Die Ausreise von Jugendlichen nach Syrien und in den Irak ist auch an vielen Schulen ein Thema. Salafistische Orientierungen und Verhaltensweisen werden allerdings nicht erst dann zum Problem, wenn Jugendliche zu Gewalt aufrufen. Auch sozialer Druck und rigide Welt- und Feindbilder beeinflussen das Klassenklima und fordern Lehrkräfte heraus. Ein wichtiger Ansatz der Präventionsarbeit besteht darin, die muslimische Religiosität vieler Schülerinnen und Schüler anzuerkennen und sie in ihrer deutsch-muslimischen Identität gegen die Opferideologie und Abwertungen der salafistischen Propaganda zu stärken, schreibt Götz Nordbruch in diesem Artikel.
„Ich bin Muslim“ – mit diesen Worten reagierten zahllose junge Muslime auf Facebook und anderen sozialen Netzwerken auf die Debatten nach den Anschlägen von Paris. Von ähnlichen Reaktionen berichteten auch Lehrer, die das Thema im Unterricht aufgriffen. Angesichts der Gewalt und der Symbolik der Angriffe auf die Zeitschrift Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt erschienen diese Aussagen manchem Beobachter als Provokation: War dies nicht gleichbedeutend mit der Weigerung, sich von den Anschlägen zu distanzieren? Die Reaktionen lassen sich auch anders deuten.
Junge Muslime beklagen immer wieder, wie selten ihre Perspektiven, Interessen und Erfahrungen in der Öffentlichkeit Gehör finden. Diskussionen über den Nahostkonflikt im Unterricht? Fehlanzeige. Berichte über Übergriffe gegen Muslime und islamische Einrichtungen in den Medien? Kaum mehr als eine Randnotiz. Angesichts von dutzenden Toten, die täglich in den verschiedenen Konflikten im Nahen Osten zu beklagen sind, erschien ihnen dieser Aufschrei unverhältnismäßig und bestätigte damit den Eindruck, dass mit zweierlei Maß gemessen werde.
Ansprachen von Jugendlichen
Diese Wahrnehmungen müssen nicht stimmen, aber sie erschweren eine Identifikation mit der Gesellschaft und bestärken Vorbehalte gegenüber der nichtmuslimischen Umwelt – und bilden einen Anknüpfungspunkt für salafistische Strömungen, um gezielt unter jungen Muslimen zu werben. „Fühlst Du Dich fremd?“ fragt ein salafistischer Prediger in einem Video, das auf Youtube verbreitet wird, und greift damit gezielt Erfahrungen mit Anfeindungen und Benachteiligungen auf. Als Ausweg erscheinen hier die konsequente Abwendung von der Gesellschaft und der Rückzug auf die Gemeinschaft der Muslime.
Entfremdung, Ohnmacht und Perspektivlosigkeit – diese Themen spielen in salafistischer Propaganda eine zentrale Rolle. Professionell gemachte Videos mit Titeln wie „Der neue Jude: der ewige Muslim“, die von Initiativen wie „Generation Islam“ in sozialen Netzwerken verbreitet werden, erreichen nicht selten innerhalb von Tagen zehntausende Zuschauer. Angesichts der aktuellen Diskussionen um die Rolle des Islam in der Gesellschaft und des breiten Zuspruchs für islamfeindliche Positionen vermitteln diese Beiträge Jugendlichen das Gefühl, mit ihren Erfahrungen und Sorgen anerkannt und ernst genommen zu werden. Dabei geht es den Machern nur vordergründig um die Bekämpfung von Diskriminierungen und Rassismus, im Mittelpunkt steht die Verbreitung einer Opferideologie, in der der Konflikt zwischen Muslimen und Nichtmuslimen unausweichlich scheint. Der „Westen“ führe einen Krieg gegen den Islam, weshalb ein Zusammenleben als wahrhaft Gläubiger mit Nichtmuslimen unmöglich sei.
