Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen im Lehrer*innenzimmer – Gespräch mit Prof. Dr. Karim Fereidooni
2. Februar 2023 | Diversität und Diskriminierung, Religion und Religiosität

Symbolbild Lehrer an der Tafel. Bild: fauxels/Pexels

Nicht nur Schüler*innen erleben Rassismus, sondern auch Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte. Wie diese Erfahrungen aussehen können und warum einige Lehrer*innen diese nicht als rassistisch benennen (wollen), erforschte der Bildungswissenschaftler Prof. Dr. Karim Fereidooni in seiner Studie zu Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen im Schulwesen. In diesem Gespräch erläutert er verschiedene Diskriminierungsmechanismen anhand von Beispielen aus seiner Forschung. Ausführlicher geht er dabei auf die Rolle von antimuslimischem Rassismus in den Ausgrenzungserfahrungen (angehender) Lehrkräfte ein. Fereidooni macht deutlich: Rassismuskritik muss als Professionskompetenz im Lehrer*innenberuf anerkannt werden.


Transkription der Folge

Dalal Mahra:

Herzlich willkommen zu unserem ufuq.de Webtalk, heute zum Thema „Rassismus und Diskriminierungserfahrungen im Lehrer*innenzimmer“. Zu Gast ist Prof. Dr. Karim Fereidooni. Rassismus in der Schule erleben nicht nur Schüler*innen, sondern auch Lehrer*innen mit Migrationsgeschichte. Prof. Dr. Karim Fereidooni ist Juniorprofessor für Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung an der Ruhr-Universität Bochum und beschäftigt sich unter anderem mit Rassismuskritik im Bildungssystem. Fereidooni hat selbst in seiner Zeit als Referendar Rassismus erlebt und sich damit in seiner Dissertation beschäftigt. Er wird uns aus seiner Forschung zu Ungleicheitspraxen im Schulkontext berichten und Anregungen für eine diversitätssensible Lehrer*innenausbildung geben. Herzlich willkommen, Karim.

Karim Fereidooni:

Dankeschön für die Einladung. Ich freue mich, dabei zu sein.

Dalal Mahra:

Gerne. Danke, dass du dir die Zeit genommen hast. Du hast deine Dissertation geschrieben, du hast viel geforscht und viel gemacht. Wie genau bist du da vorgegangen?

Karim Fereidooni:

Die Vorgehensweise in der Studie zu Rassismuserfahrungen von Referendar*innen und Lehrkräften war folgendermaßen: Ich habe zunächst einmal Interviews geführt und die Literatur gesichtet, die es zu diesem Thema schon gab. Allerdings gab es in Deutschland fast gar nichts dazu. Ich habe im Jahr 2012 mit der Dissertation begonnen, also vor zehn Jahren. Dann bin ich nach London geflogen, war dort in der Bibliothek, habe nach Studien aus Großbritannien, den USA und Kanada gesucht und bin fündig geworden. Da gab es schon einige Studien diesbezüglich.

Dann habe ich mir gedacht, es wäre doch schön, Menschen nicht nur irgendwie zu interviewen, sondern auch mit einem Fragebogen zu befragen und Fragbogen und Interviewaussagen dann miteinander abzugleichen. Ich habe einen Fragebogen entwickelt, den an 159 Referendar*innen und Lehrkräfte mit sogenanntem „Migrationshintergrund“ ausgegeben und sie zu ihren Rassismuserfahrungen im Schulkontext befragt. Aus diesem Pool der 159 Personen habe ich mir zehn Personen rausgenommen und mit ihnen Interviews geführt, und zwar mit fünf, die angegeben haben „Rassismus habe ich noch nie erfahren im Berufskontext Schule und im Studienseminar“ und mit fünf, die angegeben haben „Rassismus habe ich schon häufig erfahren.“ Ich wollte Unterschiede analysieren. Wie ich sonst vorgegangen bin, um meine Studie zu finanzieren: Ich habe mich beworben für ein Promotionsstipendium, nachdem ich das Referendariat absolviert habe. Ich habe das Stipendium glücklicherweise bekommen und hatte die Möglichkeit, dann zu promovieren. Ich war trotzdem auch in der Schule als angestellter Lehrer tätig, habe aber mein Stundendeputat reduziert, war also sowohl in der Schule als auch mit der Doktorarbeit unterwegs und war dann auch Lehrbeauftragter. Das war sozusagen der Werdegang der Dissertation.

