Salafismus als Herausforderung für die Offene Kinder- und Jugendarbeit
19. Dezember 2017 | Radikalisierung und Prävention

Solange Jugendliche Angebote der Offenen Kinder- und Jugendarbeit wahrnehmen, sind sie erreichbar – und es besteht die Chance, sie gegenüber den einfachen Welterklärungsmodellen salafistischer Gruppen zu stärken. Dabei steht die Jugendarbeit häufig vor einem Dilemma: Wenn sie Jugendliche ausschließt, die offen der salafistischen Szene angehören, könnte das eine Radikalisierung verstärken. Gleichzeitig muss die Jugendarbeit kritische Distanz wahren und darf nicht zur Bühne für extremistische Ideologien werden. Der Beitrag von David Yuzva Clement erschien ursprünglich im Infodienst Radikalisierungsprävention der bpb.

Salafismus als Thema für die Offene Kinder- und Jugendarbeit: Ein Einordnungsversuch

Es ist die zentrale Herausforderung für Jugendliche in der Adoleszenz, einen eigenständigen Lebensweg zu gestalten. Pädagog_innen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit haben unter anderem häufig mit Kindern und Jugendlichen zu tun, die von sozioökonomischer Benachteiligung betroffen sind. Angesichts mangelnder Zukunftsperspektiven und oft geringen schulischen Bildungserfolgen ist dieses Milieu anfällig für „Erlöser_innen“ wie salafistische Gruppen, die mit einfachen Botschaften predigen, dass alle anderen die Schuld haben, nur man selbst nicht – eine Haltung, die beinhaltet, dass eine Auseinandersetzung mit der eigenen Situation nicht notwendig ist. Neben sozial- oder bildungsbenachteiligten Jugendlichen können jedoch auch andere anfällig sein, zum Beispiel diejenigen, die unabhängig von ihrem Lebensstandard Diskriminierung erfahren haben. Salafismus hat auf alle Fragen die passende Antwort und reduziert die Haltung zur Welt auf eine rigorose Einteilung in gut oder böse, richtig oder falsch, Zugehörige zur eigenen Gruppe oder „Ungläubige“.

Solange jedoch Jugendliche in Hinwendungsprozessen zum Salafismus die Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit wie Jugendzentren, Offene Türen oder mobile Angebote besuchen, haben sich noch nicht komplett in ein salafistisches Milieu zurückgezogen. Sie sind noch sichtbar, und hier liegt für Pädagog_innen die Chance, sie bei ihrer Identitätsarbeit zu unterstützen. Wie dies gelingen kann, ist Thema des vorliegenden Beitrages.

In unserer individualisierten und säkularen Gesellschaft ist es auf den ersten Blick verwunderlich, dass Jugendliche (zeitweise) ein Identitätsmodell ausprobieren, das durch eine spezielle Form des religiösen Fundamentalismus ausgezeichnet ist, der die Abwertung von Andersdenkenden einschließt. Auf den zweiten Blick erscheint der Salafismus in seiner jugendkulturellen Ausprägung unter anderem deshalb attraktiv, weil er ein enormes Protest- und Abgrenzungspotential gegenüber der Elterngeneration und anderen gesellschaftlichen Milieus bietet, wie dies in jüngster Vergangenheit von einigen Autoren angeführt wird (Vgl. Toprak/Weitzel 2017, S. 47-59; El-Mafaalani 2017, S. 77-90). Der Begriff der Jugendkultur kann allerdings nicht uneingeschränkt auf den Salafismus angewandt werden, da Symbole, Codes und Deutungsmuster durch Erwachsene gestaltet wurden und da es innerhalb der Szene keine klare Abgrenzung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen zu geben scheint (Dies bemerkte Silke Bear auf einer Fachtagung zum Thema Salafismus als Herausforderung für die Soziale Arbeit am 12.10.2017 an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Aachen.)

Gefordert ist von Pädagog_innen ein genaues Beobachten sowie eine Offenheit und Affinität für Lebensfragen und Lebensgestaltungsversuche von Jugendlichen, insbesondere jene in prekären Lebenslagen und jene, die Ohnmachtserfahrungen machen. Eine Hinwendung zum Salafismus macht hellhörig für Ursachen, die es als pädagogische Fachkraft gemeinsam mit dem Jugendlichen zu ergründen gilt.