Salafistische Propaganda beschränkt sich allerdings nicht auf eine ideologische Ansprache. Ebenso wichtig sind die Versprechen von Gemeinschaft, Solidarität und emotionalen Bindungen, die von Initiativen wie „Die wahre Religion“ gemacht werden. So werben salafistische Prediger mit Wochenendseminaren, auf denen neben religiösen Unterweisungen auch gemeinsames Fußballspielen, Grillen und andere Freizeitbeschäftigungen geboten werden. Für die „Brüder“ und „Schwestern“, die an diesen Veranstaltungen teilnehmen, ist Herkunft, Alter und soziale Lage unerheblich, wichtig ist das gemeinsame Bekenntnis zum Islam. Das beinhaltet auch Unterstützung und Hilfe in persönlichen Notlagen und Hilfestellungen im Alltag. Mit Spendenaufrufen für „Geschwister“, die in der Community verbreitet werden, appellieren sie an das religiöse Gebot des Almosengebens und fördern zugleich die Attraktivität der Gruppe.
Beispielhaft für dieses Vorgehen stehen die Aktivitäten des salafistischen Predigers Sven Lau (alias Abu Adam) und der sogenannten „Scharia-Polizei“, die Ende 2014 auch in einer breiteren Öffentlichkeit Beachtung fanden. Bei ihren Rundgängen in der Wuppertaler Innenstadt wandten sich die jungen Männer gezielt an junge muslimische Besucher von Wasserpfeifencafés und Spielcasinos und verbanden ihren Appell, sich von „sündhaftem Verhalten“ fernzuhalten mit dem Hinweis auf die eigene Gemeinschaft, in der ein islamisch korrektes und zugleich „sinnvolles“ Leben möglich sei. Für Jugendliche, denen alternative Freizeitangebote fehlen, bietet sich damit die Möglichkeit eines Ausstiegs aus verfestigten, oft als unbefriedigend empfundenen Strukturen und ein Neuanfang in einer vermeintlich sittsamen und wahrhaft frommen Umgebung.
Mit diesen Ansprachen war die salafistische Szene in den vergangenen Jahren gerade unter jungen Muslimen erfolgreich. Bis zu 100.000 Fans finden sich auf Facebook-Seiten von Initiativen wie „Die wahre Religion“ oder „PierreVogel.de“ – oder, wie es ein Lehrer einer Berufsschule in Berlin-Neukölln ausdrückte: „Von meinen Schüler kennen alle Pierre Vogel.“ Das bedeutet nicht, dass alle, die den Videos dieses Predigers aus Köln folgen, dessen Vorstellungen teilen. Die meisten sehen in ihm einen Freak, der lustig und kurzweilig anzuschauen, aber inhaltlich kaum ernst zunehmen ist. Gleichwohl steht das große Interesse, das diesen Predigern zuteil wird, auch für die Attraktivität einzelner Angebote, die den Einstieg in die Szene bei manchen Jugendlichen befördern können.
Die salafistische Szene in Deutschland
Angesichts der Bilder aus in Syrien und Irak dominieren gewaltbereite Salafisten verständlicherweise die Berichterstattung über diese Strömung. In der pädagogischen Arbeit ist daher umso wichtiger, unterschiedliche Ausdrucksformen salafistischer Orientierungen und Verhaltensmuster wahrzunehmen, um auf dieser Grundlage zu entscheiden, welche Interventionsmöglichkeiten denkbar und notwendig sind.
Die Sicherheitsbehörden schätzen die Zahl der Salafisten in Deutschland auf etwa 7.000 Personen. Unter den etwa 4 Millionen Muslimen in Deutschland sind sie damit eine kleine Minderheit – und dennoch spielt diese Szene in innermuslimischen Diskussionen eine sichtbare Rolle. Die Anfänge der salafistischen Szene gehen bis in die 90er Jahre zurück, aber erst mit den Aktivitäten der Prediger Pierre Vogel, einem ehemaligen Boxer, der zum Islam konvertierte, und dem palästinensisch-stämmigen Ibrahim Abou Nagie in 2004 erhielt diese Strömung in den vergangenen Jahren größeren Zulauf. Mit Islamseminaren, Vorträgen und Internetseiten wandten sich diese Prediger in deutscher Sprache vor allem an Jugendliche und junge Erwachsene, die von den etablierten Moscheen oft kaum erreicht werden. Mittlerweile handelt es sich um ein bundesweites Phänomen mit mehreren Dutzend mehr oder weniger prominenten Predigern, das sich nicht mehr nur auf einzelne Städte eingrenzen lässt. Als oft charismatische Persönlichkeiten, die auch aktuelle und vor allem lebensweltbezogene Themen („Darf ich als Muslim an einer Weihnachtsfeier teilnehmen?“, „Ist es erlaubt, Musik zu hören?“) aufgreifen, erscheinen diese Prediger als glaubwürdige Alternativen zu den Imamen der großen islamischen Verbände, die vielfach kaum für die Arbeit mit Jugendlichen ausgebildet oder mit deren Lebenswirklichkeiten in Schule, Freizeit und Beruf sind.
