Der Umgang mit dem Islam in Unterricht und Schule sorgt immer wieder für Debatten. Das Forschungsprojekt „Der Islam in der Kontroverse“ geht den unterschiedlichen Wahrnehmungen dieser Konflikte nach und entwickelt Ansätze der Kommunikation und Beteiligungsformate, die alle Akteur*innen der Schulgemeinschaft einbinden. Dr. Miguel Zulaica y Mugica, der das Projekt leitet, gibt im Gespräch Einblicke in die Hintergründe.
Mustafa Ayanoğlu:
Wenn man die Debatten über den Umgang mit dem Islam in Schulen verfolgt, könnte man meinen, es ginge nur um Konflikte. Auch in Ihrem Forschungsprojekt „Der Islam in der Kontroverse: Praktische Dilemmata in schulischen Kontexten“ setzen Sie sich mit herausfordernden Situationen im Schulkontext auseinander. Was war der Anlass für diese Studie, die Sie im Mai begonnen haben?
Miguel Zulaica y Mugica:
Der von Ihnen beschriebene Eindruck deckt sich mit der empirischen Realität: Wenn es um das Thema Islam und Schule geht, dann meist in problematischen Zusammenhängen und in Bezug auf Konflikte. Dies zeigt sich sowohl in Studien zu Lehr- und Lernmaterial als auch in Interviewstudien mit Lehrkräften und Schüler*innen. Es lässt sich zeigen, dass dabei Stereotype und Narrative produziert und reproduziert werden, die die Vorstellung eines homogenen Islams vermitteln. Gewalt, Terror, Rückständigkeit und Patriarchat werden hier mit dem Islam assoziiert.
Gesellschaftliche Kontroversen verstärken dieses Zerrbild vom Islam. Beispiele hierfür wären die Kopftuchdebatte, Diskussionen über „Ehrenmorde“, Zwangshochzeiten oder um religiös begründete Gewalt. Der Diskurs über diese Phänomene ist letztlich selbst Teil des Problems, weil er Stereotype und pauschalisierende Islambilder befördert. Das war ein Ausgangsmotiv für das Forschungsprojekt „Der Islam in der Kontroverse“.
Das Projekt hat zwei Erkenntnisziele. Zunächst: Wie laufen solche kontroversen Diskussionen ab? Und damit zusammenhängend: Wie wird der Islam und wie werden Muslim*innen thematisiert? Welche Gesprächsdynamiken, welche Machtverhältnisse, welche Diskursmuster lassen sich rekonstruieren? Und zweitens: Welche Ansätze bieten sich in Unterricht und Schule, um einen reflexiven und damit diskriminierungssensiblen Umgang mit diesen Kontroversen zu entwickeln?
Mustafa Ayanoğlu:
In der Projektbeschreibung heißt es, es gehe auch um sogenannte Dilemmadiskussionen mit Schüler*innen, Pädagog*innen und Eltern und um Handlungsmöglichkeiten in solchen Situationen. Was genau ist mit Dilemmasituationen gemeint?
Miguel Zulaica y Mugica:
Die Beispiele für Kontroversen sind vielfältig und in der Fachliteratur gut dokumentiert. In einem Projekt zu kontraintentionalen Effekten der Radikalisierungsprävention, das wir 2022 abgeschlossen haben, konnten wir Kontroversen herausarbeiten, die sich in der Praxis beispielsweise zu den Themen Gebetsraum, Karikaturen, Kopftuch oder Homosexualität ergeben. Dabei ist der Begriff „Kontroversen“ eigentlich irreführend, weil er einen harmlosen Unterton hat. Es geht aber nicht um ein reines Diskursphänomen, das auf der Ebene der Kommunikation verbleibt, denn diese Debatten haben reale lebensweltliche Auswirkungen beispielsweise auf Schüler*innen mit Diskriminierungserfahrungen. Zudem belasten sie die pädagogische Beziehung zwischen den Lehrkräften und den Schüler*innen und können auch Anlass für politische Agitationen sein. So können islamistische Gruppen an diesen Kontroversen und damit verbundenen Diskriminierungserfahrungen ansetzen und versuchen, Radikalisierungsprozesse zu initiieren.