Dalal Mahra:

Ich fand es total spannend, dass du genau fünf befragt hast, die gesagt haben: „Wir haben gar keinen Rassismus erfahren.“ Da stelle ich mir die Frage: Brauchen wir das Wissen über Rassismukonzepte, um Rassismus überhaupt erkennen zu können? In deiner Dissertation wird zum Beispiel auch das Othering genannt. Kannst du uns dazu ein Beispiel nennen?

Karim Fereidooni:

Gerne. Also zur ersten Frage: Wir brauchen Konzepte sprachlicher Art und Weise, um Rassismus überhaupt identifizieren zu können, denn sämtliche dieser fünf Personen, die im Fragebogen angegeben haben „Nein, Rassismus hat in meinem Berufskontext Schule und im Studienseminar nie eine Rolle gespielt“, haben mir von Rassismus berichtet. Daraus schließe ich, dass die De-Thematisierungsstrategien, die beispielsweise Astrid Messerschmidt für Deutschland herausgearbeitet hat, also warum es so schwierig ist, in Deutschland über Rassismus zu sprechen, nicht nur für Menschen gelten, die keine Rassismuserfahrungen machen, sondern auch für Menschen, die tagtäglich Rassismuserfahrungen machen, die sie aber nicht als solche einordnen können, weil das Reden über Rassismus erschwert wird, unter anderem durch Skandalisierung wie: „Um Gottes Willen, wir wählen doch Die Grünen seit 20 Jahren, wir können doch gar nicht rassistisch sein.“ Das ist das eine. Mich hat das mit den Rassismuserfahrungen tatsächlich nicht überrascht, weil unterschiedliche andere Studien sich bereits darauf bezogen haben. Mark Terkessidis hat bspw. schon Anfang der 2000er Jahre nachgezeichnet, dass das Sprechen über Rassismus schwierig ist. Mein Forschungsbefund konnte darstellen, dass dieser Fakt auch im Lehrer*innenzimmer vorzufinden ist. Othering heißt, während die eigene Gruppe als ganz besonders fortschrittlich, demokratisch, frauenfreundlich und intelligent wahrgenommen wird, sind „die Anderen“ das negative Gegenteil. Ein Beispiel war, dass zwei Schüler*innen sich im Unterricht Briefe geschrieben haben. Eine der beiden war normalerweise gar nicht im Unterricht dieses Lehrers drin, weil sie einer anderen Schüler*innengruppe angehörte. Also sie war nur eine Stunde bei ihm im Unterricht. Diese Schülerin, die eigentlich nicht die reguläre Schülerin dieses Schwarzen Deutschlehrers war, hat der anderen Schülerin, ihrer Sitznachbarin, geschrieben: „Wo kommt dein Lehrer her?“ Die Antwort lautete nicht irgendwie „aus Berlin“ oder „aus Deutschland“ oder „aus Castrop-Rauxel“, sondern die Antwort lautete „aus Jamaika“. Dann hat ihr wiederum die andere Schülerin geschrieben: „Woher weißt du denn, dass er nicht aus Deutschland kommt, sondern aus Jamaika?“ Darauf antwortete die Schülerin: „Man sieht das an seiner Hautfarbe und daran, wie er Deutsch spricht.“ Das würde ich als klassisches Othering bezeichnen, dass eben die Hautfarbe als Merkmal gilt, dass du nicht „deutsch“ genug bist. Die Schülerin hat schon internalisiert „Deutschsein gleich Weißsein“ oder jedenfalls „So wie du aussiehst, kannst du kein richtiger Deutscher sein, du kannst nicht aus Castrop-Rauxel oder Deutschland, sondern musst aus Jamaika kommen.“ Der zweite Aspekt ist die Sprache. Obwohl der Lehrer gar keinen Akzent hatte, hat die Schülerin ihn sozusagen als sprachlich „anders“ markiert. Es war auch nochmal spannend zu ermitteln, woher das denn eigentlich kommt, denn wir wissen aus unterschiedlichen Studien: Wenn der Körper nicht „deutsch genug“ wahrgenommen wird, nehmen wir Zuhörer*innen Dinge wahr, die gar nicht da sind. Von diesen Zetteln der beiden Schülerinnen wissen wir, weil der Lehrer dann irgendwann nach der dritten Ermahnung den Brief eingesammelt, den Verlauf gelesen und ihn mir geschildert hat.