Für die Sichtbarkeit des Salafismus spielen deren Online-Angebote eine zentrale Rolle. Gerade junge Muslime nutzen für ihre religiösen Fragen immer häufiger das Internet und stoßen vor allem bei alltäglichen Fragen schnell auf Angebote aus dem salafistischen Spektrum. Trotz verstärkter Bemühungen von islamischen Dachverbänden wie der DITIB, der IGMG oder des Zentralrats der Muslime, mit eigenen Angeboten alternative Sichtweisen anzubieten, prägen salafistische Inhalte bis heute einen Großteil des deutschsprachigen Webangebotes zu Glaubensfragen des Islam.
Dabei ist auch das salafistische Spektrum keineswegs einheitlich. Gemeinsam ist den Anhängern dieser Strömung der Anspruch, die islamischen Quellen – den Koran und die Sunna, die Erzählungen über das Leben des Propheten – textgetreu zu lesen und unabhängig vom zeitlichen Kontext zu folgen. Für sie gilt das Wort, im Unterschied zu den meisten islamischen Theologen, die in der 1400-jährigen Geschichte der islamischen Theologie rege über Sinngehalt, Metaphern, Offenbarungsanlässe und Grundziele des Islam gestritten haben. Damit einher geht für Salafisten die Verklärung der Frühzeit der muslimischen Gemeinde als authentischer Ausdruck eines „wahren Islam“, der durch folgende Generationen verfälscht worden sei. Die Orientierung an den salaf, den Altvorderen der islamischen Geschichte, ist für sie gleichbedeutend mit der Weigerung, die islamischen Quellen geschichtlich zu kontextualisieren und auf übergeordnete Werte und Ziele der Offenbarung zu befragen.
Ein solches Denken ist in verschiedener Hinsicht problematisch. Es steht für die Ablehnung von gesellschaftlichen Unterschieden und geht mit einer Abwertung von Andersdenkenden („Ungläubige“, arab. Kuffar) und alternativen Lebensentwürfen einher: „Wer nicht lebt wie wir, ist unmoralisch („haram“), handelt falsch und lebt in Sünde.“ Pluralismus und Differenz gelten aus dieser Sicht nicht als Normalität, sondern als Abweichung von einer göttlichen Ordnung. Die Demokratie- und Freiheitsfeindlichkeit dieses Weltbildes spiegelt sich in der Ablehnung eines selbstverantwortlichen und selbstbestimmten Denkens. Die Reflexion über Werte und das Hinterfragen von Normen werden hier ebenso abgelehnt wie das Abwägen unterschiedlicher Interessen und Ansichten.
Bei allen Gemeinsamkeiten unterscheiden sich Salafisten in den Vorstellungen darüber, was das Wissen über den vermeintlich wahren Glauben bedeute. Nicht alle verbinden mit dem Selbstverständnis als authentische Muslime einen missionarischen Auftrag, und nur eine Minderheit setzt dabei auch auf Gewalt. So lässt sich eine kleine Gruppe der Salafisten als quietistisch-puristisch beschreiben, die dem Vorbild des Propheten im Privaten verfolgt, ohne damit Ansprüche an andere zu verbinden. Besonders sichtbar – und zahlenmäßig dominant – ist jener Teil der Szene, der den Anspruch der Wahrheit auch gegenüber anderen Muslimen (und Nichtmuslimen) geltend macht und diese zu einer Rückkehr zur vermeintlich unverfälschten Lehre auffordert. Die Dawa, die „Einladung zum Islam“, ist für sie Verpflichtung und zielt auf all jene, die von den eigenen Überzeugungen und Lebensentwürfen abweichen. Dazu gehört der Aufbau von sozialen Druck, der im persönlichen Umfeld und darüberhinaus gegenüber Muslimen und Nichtmuslimen ausgeübt wird.