Die Auseinandersetzung mit dem Themenspektrum des Salafismus in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit erfolgt unter einer gesetzlich verankerten Bildungsperspektive. Das heißt: Jugendarbeit zielt grundsätzlich darauf ab, Lebenskompetenzen zu fördern und subjektive Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu unterstützen. Offene Kinder- und Jugendarbeit setzt dann Bildungsimpulse frei, wenn Meinungsverschiedenheiten berücksichtigt werden und in einen demokratischen Prozess der Willensbildung münden, der die Kompetenz vermittelt, Ideologien und Herrschaftsansprüche kritisch zu hinterfragen. Ein solches Verständnis von Offener Kinder- und Jugendarbeit als politische Bildung ist insbesondere in Zeiten aufkommender Attraktivität von Eindeutigkeitsangeboten (Salafismus, Rechtsextremismus) und ebenfalls salonfähiger islamfeindlicher Einstellungsmuster in weiten Teilen unserer Gesellschaft von besonderer Relevanz.

Aus welcher Perspektive und auf welcher Grundlage kann die Jugendarbeit tätig werden?

Offene Kinder- und Jugendarbeit ist in besonderem Maße von gesellschaftlicher Vielfalt und Veränderung geprägt – das schließt die religiöse und weltanschauliche Vielfalt ausdrücklich ein. Gesetzlich verankertes pädagogisches Ziel ist es, junge Menschen zur Selbstbestimmung zu befähigen sowie zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anzuregen und hinzuführen (vgl. §11 Abs. 1 SGB VIII). Dies wird dadurch erreicht, dass Jugendarbeit an den Interessen junger Menschen anknüpft und pädagogische Angebote von jungen Menschen mitbestimmt und mitgestaltet werden (vgl. ebd.).

Das heißt: Sowohl in Jugendeinrichtungen als auch in mobilen oder aufsuchenden Arbeitsarrangements zielt die Jugendarbeit darauf ab, langfristig angelegte, informelle Bildungsprozesse zu ermöglichen, welche die Lebenskompetenz junger Menschen fördern. In diesem Sinne soll dann von Bildung gesprochen werden, wenn Kinder und Jugendliche sich in ihrer Individualität (Ich-Bezug) und in ihrer Rolle als aktive Gestalter von demokratischer Zivilgesellschaft (Welt-Bezug) entdecken, und an sich selbst und an gesellschaftlichen Prozessen aktiv (mit)arbeiten. Somit ist es grundsätzlich Aufgabe von Jugendarbeit, Freiräume zu ermöglichen für das Ausprobieren, für Gemeinschaft, für selbstbestimmtes Lernen und das Treffen von Entscheidungen. Dies gilt auch für Jugendliche in Hinwendungsprozessen zum Salafismus.

Jugendarbeit sollte einen differenzierten Blick auf die Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben, die sich vom Salafismus angezogen fühlen. Dies wird in der Praxis leider nicht immer idealtypisch umgesetzt. Zu einer differenzierten Arbeitsweise gehört, Jugendlichen nicht sofort ein Angebot zu machen, sondern sie zunächst genau zu beobachten und dabei das eigene Arbeitsfeld mit kritischer Distanz zu betrachten (zu „befremden“) und immer wieder neu zu reflektieren. Dabei ist es notwendig, Antworten auf Fragen zu finden wie: Was wissen wir über die Jugendlichen? Welche biografischen, sozialen und kulturellen Bindungen und Entwicklungen prägen sie, in welchen Milieus leben sie? Welche damit verknüpften Weltsichten (Familie, Peer Group, Medien, Religionsgemeinschaft, Verein) haben sie geprägt? Welche Gesellschaftsbilder werden über sie vermittelt (Stichwort Islamfeindlichkeit)? Welche Versuche der Lebensgestaltung werden sichtbar?

Der akzeptierende und konfrontative Ansatz — eine notwendige Dialektik

Jugendarbeit, die sich auf die Stärken und Potenziale von Jugendlichen bezieht, geht es um die Förderung von Persönlichkeitsentwicklung, Selbstentfaltung sowie Mitverantwortung und sozialer Integration, und nicht um eine reine Fixierung auf Gefährdungen. So verstanden, wird die Jugendphase als Moratorium für Experimente angesehen, in der Suchprozesse und Identitätsarbeit in erhöhtem Maße stattfinden, und Jugendarbeit unterstützt die jungen Menschen dabei herauszufinden, wie man leben könnte – auch abseits einer vorgestellten „Erwachsenennormalität“. Daher sollten Jugendliche nicht auf das Etikett „salafistische Jugendliche“ festgeschrieben werden, auch wenn sie selbst so erscheinen (wollen). Anstatt an solchen gedanklichen Fixierungen festzuhalten sollten Pädagog_innen die Suchprozesse von Jugendlichen ernst nehmen und ihnen Erfahrungsräume bieten, die auch Reibung, Konfrontation und Aneinandergeraten beinhalten.