Wir haben es in gewisser Weise mit einem Paradox zu tun: Die Kontroversen sind Reaktionen auf konkrete Ereignisse oder Handlungen, gehen aber über diese hinaus und beziehen sich allgemein auf „den“ Islam oder Islamismus. Sie werden zu Grundsatzdiskussionen und erschweren eine vertrauensvolle Zusammenarbeit im schulischen Kontext. Allerdings lassen sich diese Kontroversen auch nicht einfach ignorieren, wir müssen mit ihnen umgehen. Und dabei zeigt sich das Dilemma: Es verbinden sich verschiedene reale Konflikte mit Wertfragen, über die aber in einer vertrackten Form kommuniziert wird. Es bedarf der Multiperspektivität, keiner Pauschalisierung und einer Pluralisierung, wie es auch die Politikwissenschaftlerin Saba-Nur Cheema und der Religionswissenschaftler Heiner Bielefeld in Bezug auf die Legitimität von Religionskritik formuliert haben. Manchmal wäre aber auch einfach ein schlichtes Gespräch zwischen den Beteiligten ausreichend. Deshalb wäre es auch wünschenswert, wenn sich die Akteur*innen gegenseitig als Ansprechpartner wahrnehmen, um über konkrete problematische Situationen überhaupt sprechen zu können.
An dieser Stelle setzen wir mit den Dilemmadiskussionen an, um die verschiedenen Akteur*innen miteinander ins Gespräch zu bekommen. Es geht darum, beispielsweise im Zusammenhang mit der Diskussion um Schweigeminuten verschiedene Perspektiven einzubringen. Wir gehen davon aus, dass in dieser Diskussion ein Dilemma sichtbar wird, das von allen Beteiligten Multiperspektivität und Reflexionsbereitschaft erfordert. Wir glauben, dass für den Umgang mit diesen Kontroversen eine Einsicht in deren Komplexität und damit letztlich Ambiguitätstoleranz erforderlich ist, um konkrete Lösungen vor Ort jenseits eines Kulturkampfes zu finden.
Mustafa Ayanoğlu:
Die Beispiele, die Sie genannt haben, kennen wir auch aus unserer Arbeit. In unseren Fortbildungen entwickeln wir mit den Teilnehmenden pädagogische Handlungsoptionen, wobei es oft um ältere Schüler*innen geht. Fokussieren Sie sich auf eine bestimmte Schulart oder auf eine bestimmte Jahrgangsstufe?
Miguel Zulaica y Mugica:
Wir beschränken uns nicht auf eine bestimmte Schulart. Wir schauen auf den Sozialindex an Schulen, denn dieser korreliert empirisch mit dem Anteil der Schüler*innen, die als muslimisch gelesen werden können. Wichtig für uns ist auch, ob Religionsunterricht an der jeweiligen Schule institutionalisiert ist und wie das Fremdsprachenangebot gestaltet ist. Das sind Kriterien, die Aussagen darüber ermöglichen, inwiefern die Diskussionen beispielsweise mit dem Anteil von muslimisch gelesenen Schüler*innen zusammenhängen. In unserem vorherigen Projekt haben wir gesehen, dass dieser Zusammenhang nicht immer gegeben ist. Es gibt Schulen mit vielen als muslimisch gelesenen Schüler*innen, an denen es solche Konflikte nicht gibt. Trotzdem ist es uns wichtig, solchen möglichen Zusammenhängen nachzugehen. Ein anderer Aspekt bezieht sich auf den Religionsunterricht. Wir wollen wissen, welche Expertise an diesen Schulen vorhanden ist, um auf die Artikulation von religiösen Bedürfnissen auch zielgruppengerecht zu reagieren. Ähnliches gilt für das Fremdsprachenangebot.
Was das Alter der Schüler*innen betrifft, konzentrieren wir uns auf Schüler*innen ab 14 Jahren, weil diese bereits über ein Erfahrungswissen verfügen, das für die Diskussion relevant ist. Und kurz zur Zielgruppe der Eltern: Die Forschung zeigt, dass Eltern eher als Problem markiert werden: Die Schüler*innen müssten vor vermeintlich schlechten Einflüssen geschützt werden, daher wäre die Elternarbeit so wichtig, damit die Integration gelinge. Wir wollen vermeiden, diese Defizitkonstruktion der Eltern zu reproduzieren und sie statt dessen als gleichberechtigte Akteur*innen im schulischen Raum beteiligen. Deswegen wenden wir uns mit unserem Forschungsprojekt auch an Eltern.
Mustafa Ayanoğlu:
Das ist ein wichtiger Punkt: Den defizitorientierten Blick auf Eltern zu entkräften und ihr Grundrecht auf Kindererziehung herauszustellen. Aber nochmal zu der „vertrackten Kommunikation“ über den Islam im Schulkontext, von der Sie eben sprachen. Das gilt ja gerade auch für jene Situationen, in denen muslimische Schüler*innen konkrete Wünsche oder Bedarfe äußern. Die Verbalisierung solcher Bedarfe lässt sich ja auch als Zeichen eines Partizipationswillens an der Gesellschaft deuten, warum werden Ihrer Meinung nach von muslimischen Schüler*innen geäußerte Bedarfe dennoch als Problem wahrgenommen?