Für eine kleine Gruppe beinhaltet dies auch die Bereitschaft, die eigenen Vorstellungen gewaltsam durchzusetzen. Sie beschränkt sich nicht auf das (offensive) Werben für die eigene Lehre, sondern sieht auch im Einsatz von Gewalt ein legitimes Mittel, um die Botschaft Gottes durchzusetzen. Der Dschihad – verstanden als gewaltsamer Kampf – gegen „Ungläubige“, wie er von Personen dieses Spektrums propagiert wird, wird hier zur Pflicht eines jeden Muslims. Knapp 1000 Personen werden von den Sicherheitsbehörden dem islamistisch-terroristischen Spektrum zugeordnet. Angesichts der Anschläge in Paris und der zuletzt beständig wachsenden Zahl der Ausreisenden nach Syrien und den Irak (Anfang des Jahres wurde deren Zahl auf über 600 Personen aus Deutschland geschätzt) stehen sie für ein Bedrohungspotential, das mit möglichen Anschlägen im In- und Ausland verbunden ist. Daher ist es verständlich, dass diese Personen oft im Mittelpunkt der Berichterstattung über die salafistische Szene stehen – wenngleich sie nur kleinen Teil dieser Strömung ausmachen. In der pädagogischen Arbeit ist es daher umso wichtiger, auch Unterschiede wahrzunehmen, und nicht jeden Fürsprecher für Pierre Vogel mit den Gewaltexzessen in Syrien und Irak in Verbindung zu bringen. Mit religiösen Absolutheitsansprüchen und sozialem Druck einzelner Jugendlicher lässt sich auch im pädagogischen Rahmen umgehen; bei der Androhung von Gewalt ist Pädagogik allein eventuell nicht mehr ausreichend.
Was macht den Salafismus attraktiv?
Die Gründe, die den Salafismus für manche Menschen attraktiv machen, sind so vielfältig wie die Biographien seiner Anhänger. Es sind mitnichten nur gesellschaftliche „Verlierer“, die sich dieser Szene anschließen. Zu ihnen zählen Studenten genauso wie ehemalige Gangsta-Rapper, Jugendliche mit Migrationshintergrund genauso wie Herkunftsdeutsche und Konvertiten. Auch Frauen sind unter den Salafisten vertreten. Dennoch lassen sich einige Gründe benennen, die den Salafismus gerade für Jugendliche und junge Heranwachsende interessant machen können.
Der Salafismus bietet Wissen: Jugendliche interessieren sich für „ihre“ Religion und suchen nach Informationen in einer Sprache, die sie verstehen. In vielen Moscheen der großen islamischen Verbände beschränkt sich der Islamunterricht auch heute noch aufs Auswendiglernen von Texten, die den meisten Jugendlichen unverständlich bleiben. Vele Imame sind mit den Fragen überfordert, die junge Muslime an sie stellen: Ist es erlaubt, James Bond zu gucken? Darf ich in Deutschland zur Wahl gehen? Salafistische Prediger kennen die deutsche Gesellschaft und wissen um die Konflikte, denen Jugendliche begegnen. Sie greifen Themen auf, die vielen Imamen fremd bleiben.
Salafisten behaupten, die Wahrheit zu kennen: In der salafistischen Weltsicht gibt es keine Zwiespälte und keine offenen Fragen. Die Welt lässt sich in richtig und falsch, gut und böse, moralisch und unmoralisch unterteilen. Ein solches Schwarzweißdenken ist den meisten Menschen fremd, dennoch kann es in bestimmten Situationen attraktiv sein. Es bietet klare Orientierung, wo Interessen aufeinanderstoßen und Werte abzuwägen wären. Und es befreit von der Last, zu hinterfragen und eigene Antworten zu entwickeln, wo Menschen sich begegnen und Entscheidungen getroffen werden müssen. So entkommt man auch der Verantwortung, die einem das eigene Handeln auferlegt: Wenn etwas von Gott befohlen ist, bin ich selbst für mein Tun nicht verantwortlich.
Schließlich fordern Salafisten Gehorsam: Das Reiben an Autoritäten und das Aufbegehren gegen Gewissheiten ist typisch für viele Jugendkulturen. Aber die Auseinandersetzung mit etablierten Vorstellungen kann auch anstrengend sein. Der Salafismus nimmt einem die Last, die eigene Identität in der Auseinandersetzung mit den Eltern und der Umwelt zu entwickeln. Der Gehorsam gegenüber Gott – und gegenüber den oft sehr charismatischen Führern der salafistischen Gruppen – tritt hier an die Stelle von Fragen, wie man selbst leben möchte.
