Statt in der Moschee suchen junge Muslime immer häufiger in sozialen Netzwerken Antworten auf Fragen des Glaubens im Alltag. Das Projekt „Was postest Du? Politische Bildung mit jungen Muslim_innen online“ von ufuq.de soll zum Nachdenken anregen und jungen Muslimen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Mitgestaltung aufzeigen. Ein Projektbericht von ufuq.de-Mitarbeiter Götz Nordbruch.
Was sagt der Islam eigentlich zum Augenbrauenzupfen? Oder zu Halloween? Ist es ok, als Muslim Game of Thrones zu schauen? Antworten auf diese Fragen suchen junge Muslime immer weniger in der Moschee, dafür gewinnt „Sheikh Google“ an Bedeutung. Ob Kleidungsregeln, der Umgang mit Glauben im Alltag oder religiöse Themen in der Politik – auch für viele junge Muslime spielen Online-Medien eine wichtige Rolle, um sich über aktuelle Themen austauschen und zu informieren.
Dennoch gibt es bisher kaum Ansätze, soziale Medien auch in der politischen Bildungsarbeit zu nutzen. Zugleich zeigen die Erfahrungen aus dem Modellprojekt „Was postest Du? Politische Bildung mit jungen Musliminnen und Muslimen online“ des Berliner Vereins ufuq.de, wie groß das Interesse an religiösen und gesellschaftlichen Fragen auch in sozialen Netzwerken ist – und wie schwierig es sein kann, über diese Fragen ins Gespräch zu kommen.
Diskussionen auf Facebook oder Youtube ähneln oft einem Vorhof zur Hölle. Polemische Kommentare und Beleidigungen prägen nicht selten die Debatten, gerade wenn es um sensible und oft sehr persönliche Fragen rund um den Umgang mit islamischen Traditionen im Alltag geht. Dabei zeigt sich auch die Sichtbarkeit salafistischer Stimmen, die in manchen deutschsprachigen Facebook-Gruppen zum Islam den Ton angeben.
In dem Projekt „Was postest Du?“ geht es um eine „aufsuchende“ politische Bildungsarbeit an Orten, an denen junge Muslime bereits unterwegs sind – zum Beispiel in Facebook-Gruppen mit Titeln wie „Fragen über den Islam“ oder „Probleme und Lösungen im Islam“, in denen bisweilen über 10.000 Personen Mitglied sind. Die Arbeit der Teamerinnen und Teamer, die im Projekt für die Online-Arbeit geschult wurden und sich selbst als Muslime verstehen, besteht dabei nicht darin, „richtige“ Antworten auf Fragen zum Glauben zu geben, sondern darin, nachzufragen und Gedankenanstöße zu geben und so das Meinungsspektrum zu weiten.
Das gelingt nicht immer, etwa im Falle des Beitrags einer jungen Frau auf Facebook, in dem sie sich mit der Frage an die Facebook-Community wandte, „ob eine Frau ohne ihren Mann allein in der Stadt darf“. Auf die Nachfrage, wieso dies Frauen verboten sein sollte, erwiderte sie: „Ich will eine islamische Antwort mit Hadith und Koranvers. Ich bin gerade nicht in der Stimmung für Argumentationen und Diskussionen, jedenfalls wäre ich froh, wenn mir ein Wissender weiterhelfen könnte.“
Der Wunsch nach eindeutigen Antworten ist gerade unter Jugendlichen verbreitet. Oft entwickelt sich hier eine Art „Hadith-Ping-Pong“, in dem ein Hadith mit einem anderen, widersprechenden Hadith erwidert wird. Dennoch ergeben sich auch hier oft Gespräche, in denen es weniger um Klarheit als um Zusammenhänge und Hintergründe geht. So lassen sich Fragen nach Kleidungsregeln auch in der politischen Bildungsarbeit in sozialen Netzwerken mit weitergehenden Fragen zur gesellschaftlichen Bedeutung von Kleidung verbinden – oder zur Wirkung bestimmter Kleidungsstile auf andere. Dabei wird schnell deutlich, dass es beispielsweise beim Kopftuch nicht allein um religiöse Regeln geht, sondern auch um Fragen von Identität, um eine Verhältnisbestimmung zu anderen und um Botschaften, die man über eine bestimmte Kleidung nach außen tragen möchte. Die Entscheidung für oder gegen das Kopftuch ist dann nicht mehr allein abhängig davon, wie man eine religiöse Norm interpretiert, sondern auch davon, was man selbst möchte und für richtig hält.