Dalal Mahra:

Sehr spannend. Was ich auch total interessant fand: Du hattest in einem deiner Vorträge erwähnt, dass es eine Studie aus den USA gibt, wo es um eine Vorlesung einer weißen US-amerikanischen Professorin geht, deren Stimme dann auf eine afroamerikanische Professorin aufgelegt wurde. War das richtig?

Karim Fereidooni:

Die Studie stammt aus dem Jahr 1992 und wurde von Rubin, einem männlichen Professor, durchgeführt. Rubin hat die identische Studierendengruppe zwei Mal gefragt: „Besitzt diese Person einen Akzent, ja oder nein?“ Er hat eine Vorlesung von einer weißen US-Amerikanerin aufzeichnen lassen und beim ersten Mal das Bild einer weißen US-Amerikanerin auf Leinwand projiziert. Die meisten Studierenden haben angegeben: „Nein, diese Person besitzt keinen Akzent.“ Das zweite Mal wurde die identische Vorlesung abgespielt, aber diesmal hat Rubin das Bild verändert. Diesmal hat die identische Studierendengruppe eine Amerikanerin of Colour auf Leinwand gesehen. Der Unterschied zum ersten Mal war statistisch signifikant, dass die Studierenden behauptet haben: „Ja, diese Person besitzt einen Akzent.“ Daraus schließen wir: Wenn der Körper nicht „US-amerikanisch genug“, nicht „deutsch genug“ ist, dann nehmen die Zuhörer*innen Dinge wahr, die faktisch gar nicht da sind. Wenn es zu einer Absprache des Deutschseins kommt, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, auch die fachliche Kompetenz infrage zu stellen. Das konnte ich bspw. auch im Umgang mit Fehlern ermitteln: Es kommt nicht nur darauf an, dass Fehler gemacht werden, sondern auch darauf, wer diese Fehler macht und wer wen wie liest im Schulkontext. Je weiter ein Mensch aus dem Deutschsein herausgeraten ist, desto stärker werden doppelte Standards konstruiert.

Dalal Mahra:

Ein weiteres Interview hast du mit Hakan Yilmaz geführt, da sprichst du von „Neo-Linguizismus“. Was genau meinst du damit?

Karim Fereidooni:

Genau. „Neo-Linguizismus“ meint, dass nicht alle nicht-deutschen Sprachen in der Institution Schule oder unserer Gesellschaft abgewertet werden, sondern nur bestimmte nicht-deutsche Sprachen. Die Sprachen Englisch, Französisch, Latein, am humanistischen Gymnasium vielleicht auch noch Griechisch, werden ja nicht abgewertet. Aber Kurdisch, Türkisch, Russisch, Polnisch oder Ukrainisch schon eher und da konnte ich auch einige Fälle dokumentieren, die ich „Sprachverbote“ und „Sprachhierarchien“ genannt habe. Zwei Lehrkräfte haben sich auf einer nicht-deutschen Sprache im Lehrer*innenzimmer unterhalten, eine dritte Person kam dann rein, hat das gehört und gesagt: „Hört sofort auf, diese Sprache zu sprechen. Ich verstehe das nicht und möchte das nicht. Sprecht gefälligst Deutsch.“ Daraufhin sagte die angesprochene Lehrkraft: „Die spanischen Lehrkräfte sprechen auch manchmal spanisch miteinander, hast du das denn nicht gehört?“ Und dann antwortete sie: „Spanisch ist auch was anderes.“ Das sind diese Hierarchien, die etabliert werden. Nicht alle Sprachen besitzen anscheinend einen Bildungswert für die deutsche Schule. Auch im Lehrer*innenzimmer sind einige Sprachen erwünscht und andere nicht. Mit dieser Studie konnte ich ermitteln, dass diese ganzen Verbote, bspw. auf dem Schulhof eine andere Sprache als Deutsch zu sprechen, auch im Lehrer*innenzimmer vorzufinden sind. Ich möchte damit anregen, zu hinterfragen: Was soll das Ganze? Warum nehmen wir bestimmte Sprachen als legitim, als bildungsgehaltvoll wahr, und andere Sprachen haben gar keinen Bildungsgehalt? Das will ich ein Stück weit versuchen aufzubrechen. Es gibt einen Fall aus Baden-Württemberg, der jüngst auch medial für Furore gesorgt hat. Da hat eine Grundschullehrerin einer Grundschülerin verboten, auf dem Schulhof Türkisch zu sprechen und sie musste deswegen eine Strafarbeit erledigen. Nach zweieinhalb Jahren hat das Gericht geurteilt, dass solche Maßnahmen nicht zulässig sind. Auch für Nordrhein-Westfalen kann ich sagen, dass es nicht zulässig ist, außerhalb des Unterrichts Schüler*innen zu verbieten, eine andere Sprache zu sprechen. Ich würde sogar sagen, innerhalb des Unterrichts ist es auch nicht sinnvoll, Sprachen zu verbieten. Es gehört einfach zur Identität.

Dalal Mahra:

Dankeschön. Wir erleben auch bei ufuq.de in den Workshops oft, dass Lehrkräfte fragen: „Wie ist das denn mit anderen Sprachen in Klassenzimmern oder auf Schulhöfen?“.

Unser Schwerpunkt ist unter anderem antimuslimischer Rassismus. Deswegen die nächste Frage: Welche Rolle spielte antimuslimischer Rassismus im Rahmen deiner Forschung und kannst du uns dazu nochmal ein Beispiel nennen?

Karim Fereidooni:

Ganz viele Beispiele, ja. Antimuslimischer Rassismus spielt da eine Rolle. Ich habe beispielsweise eine kopftuchtragende Frau interviewt, der es verboten war, mit Kopftuch in den Unterricht zu gehen. Sie ist mit dem Auto zur Schule gefahren und auf dem Lehrer*innenparkplatz hat sie dann das Kopftuch getauscht gegen eine Perücke, da sie sonst nicht hätte unterrichten dürfen. Das ist ein klassisches Beispiel dafür. Oder, dass kopftuchtragende Frauen eben gar nicht ins Lehrer*innenzimmer gelassen werden, wenn sie im Praxissemester sind und im Unterricht hospitieren.

Oder dass männliche Lehrkräfte von Kolleg*innen als „Kameltreiber“ oder „Eselstreiber“ dargestellt und bezeichnet werden, dass Schüler*innen sich wundern „Warum sind Sie denn so nett, Herr XY, Sie sind doch Moslem?!“ Also dass muslimische Menschen scheinbar nicht nett sein können, weil Muslimischsein eben mit Grausamkeit und gewaltvoller Persönlichkeitsstruktur verbunden wird.

Vielleicht noch einen Punkt zu antimuslimischem Rassismus. Ich arbeite seit zwei Jahren im „Unabhängigen Expertenkreis Muslimfeindlichkeit“ mit. Horst Seehofer hat uns berufen. Wir waren elf Personen und schreiben gerade an unserem Endbericht. Wir haben ganz viele Studien zum Thema antimuslimischer Rassismus durchführen lassen, also in den sozialen Medien, im Ausstellungswesen, in Museen, bei der Justiz, also beim Richter beispielsweise. Der Bildungsbereich gehörte auch dazu. Ich kann leider nichts zu den Ergebnissen sagen, weil wir uns zu Verschwiegenheit verpflichtet haben, aber dieser Endbericht wird Mitte 2023 veröffentlicht werden und das wird auch der institutionalisierten Rassismusforschung, insbesondere zum Thema antimuslimischer Rassismus, nochmal mehr Ergebnisse präsentieren und hoffentlich auch bei Frau Faeser als Nachfolgerin von Herrn Seehofer dazu beitragen, Handlungsmaßnahmen zu entwickeln, die wir vorgeschlagen haben.

