit dem Team meX der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg.
Diese Arbeitshilfe ist kostenlos und kann als PDF heruntergeladen werden.