Hier gerät die Jugendarbeit, weil sie auf einem personalen Beziehungsangebot basiert, in eine Grenzsituation: Einerseits wissen Pädagog_innen, dass auch Jugendliche in (identitätsstiftenden) salafistischen Cliquen/Szenen an ihren Angeboten teilhaben dürfen und dass sie davon profitieren würden. Andererseits sind Pädagog_innen verunsichert und mitunter überfordert, pädagogisch angemessen auf Jugendliche zu reagieren, die sich in salafistischen Szenen bewegen. Für Verunsicherung sorgen zum Beispiel Sympathiebekundungen für Gewalt oder die Terrororganisation „Islamischer Staat“, gepaart mit abwertenden Äußerungen und Distanzierungen gegenüber den (als solche konstruierten) „Ungläubigen“.

Den Pädagog_innen ist bewusst: Wenn sie Jugendliche ausschließen, die freiwillig in die Einrichtung kommen, könnte dies Hinwendungsprozesse zum Salafismus und Radikalisierung unter Umständen befeuern. Dieses Dilemma wird dadurch verstärkt, dass auf Seiten der Pädagog_innen eine begründete Distanz gegenüber dem salafistischen Milieu und dessen menschenfeindlichen Einstellungen und Aktivitäten der politischen Agitation vorherrscht.

Wenn Jugendliche, die sich der emanzipationsfeindlichen Jugendkultur salafistischer Gruppen zuordnen, Jugendzentren besuchen, besteht das Risiko, dass dort Normalisierungsprozesse stattfinden (Vgl. Hafeneger 2015, S. 28). Das heißt, im ungünstigsten Falle machen sich jene Jugendliche in der Einrichtung „breit“ und beeinflussen andere oder sie schüchtern andere ein und stellen sie ruhig. Dadurch könnte eine Schweigespirale entstehen, was dazu führt, dass andere Jugendliche (Betroffene, Opfer) sich nicht trauen, Ängste und Befürchtungen offen anzusprechen. Ein Ausschluss von Jugendlichen, die sich zum Salafismus hinwenden, sollte stets gut überlegt sein und als ultima ratio herangezogen werden, wenn andere methodische Versuche nicht greifen und die Jugendlichen sich auf eine pädagogische Beziehungsarbeit nicht einlassen wollen.

In der Jugendarbeit gibt es bisher nur wenig Erkenntnisse darüber, wie dieses Dilemma im Umgang mit dem salafistischen Milieu in der Praxis aufgelöst werden kann. Es existieren jedoch pädagogische Ansätze, die in anderen Zusammenhängen entwickelt worden sind und die Elemente beinhalten, deren Zusammenführung und Anwendung sich im Kontext des Salafismus anbietet. Im Folgenden werden diese Elemente aus der akzeptierenden Jugendarbeit und der konfrontativen Pädagogik kurz beschrieben.

Der Handlungsansatz der akzeptierenden Jugendarbeit legt die Möglichkeit nahe, sich Jugendlichen in der salafistischen Szene akzeptierend zuzuwenden. Der Ansatz wurde Ende der 1980er Jahre von Franz Josef Krafeld entwickelt und basiert auf seinem Konzept einer cliquenorientierten Jugendarbeit. Krafelds Thema war die Arbeit mit Jugendlichen in rechten Jugendcliquen. Der Ansatz der akzeptierenden Jugendarbeit beruht darauf, die in den Cliquen gängigen Alltagsgestaltungs-, Orientierungs- und Lebensbewältigungsmuster einzuordnen, ohne eine substantielle Bewertung vorzunehmen. Dabei wird die Veränderung menschenfeindlicher und gewaltaffiner Einstellungsmuster nicht als Bedingung vorausgesetzt, sondern als Ziel eines pädagogischen Prozesses betrachtet.

Krafeld geht davon aus, dass inhaltsvolle Gespräche nur dann stattfinden können, „wenn dabei vorrangig persönliche Begegnung, persönlicher Austausch stattfindet. Die Jugendlichen wollen Meinungen und Auffassungen von vertrauten Personen kennenlernen, um daraus Anregungen und Anstöße für sich zu ziehen. Nicht um sachbezogenes Überzeugen, sondern um personenbezogenen Austausch geht es hier also vorrangig“ (Krafeld 1996, S. 18).