Um selber zu denken und zu entscheiden ist es wichtig, überhaupt mit unterschiedlichen Perspektiven und Optionen konfrontiert zu sein. Gerade für die Auseinandersetzung mit Diskriminierungserfahrungen von Muslimen bieten sich in sozialen Netzwerken zahlreiche Anknüpfungspunkte. Die wachsende Zahl von islamfeindlichen Straftaten und weitverbreitete Erfahrungen mit antimuslimischem Rassismus nehmen auch in vielen Online-Diskussionen unter jungen Muslimen großen Raum ein. Dabei entsteht nicht selten der Eindruck, Muslime seien Gewalt und Anfeindungen hilflos ausgesetzt – ein Eindruck, der in Beiträgen von salafistischen Initiativen zu einer Opferideologie verdichtet wird: „Der Westen führt einen Krieg gegen den Islam!“
Die Diskussionen in dem Online-Projekt zeigen, wie wichtig die Anerkennung dieser Erfahrungen ist, und wie dankbar Verweise auf Hilfsangebote beispielsweise von Antidiskriminierungsstellen und –netzwerken angenommen werden. Ziel ist es dabei nicht, Erfahrungen mit Rassismus zu beschönigen, sondern Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, die dem Eindruck von Hilflosigkeit entgegenwirken. Dazu gehören auch Berichte über Gerichtsurteile, in denen Diskriminierungen von Muslimen in Bewerbungsgesprächen oder bei der Wohnungssuche verurteilt wurden. Davon gibt es mittlerweile einige, an Diskussionen unter Jugendlichen gehen sie allerdings oft vorüber, weshalb sie gerade in der Bildungsarbeit breiteren Raum bekommen sollten.
Auch im Zusammenhang mit politischen Themen wird deutlich, wie wichtig die Begegnung mit anderen Positionen und Einschätzungen sein kann. So entwickeln sich auch auf Facebook immer wieder Diskussionen darüber, ob Muslime sich an Wahlen beteiligen dürfen. „Das Wählen in der Demokratie ist im Islam definitiv verboten,“ hieß es in einem Beitrag anlässlich der Wahlen in der Türkei. Oft beziehen sich solche Fragen unmittelbar auf die Lebenswelt von Jugendlichen: „Darf ich als Muslim an der Betriebsratswahl teilnehmen?“
Auch hier geht es weniger um theologische Diskussionen als um den Hinweis auf Positionen von anderen Muslimen, die sich als Muslime und als Bürger für eine politische Teilhabe aussprechen. Das können muslimische Persönlichkeiten sein, die wie eine Gruppe von Berliner Imamen öffentlich zur Teilnahme an den Senatswahlen aufrief. „Als Bürger unserer Hauptstadt genießen wir das Recht, Personen zu wählen, die uns repräsentieren und Entscheidungen treffen, die unser tägliches Leben berühren“, schrieben sie in einem offenen Brief. „Durch die Wahl können wir Einfluss nehmen auf die politische Gestaltung unserer Stadt. Dabei geht es nicht nur um Belange, die uns als Muslime direkt betreffen. Jede und jeder von uns hat auch seine Vorstellungen bezüglich Bildung, Gesundheit, Arbeitsmarkt oder Umweltschutz. Damit die politischen Interessen und Ziele auch Realität werden können, ermutigen wir, die Berliner Imame, unsere muslimischen Geschwister, an den bevorstehenden Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus teilzunehmen.” Oder um Beispiele von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich – wie Kübra Gümüsay, Initiatorin der antirassistischen Kampagne #Schauhin, oder Youssef Adlah, dem Gründer der Poetry-Slam-Gruppe I,slam – auch als Muslime an politischen Diskussionen beteiligen. Für die meisten Muslime ist dies selbstverständlich, in vielen Online-Diskussionen kommen diese Stimmen allerdings oft nicht zu Wort.
Politische Bildung in sozialen Medien funktioniert insofern kaum anders als in persönlichen Begegnungen. Dennoch lassen sich Unterschiede ausmachen, die durch das Online-Format bedingt sind. So sind es hier vor allem Karikaturen, Memes, Fotos und kurze Videos, über die sich Diskussionen anstoßen und Interesse wecken lassen, während längere Kommentare und Verweise auf längere Hintergrundinformationen oft untergehen. Nicht zufällig sind die Cartoons der Zeichnerin Soufeina Hamed alias Tuffix auch auf Facebook immer wieder anzutreffen. Mit Zeichnungen aus ihrem Alltag als Muslimin in Deutschland trifft sie die Erfahrungen vieler junger Muslime und regt damit dazu an, selbst Position zu beziehen und eigene Interessen zu vertreten.
Der Erfolg dieser Zeichnungen macht auch deutlich, wie sehr die Grenzen zwischen Online- und Offline-Welten mittlerweile verschwimmen. Bei den Beiträgen in sozialen Medien handelt es sich immer weniger um Gespräche in „virtuelle Welten“, sondern um sehr reale Auseinandersetzungen mit Erfahrungen in Schule, Freizeit oder Berufsleben. Für die Bildungsarbeit bedeutet dies, verstärkt auch soziale Medien wie Facebook, Youtube oder Instagram für die politische Bildung mit Jugendlichen zu erschließen.
Der Artikel ist auf qantara.de erschienen. Wir danken der Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.