Dalal Mahra:

Vielen Dank für den Hinweis. Du hast im Rahmen deiner Forschungsarbeit viel gelesen und hast gesagt, bestimmte Ergebnisse waren nicht überraschend, z.B., dass die fünf Lehrkräfte oder Referendar*innen, die gesagt haben „Wir haben keinen Rassismus erlebt“, eigentlich doch Rassismus erlebt haben. Welche drei Aha-Momente während deiner Forschung hattest du?

Karim Fereidooni:

Ich hätte nicht gedacht, dass die Unterschiede zwischen dem quantitativen Teil, also dem Fragebogenteil, und dem qualitativen, dem Interviewteil, so unterschiedlich ausfallen. Der überraschendste Befund war tatsächlich, dass auch diejenigen, die angegeben haben, keine Rassismuserfahrungen gemacht zu haben, mir von eklatanten, massiven Rassismuserfahrungen berichteten. Eine Lehrkraft hat erzählt, dass einige Schüler*innen ein paar Mal hintereinander, unabhängig voneinander, zu ihr gesagt haben: „Sch*** Ausländerin, du bist gar keine richtige Lehrerin. Geh‘ dahin zurück, wo du hergekommen bist.“ Auch sie hat nach dem Interview gesagt: „Das ist nicht rassistisch.“ Ich habe sie gefragt, warum nicht, und dann hat sie gesagt: „Die Schüler*innen wurden ja bestraft.“ Das hat mich überrascht.

Es hat mich im Nachgang der Studie noch eine andere Sache überrascht, nämlich, dass ich sehr oft eingeladen werde, den Vortrag zu halten. Ich habe unterschiedliche Vorträge im Angebot, aber das ist der Vortrag, der am besten ankommt. Das überrascht mich. Obwohl die Studie 2016 erschienen ist, ist das Thema nach wie vor so virulent und interessant für die Menschen und besitzt anscheinend so eine Handlungsrelevanz, dass ich wirklich sehr oft, also mindestens viermal im Monat, den Vortrag halte. Das mache ich gerne und wir bleiben ja nicht beim Vortrag stehen, sondern die Menschen, die mich einladen, Schulen, außeruniversitäre Einrichtungen, Universitäten, Zentren für schulpraktische Lehrer*innenbildung, Stiftungen, wollen am Ende im Diskussionsteil immer wissen, was man dagegen tun kann. Das überrascht mich nicht, sondern es freut mich einfach, dass Menschen endlich über Rassismus nachdenken. Nicht alle Menschen, viele machen sich auch keine Gedanken darüber, aber ich glaube, es ist positiv, dass überhaupt solche Forschungen stattfinden, ein Diskurs darüber stattfindet, dass Rassismusforschung wahrgenommen wird. Das war vor 20 Jahren noch nicht der Fall und das freut mich.

Dalal Mahra:

Total spannend auch mit der Person, die du interviewt hast, die trotz der ganzen Erfahrungen nach dem Interview noch gesagt hat: „Nein, das ist kein Rassismus.“ Du hast es ja auch benannt, und zwar sprichst du von „De-Thematisierung als Bewältigungsstrategie“. Vielleicht kannst du dazu noch ein bisschen was sagen und daran anschließend die Frage beantworten, was das für die Bildungsarbeit an Schulen bedeutet?

