Scharia und Grundrechte – Reicht es, wenn sich alle Welt von der AfD distanziert?
27. April 2016 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung, Religion und Religiosität

Die AfD hat (mal wieder) erklärt, dass der Islam für sie eine politische Ideologie darstelle, und unter anderem gefordert, dass keine neuen Moscheen, Minarette und andere Symbole des Islam in Deutschland zugelassen werden. Das ist so weltfremd, dass man eigentlich nicht darüber reden müsste. Dennoch redet alle Welt darüber. Politik und Medien überbieten sich gegenseitig darin, sich von der AfD zu distanzieren. Doch reicht das? Ein Kommentar von ufuq-Mitarbeiter Jochen Müller

Solche Bekenntnisse sind sicher richtig und wichtig. Doch bleiben sie an der Oberfläche. So lehnt zwar laut einer Politbarometer-Umfrage eine Mehrheit der Bevölkerung offen rassistische Äußerungen ab. Trotzdem kann sich die AfD darauf verlassen, dass ein großer Teil der deutschen Nichtmuslim_innen Zweifel an der Vereinbarkeit von Islam und Demokratie hegen. Das zeigen nicht nur Umfragen, sondern auch empirische Studien zum Islambild in Deutschland. Und würde man nach der Vereinbarkeit von Scharia und Grundrechten fragen, fiele das Ergebnis noch deutlicher aus. Die Parolen der AfD geben also eine Stimmung wider, sie spitzen zu, was viele Menschen denken. Muslim_innen bekommen diese Stimmung in Form von Diskriminierungen und misstrauischen Nachfragen regelmäßig zu spüren – zum Beispiel wenn sie sich erklären sollen, was ihnen denn nun mehr bedeute, die Scharia oder das Grundgesetz.

Die meisten Muslim_innen in Deutschland würden sich diese Frage selbst nicht stellen. Tatsächlich gibt es unter ihnen ganz unterschiedliche Vorstellungen darüber, was denn die Scharia eigentlich ist, von der Theolog_innen erklären, dass es sich um einen Kanon von Werten und Normen handele, der den Menschen einen Weg zu Gott, sprich: zu einem guten Leben, eröffnen solle. Wie das im Einzelnen zu verstehen ist, darüber gibt es Debatten unter Muslim_innen solange es den Islam gibt.

Was ist „die Scharia“?

Zu Verwirrungen und falschen Annahmen unter Nichtmuslim_innen kommt es nicht zuletzt, weil Medien und Politiker_innen allzu oft vereinfachen: Da wird etwa über eine radikal-islamistische Gruppe berichtet, die für die Einführung „der Scharia“ in ihrem Gebiet kämpfe und Strafen wie Steinigungen bei Ehebruch und Amputationen für Diebstahl fordere. Nicht erklärt wird, dass es sich dabei um eine fundamentalistische und wortwörtliche Auslegung der Scharia durch diese Gruppe handelt – und gerade nicht um „die Scharia“.

Ein anderes Beispiel: Wenn Kanzlerin Merkel nach den Anschlägen in Paris im Januar 2015 zunächst erklärte, der Islam sei ein Teil von Deutschland, war das ein wichtiges Signal. Als sie kurz darauf hinzufügte, dass „der Islam“ (bzw. dessen Geistlichkeit) aber noch sein Verhältnis zur Gewalt klären müsse und vor der Scharia als „Paralleljustiz“ warnte, dann war das eine Bestätigung für alle, die Zweifel an der Vereinbarkeit von Islam und Demokratie hegen. Und es war eine Ohrfeige für alle Muslim_innen in Deutschland, von denen ca. 99% ihr Verhältnis zur Gewalt schon längst geklärt haben – und zwar ungefähr so wie 99% aller anderen Deutschen auch.

Lehrer_innen sind ja auch nur Menschen

Wenn also viele Journalist_innen wie Politiker_innen selbst meinen, bei der Scharia handele es sich um eine Anleitung zum Steinigen und Köpfen, oder dass „der Islam“ ein problematisches Verhältnis zur Gewalt habe, dann ist es nur logisch, wenn zum Beispiel Lehrer_innen – sie sind ja auch nur Menschen – die gleiche Skepsis hegen und an ihre Schüler_innen weitergeben. (Womit sie zudem den muslimischen Jugendlichen suggerieren, dass sie sich erst verändern müssten, bevor sie „hier“ dazu gehören können.) Vor diesem Hintergrund reicht es dann eben nicht mehr aus, sich nur von rassistischen Zuspitzungen der AfD zu distanzieren. Vielmehr ginge es insgesamt darum, eigene Überzeugungen, eigene Urteile und eigene Bilder über „den Islam“ und „die Muslim_innen“ zu überprüfen. Sonst wirkt die Distanzierung vom Populismus der AfD wie ein wohlfeiles Lippenbekenntnis – und nutzt nur denjenigen, die mit Angst, Unwissen und Stereotypen Politik machen.

Anmerkungen

1. Natürlich sind nicht nur Politik, Medien und Schulen, sondern auch Muslim_innen und ihre Einrichtungen in Deutschland aufgefordert, mehr zur Klärung beizutragen. Sowohl in Richtung der nichtmuslimischen Öffentlichkeit aber nicht zuletzt auch in Richtung muslimischer Jugendlicher wäre eine intensive Auseinandersetzung etwa mit der Rolle und dem Verständnis von Scharia unbedingt wünschenswert. So glauben auch sehr viele muslimische Jugendliche, dass es sich bei der Scharia um so etwas wie ein Strafgesetzbuch handele. Kein Wunder, wenn sie dann fundamentalistischen (wie z.B. salafistischen) Ansprachen wenig entgegenzusetzen haben.

2. Zur Scharia als „Weg zu Gott“ finden Sie hier kurze Informationen in unserer Broschüre: Protest, Provokation oder Propaganda? und bei Wie wollen wir leben? Sehr lesenswert: ufuq-Dossier Islam und Demokratie.

3. Material online: Museltoonz zur Scharia

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