Miguel Zulaica y Mugica:
Ich gebe Ihnen Recht, Konflikte werden überhaupt erst zu Kontroversen, weil sie paradoxerweise für eine gelungene Integration stehen. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani spricht von einem „Integrationsparadox“: Konflikte sind danach Folge eines wachsenden Interesses von Menschen, die vorher nicht diese Möglichkeiten hatten, an der Gesellschaft zu partizipieren (dazu auch unser Couch Talk mit El-Mafaalani auf YouTube, die Red.). Die muslimischen Schüler*innen wollen den sozialen Raum heute mitbestimmen und mitgestalten, dadurch werden auch Konflikte sichtbar, die vorher unausgesprochen blieben oder durch eine selbstverständliche Anpassung entschärft wurden. Diese Konflikte werden nun artikuliert und von Schüler*innen auch mit demokratischen Partizipationsformen angegangen.
Mustafa Ayanoğlu:
Aber wieso kommt es überhaupt zu einem Konflikt?
Miguel Zulaica y Mugica:
Die Bedürfnisartikulation seitens muslimischer Schüler*innen führt aus mehreren Gründen zu Kontroversen bzw. Konflikten. Erstens, weil die Bedürfnisartikulation als Störung der organisationalen Abläufe in der Schule wahrgenommen werden. Und zweitens, weil es zu wenig kommunikative und organisationale Ressourcen dafür gibt, um angemessene Antworten auf religiöse Bedarfe zu geben. Es mangelt häufig nicht nur an einem Verständnis für die Pluralität von religiösen Denk- und Handlungsformen, sondern auch an einer Bereitschaft, sich auf demokratische Beteiligungsformate einzulassen.
Ein Beispiel dafür ist die Deutung von Grundrechten in diesen Kontroversen. Wenn muslimische Schüler*innen in diesen Diskussionen auf ihre Grundrechte verweisen, dann wird das oft als strategisches Handeln abgetan, um sich gegen Kritik zu immunisieren. Statt die Diskussion aber auf dieser Ebene der demokratischen Grundrechte weiterzuführen und sich wechselseitig an die Grundrechte zu binden, wird die Beteiligung von muslimischen Schüler*innen und damit deren Grundrechte in Frage gestellt.
Mustafa Ayanoğlu:
Welche Möglichkeiten sehen Sie denn, die Bedarfe von Jugendlichen – gerade auch von muslimischen Jugendlichen – im Schulkontext stärker zu berücksichtigen?
Miguel Zulaica y Mugica:
Den Schulen fehlt es oftmals an geeigneten Kommunikationsstrukturen, um die Artikulation von religiösen Bedürfnissen in einer Form zu bearbeiten, die eine reale Beteiligung ermöglicht. Dabei spielt auch eine sicherheitspolitische Perspektive auf diese Kontroversen eine Rolle, die unter dem Begriff der „Radikalisierungsprävention“ in die pädagogische Arbeit hineingetragen wurde. Das zeigt sich beispielsweise, wenn Schüler*innen an die Sicherheitsbehörden gemeldet werden, weil Lehrkräfte eine Radikalisierung befürchten. Hierfür reicht in manchen Fällen schon, dass eine Schülerin nach den Ferien mit einem Hidschab in die Schule kommt.
Eine Chance sehe ich aber darin, dass diese Defizite mittlerweile auch von Lehrkräften offen angesprochen werden. Es gibt ein zunehmendes Bewusstsein dafür, dass es oft an einem Verständnis für oder Wissen über den Islam mangelt. Uns begegnet zudem immer wieder der Wunsch von Lehrkräften, mehr über ihre muslimischen Schüler*innen zu erfahren und sie besser zu verstehen. In einigen Interviews, die wir geführt haben, wird diese Erfahrung des Nicht-Verstehens von Lehrkräften selbst als leidvoll beschrieben. Dies wäre aus meiner Perspektive ein guter Ansatzpunkt, um hier weiterzuarbeiten.
Zugleich sind damit aber auch Fallstricke verbunden: Wenn die Vermittlung von islamwissenschaftlichem Wissen zum Beispiel mit sicherheitspolitischen Erwägungen verbunden wird, würde dies die problematischen Narrative der Integrationsunfähigkeit und der potenziellen Gefahr des Islams reproduzieren. Und auch der Topos des Nichtverstehens birgt ein Problem, denn er impliziert eine Fremdheit von Muslim*innen, die das Verstehen erschwere. Damit werden Muslim*innen letztlich „verandert“, also zu anderen gemacht. Auch dieser Effekt muss in Fortbildungen zu diesen Themen unbedingt vermieden werden.