Eine solche unterstützende Begleitung von Jugendlichen darf unter keinen Umständen unkritisch erfolgen. Ein unkritischer Umgang mit Jugendlichen wurde dem Ansatz oftmals in der Vergangenheit zum Vorwurf gemacht. Doch auch akzeptierende Jugendarbeit muss Jugendlichen Grenzen aufzeigen und diese Grenzen einfordern. Akzeptanz hat zum Beispiel dort eine Grenze, wo körperliche und / oder psychische Verletzungen drohen, oder wo gezielt menschenfeindliche oder extremistische Wirkungen beabsichtigt sind und Jugendarbeit zur Bühne für solche Ansichten gemacht wird. Somit hat eine akzeptierende Jugendarbeit den Blick auch auf mögliche Opfer und Betroffene zu richten.

Der konfrontative Ansatz zielt in solchen Situationen darauf ab, Jugendliche mit Regelverstößen zu konfrontieren, um sie dadurch zur Verantwortung für das eigene Handeln zu ziehen. Bei provokativen Äußerungen – zum Beispiel dazu, was im Namen der Religion zu tun oder zu unterlassen sei – können Pädagog_innen Jugendliche mit wertfreien Fragen konfrontieren, die darauf abzielen Widersprüche herauszuarbeiten, Orientierungs- und Verhaltensmuster zu reflektieren und diese zu korrigieren.

Ein Großteil der Jugendlichen, die im Salafismus Orientierung suchen, kann als Mitläufer_in bezeichnet werden, die noch keine feste politische Meinung ausgebildet haben – obwohl sie dies in der Regel selbstsicher von sich behaupten würden. Hier kann Jugendarbeit präventiv wirken, indem sie die Unsicherheiten der Jugendlichen ernst nimmt und diese bei ihrer Identitätsarbeit kritisch unterstützt, sich aber gleichzeitig von provokativen oder sogar menschenfeindlichen Äußerungen klar distanziert. Kritische Akzeptanz und Konfrontation von Jugendlichen einerseits und Distanzierung von antidemokratischen Einstellungen andererseits schließen einander nicht aus.

Wie kann pädagogisches Handeln gestaltet werden? Drei Anregungen für die Jugendarbeit

Pädagog_innen in Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit können sich einen Zugang zu Einstellungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen erarbeiten. Sie wissen, dass sich Einstellungsänderungen bei Jugendlichen kaum über die Vermittlung theoretischen (sachbezogenen) Wissens erreichen lassen, sondern sich maßgeblich über das oben beschriebene Akzeptanz-Distanz-Verhältnis vollziehen, welches als personales Beziehungsangebot an Jugendliche gerichtet ist. Bildung lässt sich nicht von außen nach innen vermitteln, sondern kann sich durch Erkenntnis im Subjekt selbst entfalten.

Die folgenden Anregungen sollen exemplarisch aufzeigen, wie Pädagog_innen die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität fördern können – auch bei Jugendlichen, die eine „salafistische Fassade“ aufrechterhalten.

  • 1. Religionsaffinität und die „Einklammerung“ des Themas „Religion“ und „Salafismus“ in der Kommunikation mit Jugendlichen

Es ist nicht Aufgabe und Ziel offener Kinder- und Jugendarbeit, religiöse Erziehung zu gewährleisten. Gleichzeitig sollte Jugendarbeit offen gegenüber Fragen nach Glauben und Religion von Jugendlichen sein. Roland Lutz schlägt vor, eine Religionsaffinität in die soziale Arbeit einzuführen. Damit ist nicht gemeint, Vernunft und Rationalität zu vernachlässigen, sondern „sich den Bedürfnissen und dem Glauben von Menschen bewusst und reflexiv zu stellen und dies nicht zu verleugnen“ (Lutz 2016, S. 42). Die Thematisierung von Religion in Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit orientiert sich am Grundverständnis der demokratisch-freiheitlichen Grundordnung, die im Art. 4 des Grundgesetzes eine Pluralität des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses garantiert; geführt wird ein gesellschaftlicher Dialog, kein theologischer.

Ein Beispiel aus einer Jugendeinrichtung: Dort war bekannt, dass sich ein Jugendlicher in der salafistischen Szene engagierte. Dies führte zu heftigen Diskussionen zwischen Pädagog_innen und dem Jugendlichen zu Beginn der pädagogischen Beziehungsarbeit. Doch die Diskussion drehte sich im Kreis, und der Jugendliche wollte sich nicht auf eine Selbstreflexion einlassen. Daher trafen die pädagogischen Fachkräfte die Entscheidung, die Themen Religion und Salafismus zunächst in der Kommunikation mit dem Jugendlichen „einzuklammern“, obwohl sich der Jugendliche weiterhin in der salafistischen Szene engagierte.