Salafisten versprechen Gemeinschaft: Als „Bruder“ oder „Schwester“, wie sich Salafisten untereinander ansprechen, ist man Teil einer eingeschworenen Gemeinschaft. Man teilt den Glauben, aber auch viele andere Dinge, die den Alltag bestimmen. Dabei kann man auch auf die Solidarität der „Geschwister“ hoffen, wenn man selbst einmal in finanzielle oder emotionale Krisen gerät. Die Gemeinschaft bietet ein Netz, das einen auffängt, wo andere Bindungen gerissen sind. Und es ist klar, welche Rolle von einem erwartet wird: Als Mann ist man „großer Bruder“ und für Jüngere väterliche Autorität, als Frau emotionale Stütze und Hüterin über Fragen, die das Wohlergehen der Gemeinschaft betreffen. Dies ist ein Grund, warum der Salafismus auch für manche Frauen attraktiv ist: Rollenkonflikte, in denen sich viele junge Frauen zwischen den Erwartungen der Gesellschaft und des Elternhauses befinden, werden hier gelöst. Als gläubige und gottergebene Mutter und Begleiterin des Mannes entkommt man der schwierigen Entscheidung, für sich selbst einen Weg zwischen Familie und Karriere zu finden. Klare Rollenbilder treten an die Stelle von Selbstzweifeln und mühseligen Diskussionen über Gleichberechtigung und Emanzipation. Hinzu kommt, dass Frauen im salafistischen Weltbild – sofern sie die zugewiesenen Rollen ausfüllen – ausdrücklich Wertschätzung erfahren. Für manche Frauen aus familiären Kontexten, die von willkürlicher männlicher Dominanz geprägt sind, bedeutet eine religiös begründete Rollensicherheit subjektiv eine Verbesserung.
Salafisten behaupten, sie kämpften für Gerechtigkeit: Erfahrungen mit Ungerechtigkeit und das Wissen um Leid und Elend in vielen Teilen der Welt prägen das Erleben vieler Jugendlicher. Das ist ein Grund, weshalb sich Jugendliche politisch engagieren. Salafisten greifen die Empörung über Ungerechtigkeiten auf und instrumentalisieren sie für ihre Zwecke. Dabei geht es ihnen nicht darum, über die Hintergründe von Konflikten wie im Irak, Afghanistan oder Syrien zu informieren. Sie „erklären“ diese Konflikte als Teil eines weltweiten Kampfes zwischen Recht und Unrecht, in dem der Einzelne eine Seite wählen müsse. Salafisten sehen sich dabei als Avantgarde, die für das Gute, d.h. für die Sache der Muslime und den Islam kämpfen. Sie schüren eine Opferideologie, in der der Widerstand zur Pflicht eines jeden Muslim wird – und fördern damit die Bereitschaft zur Gewalt, die in Aufrufen zum Dschihad gipfeln kann. In der Empörung über die Ungerechtigkeiten in der Welt erscheint der Kampf gegen die Ungläubigen manchem Jugendlichen als gerechte Sache.
Salafismus ist daher auch eine Form des Protestes und des Bruchs gesellschaftlicher Normen: Als Streiter für eine islamische Ordnung präsentieren sich Salafisten als Avantgarde und Gegenkultur, die sich dem Materialismus, dem Individualismus und der Unmoral entgegenstellt. Nicht zufällig brechen Anhänger dieser Strömung auch äußerlich – zum Beispiel durch das Tragen traditioneller Kleidung, die floskelhafte Verwendung arabischer Ausdrücke oder das demonstrative und öffentlich sichtbare Festhalten an Ritualen – mit den Gepflogenheiten der Gesellschaft.
Damit bietet der Salafismus auch Erfahrungen von Selbstwirksamkeit, die vielen Jugendlichen sonst nur selten zu Teil werden. Salafistische Symbole und Bekenntnisse provozieren, erregen Aufmerksamkeit und garantieren eine Reaktion von Lehrern, Eltern und eventuell sogar der Medien. Tattoos, Piercing oder Flesh Tunnel – all dies lässt die Umwelt kalt, mit dem Tragen eines langen Barts oder eines Niqabs wird man fast zwangsläufig zum Gesprächsthema unter Mitschülern und Lehrern. Die dschihadistische Propaganda geht über den Wunsch nach Provokation noch hinaus und verspricht einen Ausweg aus dem Gefühl von Ohnmacht: In der kämpfenden Gruppe lässt sich die Welt verändern, „Gerechtigkeit schaffen“ und – so heißt es vor allem in der Propaganda des Islamischen Staates – eine wahrhaft islamische Gesellschaft aufbauen. Nicht zufällig spielt dieser Aspekt in der Propaganda der Dschihad-Kämpfer aus Syrien und Irak eine wichtige Rolle: Bilder einer vermeintlichen Normalität der dortigen Gesellschaft, in der Straßenlaternen repariert, Nahrungsmittel verteilt und das öffentliche Transportsystem in Schuss gebracht werden.