Es gibt aber auch auf institutioneller Ebene eine Herausforderung, wenn es um die Beteiligung und die Förderung des Engagements muslimischer Schüler*innen geht. Dies betrifft die Schulfinanzierung und die Schulkonkurrenz im kommunalen Raum. Die Finanzierung der Schulen wird an der Schüler*innenzahl gemessen. Deswegen stehen die Schulen in einem Konkurrenzverhältnis um Anmeldequoten. Schulen, die einen hohen Anteil an muslimisch lesbaren Schüler*innen haben, stehen dabei unter einem hohen Aufmerksamkeitsdruck und wollen nicht als „Islamistenschmiede“ wahrgenommen werden. Diese Schulen sind zurückhaltend beim Ausbau von Fremdsprachenangeboten, zögerlich bei der Einstellung von Lehrer*innen mit Kopftuch, bieten keine für Muslim*innen attraktiven Arbeitsgruppen an, etc. Die Autonomie der Schulen erweist sich hier als kontraproduktiv, wenn es um die Bearbeitung von Rassismus und Muslimfeindlichkeit geht.
Mustafa Ayanoğlu:
In unserer Arbeit machen wir oft auch die Erfahrung, dass herausfordernde Situationen im Klassenzimmer auch durch sozioökonomische Missstände in der Familie geprägt sind, und weniger durch „Kultur“ oder „Religion“. Wichtig wäre daher, die „kulturelle Brille“ abzunehmen – und trotzdem kann ich nachvollziehen, wenn Lehrkräfte aufgrund dieser ewig währenden Diskurse über den Islam verunsichert sind.
Miguel Zulaica y Mugica:
Apropos sozioökonomische Missstände: Oft spiegeln sich ja auch in der Schule selbst soziale Unterschiede. Lehrpersonen kommen häufig aus einem bürgerlichen Milieu und begegnen den Problemstrukturen, die vor Ort zu beobachten sind und in denen die Schüler*innen leben, bisweilen mit Unverständnis. Und bei diesen Problemen geht es meistens nicht um Fragen kultureller Art, sondern um materielle Probleme.
Mustafa Ayanoğlu:
Ich möchte nochmal darauf zurückkommen, wie die Bedarfe, die von muslimischen Schüler*innen vorgetragen werden, wahrgenommen werden. Unterscheiden sich hier die Wahrnehmungen von Schüler*innen, Pädagog*innen und Eltern?
Miguel Zulaica y Mugica:
Die Wahrnehmung solcher Interessen oder Wünsche hängt natürlich auch von der jeweiligen Rolle und Funktion ab, aus der heraus ich diese betrachte. Lehrkräfte müssen das Gelingen des Unterrichts gewährleisten und sind dabei unmittelbaren Handlungszwängen und Entscheidungsherausforderungen unterworfen. In unserer Studie wollen wir diese unterschiedlichen Wahrnehmungen durch separate Gruppendiskussionen von Eltern, Pädagog*innen und Schüler*innen herausarbeiten. Dabei ist aber auch klar, dass auch diese Gruppen selbst heterogen zusammengesetzt sind und unterschiedliche Positionierungen wiederspiegeln. Muslimische Lehrkräfte erfahren beispielsweise auch selbst Diskriminierung oder werden qua ihrer muslimischen Identifizierbarkeit als Expert*innen in Sachen Islam wahrgenommen. Und Schüler*innen können den berechtigten Wunsch äußern, dass die Schule als nicht-religiöser Raum erhalten bleibt, weil sie zum Beispiel keinem normativen Druck ausgesetzt sein möchten, sich als Muslim*in bewähren zu müssen. Insofern müssen alle schulischen Akteur*innen als Teil einer demokratischen Schulkultur verstanden werden, in der die verschiedenen und sich auch widersprechenden Bedarfe verhandelt werden können – immer mit Blick auf den Schulauftrag, den Schüler*innen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen.
Letztlich braucht es ein Problembewusstsein und einen Perspektivwechsel, damit die Akteur*innen eine Idee bekommen, wie man Probleme anders bearbeiten kann. Und ein Bewusstsein dafür, dass die Schule auch ein symbolischer Raum ist, an dem Identitäten verhandelt werden und dabei auch Konflikte und Kontroversen ihre Berechtigung haben, in denen es um die Artikulation von Bedürfnissen und den Willen zur Mitgestaltung geht.