„Einklammerung von Religion“ meint, die Themen zeitweilig nicht oder nicht ausschließlich zu thematisieren. Anstatt die Themen komplett aus der pädagogischen Situation auszuklammern oder Jugendliche auf Religion zu fixieren, was dazu führen kann, dass sie sich nicht ernst genommen oder gar diskriminiert fühlen, eröffnet die „Einklammerung von Religion“ für pädagogische Fachkräfte die Möglichkeit, Jugendliche anders und mehrperspektivisch zu beobachten sowie Raum für Reflexion und Alternativen bereitzustellen.

„Einklammerung von Religion“ zielt darauf ab, Reflexionsprozesse zu ermöglichen und Argumentationen zurückzustellen, sowohl für die pädagogischen Fachkräfte als auch für die Jugendlichen. Die Jugendlichen erleben sich dabei als nicht auf das Religiöse fixiert und können unterschiedliche Identitätsentwicklungen voranbringen.

In dem Fallbeispiel wurden dadurch neue kommunikative Situationen ermöglicht; es wurden neue Themen und Interessen angesprochen sowie Partizipationsmöglichkeiten geschaffen. Gleichzeitig gehörte zu diesem Prozess, dass der Jugendliche in der Einrichtung nicht „missionieren“ durfte; ihm wurden also klare Grenzen gesetzt. Indem die Kommunikation zwischen pädagogischen Fachkräften und Jugendlichen eine neue Qualität erreichte, rückten die Probleme und Kontexte in den Vordergrund, welche die Gründe für seine Radikalisierung darstellten. Die Einklammerung von Religion führte schließlich dazu, dass der Jugendliche das Thema Religion wieder in die Kommunikation mit den pädagogischen Fachkräften hineintrug und Unterstützung bei seiner Identitätsentwicklung und Problembewältigung suchte. Auf Grundlage dieser neuen Vertrauensbasis wurde Kontakt zu einer Beratungsstelle für Deradikalisierung gesucht.

Heute wird er von einem Aussteigerprogramm betreut und besucht nach wie vor die Jugendeinrichtung. Obgleich dieser Fall einen Einzelfall darstellt, können Rückschlüsse für das kommunikative Verhalten im Hinblick auf radikalisierte Jugendliche im Allgemeinen gezogen werden. Nachdem die anfängliche Kommunikation zwischen Pädagog_innen und Jugendlichen gescheitert war, eröffneten sich ganz im Sinne von subjektorientierter Bildung neue Arbeitsformen und Lösungswege.

2. Moderation von Gesprächen zwischen Jugendlichen mit kontroversen Meinungen

Viele Besucher_innen von Jugendeinrichtungen insbesondere in benachteiligten Wohnquartieren sind von sozioökonomischer Benachteiligung betroffen, was oftmals eine Abwendung vom politischen und gesamtgesellschaftlichen Diskurs nach sich zieht. Jugendarbeit, die sich als Ort politischer Bildung versteht und Subjektwerdung und gesellschaftliches Engagement fördern will, kann Jugendlichen (niedrigschwellig) demokratische Willensbildung vermitteln und sie dafür begeistern. Grundsätzlich gilt, dass die Themen der Jugendlichen auf der Tagesordnung stehen, nicht die der Erwachsenen.

Viele Jugendzentren haben in den vergangenen Jahren die Erfahrung gemacht, dass insbesondere einige muslimische Jugendliche auf verschiedene Weise in Berührung mit der salafistischen Szene kamen. Dazu gehört vor allem das Anschauen von Internetvideos aus der Szene. Einige Jugendliche fanden auch Akteure aus der salafistischen Szene interessant, wie den zeitweise sehr populären selbsternannten Prediger Pierre Vogel, oder gingen zu entsprechenden „Islam-Seminaren“. Mittlerweile hat sich die Szene ausdifferenziert, wobei bei einem Teil eine verstärkte Radikalität festgestellt werden kann – so wurde zum Beispiel die Organisation „Die Wahre Religion“ verboten. Damit geht einher, dass sich auch unter den Jugendlichen das Bild des Salafismus gewandelt hat. Während einige mittlerweile den Salafismus ablehnen, eifern andere nach wie vor unhinterfragt seinen selbsternannten Predigern nach. Zu vermuten ist, dass dazu die verstärkte öffentliche Auseinandersetzung mit dem Salafismus beigetragen hat – sowohl in Bildungseinrichtungen als auch in den Medien.