Der Salafismus – in seinen unterschiedlichen Ausdrucksformen – ist daher vor allem auch ein sinnstiftendes Angebot. Als Belohnung für die Abkehr von der Gesellschaft und die Entsagungen im Diesseits erwarten den wahrhaft Gläubigen die Anerkennung der Umma, der Gemeinschaft der Muslime, vor allem aber auch die Versprechungen des Paradieses.
Anerkennung von Religiosität – Prävention von Abgrenzung, Abwertung und Gewalt
Für die pädagogische Arbeit ergeben sich zahlreiche Herausforderungen, mit entsprechenden Einstellungen und Verhaltensweisen umzugehen. Dazu zählt insbesondere die Notwendigkeit, Themen wie Islam und muslimische Religiosität, aber auch Migrationsbiographien und die damit verbundenen Erfahrungen und Perspektiven, als selbstverständlichen Teil von Schulalltag und Unterricht anzuerkennen. Gerade unter jungen Muslimen, die sich ausdrücklich als Teil der Gesellschaft verstehen, lässt sich der Wunsch beobachten, ihre Religion auch nach außen sichtbar zu leben. Anders als viele Muslime der ersten Einwanderungsgeneration, die ihren Aufenthalt in Deutschland als zeitlich begrenzt sahen, verstehen sich immer mehr junge Muslime als aktive und gleichberechtigte Bürger, die sich auch mit ihren religiösen Interessen und Perspektiven in die Gesellschaft einbringen wollen. Eine selbstbewusste und sichtbare Religiosität steht für diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen insofern nicht im Widerspruch zum Selbstverständnis als muslimische Deutsche, sondern ist gerade dessen Folge.
Das spiegelt sich selbstverständlich auch im Schulalltag und in den Erwartungen und Erfahrungen, die Schüler mitbringen. Angesichts der beschriebenen Wahrnehmung, dass Themen mit Bezug zum Islam (und zu Migrationsbiographien) im Unterricht kaum zur Sprache kommen, erscheint eine explizite Berücksichtigung damit verbundener Fragestellungen umso wichtiger: In ihr spiegelt sich eine Anerkennung der gesellschaftlichen Veränderungen, die mit den Migrationsgeschichten der letzten Jahrzehnte verbunden waren. Erst auf dieser Grundlage werden Auseinandersetzungen auch mit religiös begründeten demokratie- und freiheitsfeindlichen Positionen möglich, ohne damit legitime Ausdrucksformen muslimischer Religiosität zu disqualifizieren.
In diesem Zusammenhang spielt u.a. der Islamische Religionsunterricht eine zentrale Rolle, um reflektierte Annäherungen an religiöse Orientierungen und Glaubenspraktiken zu ermöglichen. Ziel des Religionsunterrichts ist es, so der islamische Religionspädagoge Mouhanad Khorchide, der an der Universität Münster für die Ausbildung angehender Islamlehrer zuständig ist, „Schülerinnen und Schüler zu befähigen, ihre eigene Religiosität zu entwickeln und wahrzunehmen, sowie die Bedeutung religiöser Inhalte zu reflektieren, damit sie ihre Religiosität selbst verantworten können.“ Trotz der fortwährenden Kontroversen, die in der fachwissenschaftlichen und politischen Öffentlichkeit über die Ausrichtung und inhaltliche Gestaltung des Islamunterrichts geführt werden, zeigen sich hier die Chancen, die mit einem unter staatlicher Aufsicht angebotenen Islamunterricht verbunden sind. In der Prävention extremistischer Einstellungen sehen Islamlehrer daher eine „wichtige Begleiterscheinung“ dieser Angebote.
In ähnlicher Weise eignen sich auch interreligiöse Ansätze dazu, um in bestimmten Lerngruppen unterschiedliche Zugänge zu Glaubensvorstellungen und Traditionen zu ermöglichen und damit extremistischen Orientierungen entgegenzuwirken. So zielen die im Projekt Maxime Wedding entwickelten Workshops, die von „praktizierenden Juden, Christen und Muslimen“ durchgeführt werden, darauf, Perspektivwechsel zu ermöglichen und „emphatisch das Gemeinsame und alle Menschen Verbindende“ aufzuzeigen.