Karim Fereidooni:

De-Thematisierungsstrategien sind eine mögliche Form, mit Rassismus umzugehen. Ich verpflichte keine Person, ständig gegen Rassismus zu kämpfen. Das ist nicht mein Ansatz. Humor kann ein Ansatz sein. Aushalten kann ein Ansatz sein. Das Referendariat abbrechen kann ein Ansatz sein. Das konnte ich auch dokumentieren, dass eine Lehrkraft mir gesagt hat: „Ich halte das nicht mehr aus. Ich will einfach weg aus diesem Beruf.“ Change Agents, das sind Menschen, die versuchen, mit viel Idealismus gegen Rassismus anzukämpfen, die ihre Schüler*innen vormittags beschulen und sich nachmittags ihre Kolleg*innen vorknöpfen. De-Thematisierung passiert auch aus Unsicherheit: War das jetzt rassistisch oder nicht? Viele wollen es nicht ansprechen, weil sie befürchten, Ärger zu bekommen, wenn sie es ansprechen, und manche weisen sich auch gegenseitig die Schuld zu. Die sagen dann: „Wir müssen uns endlich assimilieren. Frauen dürfen kein Kopftuch tragen, Migrant*innen dürfen keine andere Sprache außer Deutsch im Lehrer*innenzimmer sprechen, dann akzeptieren uns die ‚richtigen‘ Deutschen, also die weißdeutschen Menschen, als vollwertige Gesellschaftsmitglieder.“ Das würde ich Täter-Opfer-Umkehr nennen.

Was heißt das für die Bildungsarbeit an Schulen? Ich bilde ja Politiklehrkräfte aus und war selbst einige Jahre Deutsch- und Politiklehrkraft. Das heißt für uns, dass wir Rassismuskritik als Professionskompetenz in der ersten, zweiten und dritten Phase der Lehrer*innenaus- und -fortbildung anerkennen müssen. Die erste Phase ist die Universität. Wir müssen anerkennen, dass wir in der Ausbildung von Lehrkräften ein Defizit haben. Die Curricula in unterschiedlichen Fächern verlangen eine Thematisierung und Unterrichtsgestaltung zum Thema Rassismus, aber wir geben Lehrkräften sehr wenig an die Hand, um tatsächlich adäquat mit Rassismus umgehen und überhaupt Unterricht zu dem Thema machen zu können. Das heißt für die Bildungsarbeit erstmal: Rassismuskritik als Professionskompetenz in der ersten und zweiten Phase der Lehrer*innenbildung anerkennen.

Ich werde häufig auf Instagram von Referendar*innen angeschrieben: „Herr Fereidooni, nächste Woche sollen wir über das Thema Rassismus reden, aber unser Fachseminarleiter, der uns ausbildet, sagt, er habe keine Ahnung davon. Deswegen sollen wir das übernehmen. Was können wir machen?“ Dann sage ich: „Um Gottes Willen, das ist der falsche Ansatz. Lasst euch nicht dazu verpflichten, etwas zu machen. Derjenige, der dafür Geld bekommt, muss auch einen Plan haben, wie er euch das im Jahr 2022 beibringt.“

Zur dritten Phase: Ich führe ganz viele ein- oder zweitägige Fortbildungen mit ausgebildeten Lehrkräften durch und mache das sehr gerne. Es gibt Kolleg*innen, die sich auf den Weg machen, zum Thema Rassismuskritik weiterzuarbeiten. Gleichzeitig glaube ich, dass wir einfach eine institutionalisierte Rassismusforschung brauchen. Wir brauchen mehr Professuren mit dem Schwerpunkt Rassismuskritik und Lehramtsausbildung. Wir brauchen Professuren, die sich „rassismuskritische Inklusionsforschung“ nennen. Wir brauchen Professuren, die tatsächlich zu diesem Thema arbeiten, und zwar fokussiert, weil das bislang nur peripher geschieht. Das ist ein zartes Pflänzchen, das wächst und gedeiht, aber es ist immer noch ein zartes Pflänzchen. Wir brauchen Gelder, wir brauchen Studien. Die Bundesregierung und die einzelnen Bundesländer müssen uns unterstützen, damit das tatsächlich zu einer grundständigen, rassismuskritischen Ausbildung führt.

Dalal Mahra:

Vielen Dank. Das klang für mich schon wie ein End-Statement. Vielen Dank, dass du gekommen bist, Karim. Es war mir eine Ehre, dich virtuell treffen zu dürfen.

Karim Fereidooni:

Ganz herzlichen Dank. Ich freue mich sehr!

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