Das sind insgesamt gute Voraussetzungen für moderierte Gespräche in Jugendzentren. Pädagog_innen wissen, dass sich solche Gespräche kaum planen lassen. Sie ergeben sich oftmals spontan, sei es beim Kochangebot oder in der Sitzecke im offenen Bereich der Einrichtung. Den Erwachsenen eröffnet sich hier zum einen die Chance, kontroverse Meinungen und Einstellungen von Jugendlichen kennen zu lernen und durch Nachfragen zu vertiefen. Zum anderen können sie den Dialog – die Keimzelle politischen Handelns – zwischen Jugendlichen fördern. Das beinhaltet die Gelegenheit, die dazugehörigen Regeln der Kommunikation zu thematisieren.

Aus diesen Gesprächssituationen, die von Jugendlichen selbstbestimmt eröffnet werden, können auch Projekte entstehen. Zum Beispiel die kritische Analyse von Botschaften und Inhalten salafistischer Videos in einem geschützten Rahmen. Voraussetzung ist die Einwilligung der Jugendlichen. Eine solche Projektarbeit muss gut vorbereitet sein. Es empfiehlt sich, das ausgewählte Video gemeinsam mit Meinungsbildnern (opinion leaders) im Stadtteil anzuschauen und anschließend zu reflektieren (zum Beispiel mit Vertretern von Moscheegemeinden, Sportvereinen oder Projekten wie „180-Grad-Wende“). Mögliche Leitfragen sind dabei: Warum fühle ich mich vom Salafismus angesprochen (oder auch nicht)? Wie verpacken Salafisten ihre menschenfeindlichen Botschaften in ein religiöses Gewand? Worum geht es ihnen eigentlich? Was für Gegenargumente kennen wir? An dieser Stelle kann es hilfreich sein, mit sogenannten „Gegen-Narrativen“ (counter narratives) zu arbeiten. In Form von Videobotschaften auf YouTube beispielweise wurden bereits Gegenerzählungen von (muslimischen) Jugendlichen entwickelt, die sich gegen Menschenfeindlichkeit und für Menschenrechte einsetzen. Beispiele sind die Video-Serie unter dem Hashtag #whatIS oder die Reihe #travellingislam von Hatice Schmidt. [Anm. der Red.: Beide Video-Reihen stammen aus dem Projekt „Begriffswelten Islam„.Für die bpb haben sich YouTuber_innen mit wichtigen Begriffe populärer Islamdiskurse in Deutschland auseinandergesetzt.]

Die Diskussion und Reflexion sowie die Konfrontation mit anderen Meinungen innerhalb der eigenen Peer Group beinhalten ein enormes Potenzial, menschenfeindliche Einstellungen und ihre „Codes“ zu entlarven und sich davon abzuwenden. Im günstigsten Fall setzen sie bei den Beteiligten die Energie frei, sich für andere und im Stadtteil zu engagieren.

  • 3. Aktivierung zur demokratischen Mitverantwortung und Mitgestaltung der (Stadtteil-) Gesellschaft

Salafistische Gruppen vermitteln Zugehörigkeit und Gemeinschaftsgefühl, indem Andersdenkende abgewertet werden und ein gesellschaftlicher Rückzug gefordert wird. Solange jedoch Jugendliche, die sich vom Salafismus angezogen fühlen, Jugendzentren besuchen, besteht die Chance einer Zusammenarbeit. Als Ort gesellschaftlicher Mitbestimmung trägt Offene Kinder- und Jugendarbeit wesentlich dazu bei, Jugendliche in demokratische Entscheidungsprozesse einzubinden, die sie direkt in ihrer Lebenswelt betreffen. Dadurch lernen sie auch neue Wertebilder kennen. Dies kann zum Beispiel die Übernahme eines Ehrenamtes bei der Durchführung von Sportevents sein, ebenso wie die Beteiligung bei der Gestaltung des öffentlichen Raums im Quartier. Auch die gemeinsame Entwicklung von Hausregeln für die Jugendeinrichtung, die für alle Besuchergruppen gleichermaßen gelten, ist ein demokratischer Prozess.

Solche wirksamen Partizipationserfahrungen leisten einen wesentlichen Beitrag dazu, Jugendlichen Anerkennung und Wertschätzung zu vermitteln – wichtige Voraussetzungen zur Erlangung von Selbstbewusstsein und Selbstachtung. Anerkennung wird aufgefasst als Gegenbegriff zu einer Unterwerfung unter fremde Zwecke, die der Salafismus einfordert.