Gleichwohl lassen sich diese Auseinandersetzungen nicht auf den Religionsunterricht und interreligiöse Kontexte beschränken. In den vergangenen Jahren wurden im Rahmen von diversen Präventionsprojekten unterschiedliche Ansätze erprobt, um entsprechende Diskussionen auch in heterogenen Lerngruppen – d.h. ausdrücklich auch mit Bezug zu nicht-religiösen Perspektiven – zu ermöglichen. Dabei geht es nicht in erster Linie um religiös-begründete Annäherungen an religiöse Fragen. Sie dienen hier vielmehr als Ausgangspunkt, um über allgemeine Wertorientierungen und gesellschaftliche Normen ins Gespräch zu kommen.
In diesem Sinne zielen beispielsweise die Schulworkshops, die von ufuq.de in Zusammenarbeit mit der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg in verschiedenen Städten durchgeführt werden, auf eine explizite Anerkennung religiöser Interessen, an die sich Auseinandersetzungen über Grundwerte, Geschlechterrollen oder Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens (aber auch Themen wie der Nahostkonflikt, Islamfeindlichkeit oder Antisemitismus) anknüpfen lassen. So geht es in diesen von jungen muslimischen Teamern moderierten Workshops beispielsweise nicht darum, immer wieder aufkommende Fragen nach Kleiderregeln („Ist das Kopftuch Pflicht?“) oder Verhaltensregeln („Darf ich mir als Muslimin die Augenbrauen zupfen?“) unter religiösen Blickwinkeln zu betrachten, sondern sie in allgemeine Fragen nach der Bedeutung von Werten, Äußerlichkeiten oder gesellschaftlichen Konventionen zu übersetzen. Religiöse Blickwinkel können dabei eine Rolle spielen, werden aber durch übergreifende Überlegungen zur Rolle von Symbolen, Körperlichkeit und Fragen von Identität eingeordnet. Ziel dieser Auseinandersetzungen, die auch Diskussionen um Begriffe wie „Scharia“ oder „Dschihad“ einschließen, ist dabei auch, unterschiedliche religiöse und nichtreligiöse Lebensentwürfe und deren Begründungsmuster sichtbar zu machen („Alternativen aufzeigen“), die vielen Jugendlichen zwar aus ihrem Alltag bekannt, aber oft nicht als legitime Handlungsoptionen auch für sie selbst wahrgenommen werden.
Diese Ansätze intervenieren im Vorfeld und in Frühphasen von Radikalisierungsprozessen und ermöglichen es, Feindbildern und rigiden Weltbildern entgegenzuwirken, wie sie für die salafistische Strömung charakteristisch sind. Mit der Reflexion über religiöse Themen fördern sie ein religiöses Selbstverständnis, das es Jugendlichen – und den Lerngruppen als Ganze – leichter macht, sich dem sozialen Druck und Missionierungsversuchen salafistischer Akteure zu widersetzen.
Gerade das Ziel des Empowerments und des Aufzeigens alternativer Sinn- und Gemeinschaftsangebote, das mit der ausdrücklichen Anerkennung von jungen Muslimen als gleichberechtigt verbunden ist, lässt sich allerdings mit der Förderung von Urteils- und Handlungskompetenzen allein nicht vollständig verwirklichen. Hier spielen die Haltungen der Lehrkräfte, aber vor allem auch reale Mitgestaltungsmöglichkeiten in Schule und sozialer Umgebung eine zentrale Rolle, um Entfremdungserfahrungen entgegenzuwirken und Teilhabe zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang sind von einer aktiven Einbindung in Leitbilddiskussionen der Schule über die Durchführung von Projekten beispielsweise im Bereich der humanitären Hilfe für die Bevölkerung in Syrien verschiedene Ansätze denkbar, die dem Gefühl von Ausgrenzung und Ohnmacht vorbeugen.
Dabei geht es keineswegs darum, das Rad neu zu erfinden. Sowohl aus der Demokratieerziehung als auch aus der Gewaltprävention lassen sich hier zahlreiche Erfahrungen aufgreifen, die sich auf die Prävention salafistischer Einstellungen und Verhaltensweisen übertragen lassen.
(Der Artikel erschien in einer leicht geänderten Fassung in Lernchancen, 104/2015)