Welche Rolle spielt die Jugendarbeit im Zusammenspiel mit anderen Akteuren?

Offene Kinder- und Jugendarbeit kann eine wichtige Rolle im Bereich der Primärprävention spielen, indem sie demokratische Werte vermittelt und Jugendliche so gegenüber den Botschaften extremistischer Gruppen stärkt. Sie kann dazu beitragen, ein attraktives zivilgesellschaftliches Umfeld zu schaffen, in dem diese Werte und die gesellschaftliche Vielfalt geachtet werden. Indem sie in den Stadtteil hinausreicht, ermöglicht sie Jugendlichen neue Erfahrungsräume und neue Beziehungen zu wertschätzenden Personen. Zudem gehört die aktive Vernetzung mit Partnern aus den Sozialräumen der Jugendlichen zu den Aufgaben der Jugendarbeit – die sogenannte infrastrukturelle und sozialräumliche Kooperation. Zu möglichen Partnern können auch Religionsgemeinschaften zählen.

In Arbeitskreisen und gemeinsamer Projektarbeit kommt der Jugendarbeit die Rolle als Lobby für Kinder- und Jugendrechte zu, wozu die Aufklärung über die Sozialisationsbedingungen und mögliche Problemlagen im Umfeld der Jugendlichen zählt.

Auch bei der Arbeit mit Jugendlichen, bei denen bereits Radikalisierungsprozesse beobachtet beziehungsweise vermutet werden, kann die Jugendarbeit eine wichtige Rolle spielen. In diesem Bereich ist die Zusammenarbeit mit Beratungsstellen aus dem Bereich der Deradikalisierungsarbeit von besonderer Bedeutung (z.B. HAYAT, VPN oder Wegweiser). In der Praxis ergibt sich dabei erfahrungsgemäß eine Rollenverteilung: Gemeinsam wird qualifiziert eingeschätzt, ob eine Radikalisierung vorliegt und welche weiteren Schritte zu unternehmen sind. Im Fall einer angenommenen Radikalisierung übernimmt eine Fachkraft aus dem Bereich der Deradikalisierung die Beratung der pädagogischen Fachkräfte im Jugendzentrum. Die pädagogischen Fachkräfte versuchen, das Beziehungsverhältnis zu dem Betroffenen zu stärken, um darüber Einstellungsveränderungen zu bewirken. Erfahrungsgemäß bieten sich regelmäßige Reflexionstreffen an. Hier ist es unter anderem ratsam, eine Risikoeinschätzung vorzunehmen.

Auf der Grundlage der Risikoeinschätzung kann ein weiterer Schritt die Einberufung einer sogenannten Fallkonferenz sein, wobei weitere Akteure einbezogen werden. Neben den Fachkräften der Beratungsstelle und den Jugendarbeiter_innen nehmen auch die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer sowie Vertreter_innen des Jugendamtes teil. Gemeinsam wird erörtert, wie weit fortgeschritten die Radikalisierung ist, welche Ursachen sie haben kann und ob es zielführend ist, auf die Eltern und den Jugendlichen einzuwirken, eine sogenannte Hilfe zur Erziehung beim Jugendamt zu beantragen (§27 SGB VIII).

In einzelnen Fällen ist es denkbar, dass eine externe Fachkraft einer Beratungsstelle direkten Zugang zu dem oder der Jugendlichen bzw. der Jugendclique erhält. Dabei fungiert die pädagogische Fachkraft aus dem Jugendzentrum zusätzlich zu ihrer Rolle als Beziehungspartner_in nun als Vermittler_in. Ein solches aufsuchendes Vorgehen muss mit den Jugendlichen im Vorhinein abgestimmt sein. Insoweit kein Interesse von Seiten der Jugendlichen besteht, muss dies akzeptiert werden.

Die direkte Einbindung einer externen Fachkraft sollte als offener Entwicklungsprozess verstanden und gestaltet werden. Nachdem ein Vertrauensverhältnis aufgebaut ist, kann die externe Fachkraft die Jugendlichen einzelfallorientiert und unter Umständen cliquenorientiert unterstützen, wobei die Fachkraft dann die Rolle des Beraters oder der Beraterin um die eines aufsuchenden Jugendarbeiters erweitert und dadurch zum Meinungsbildner_in (s.o.) für die Jugendlichen wird. Dies erfordert eine genaue Abstimmung mit dem Team aus dem Jugendzentrum.

Zusammenfassung und Fazit

In der Gewaltprävention gilt die Regel, dass stets die Zusammenhänge zwischen Kriminalität auf der einen Seite und Bildung sowie biografische Zukunftsoptionen auf der anderen Seite ins Auge gefasst werden müssen. Dabei muss von einer defizitorientierten Betrachtung Jugendlicher Abstand genommen werden. Dies gilt auch für den Kontext des Salafismus. Auch Jugendliche, die sich zum Salafismus hinwenden, sollen kritisch-unterstützend bei ihrer Identitätsarbeit begleitet werden.

Anstatt Jugendlichen vorwurfsvoll zu begegnen, geht es darum, gemeinsam mit ihnen die Konsequenzen ihres Handelns für sich selbst und ihre Mitmenschen zu reflektieren. Diese Arbeit erfordert neben den skizzierten Angebotsformaten ein hohes Maß an einzelfallorientierter Unterstützung. Offene Kinder- und Jugendarbeit und Jugendhilfe im Allgemeinen sind primär am Wohle des Kindes beziehungsweise des Jugendlichen orientiert. Maßgeblich ist für sie das Ziel der Schaffung positiver Lebensverhältnisse, nicht das öffentliche Sicherheits- und Ordnungsbedürfnis.

Die Offene Kinder- und Jugendarbeit befindet sich bei der Arbeit mit Jugendlichen, die sich vom Salafismus angezogen fühlen, in einer Grenzsituation. Einerseits verfügen pädagogische Fachkräfte mitunter über einen Zugang zu betroffenen Jugendlichen. Sie bieten im Rahmen der pädagogischen Zusammenarbeit den Jugendlichen alternative Zugänge zu Anerkennung und Gemeinschaft, sowie Möglichkeiten der demokratischen Mitgestaltung und Mitbestimmung. Andererseits nehmen Jugendarbeiter und Jugendarbeiterinnen Gefährdungspotentiale des Salafismus in den Blick, agieren im Einzelfall vernetzt mit externen Kooperationspartnern und nehmen mit diesen gemeinsam eine Risikoeinschätzung vor. Vor dem Hintergrund dieser Situation und der Komplexität von Radikalisierungsprozessen wird deutlich, dass sich die Jugendarbeit hier insbesondere mit den Beratungsstellen vernetzen muss.

Eine zweite Grenzsituation ergibt sich für die pädagogische Zusammenarbeit in der Einrichtung selbst: Diese darf Jugendlichen in salafistischen Radikalisierungsprozessen keine „Bühne“ für ihre provokanten bis menschenfeindlichen Ansichten bieten. Daraus ergibt sich, dass gemeinsam mit den Betroffenen klare Regeln vereinbart werden müssen. Nach wiederholten Konfrontationen bei Regelverstößen und einem Desinteresse an einer akzeptierenden Zusammenarbeit auf Seiten der Jugendlichen sollten jene aus der Jugendarbeit ausgeschlossen werden.

Im günstigeren Fall bestehen Vertrauen und Interesse auf Seiten der Jugendlichen. Sie werden prozessorientiert durch jugendpädagogische und sozialräumliche Angebote sowie durch einzelfallorientierte Unterstützung an demokratische Prozesse herangeführt, die maßgeblich Einstellungsänderungen einleiten können.


Literatur

Hafeneger, Benno: Auseinandersetzung mit dem emanzipationsfeindlichen Salafismus und politisch-religiösen Extremismus. In: deutsche jugend, 63. Jg., 1/2015.

Krafeld, Franz Josef (1996): Die Praxis Akzeptierender Jugendarbeit: Konzepte, Erfahrungen, Analysen aus der Arbeit mit rechten Jugendcliquen, Opladen.

Lutz, Roland (2016): Sinn als Ressource. Thesen zur Religionsaffinität Sozialer Arbeit. In: Lutz, Roland & Kiesel, Doron (Hrsg.): Sozialarbeit und Religion, Weinheim/Basel, S. 10-52.

Toprak, Ahmet/Weitzel, Gerrit (2017): Warum der Salafismus den jugendkulturellen Aspekt erfüllt. In: Toprak, Ahmet/Weitzel, Gerrit (Hrsg.): Salafismus als Jugendkultur. Jugendkulturelle Aspekte, pädagogische Perspektiven, Wiesbaden, S. 47-59.

El-Mafaalani, Aladin (2017): Provokation und Plausibilität – Eigenlogik und soziale Rahmung des jugendkulturellen Salafismus. In: Toprak, Ahmet/Weitzel, Gerrit (Hrsg.): Salafismus als Jugendkultur. Jugendkulturelle Aspekte, pädagogische Perspektiven, Wiesbaden, S. 77-90.

Illustration: Copyright bpb

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