Radikalisierungsprävention durch Theaterpädagogik – ein Evaluationsbericht
8. November 2019 | Demokratie und Partizipation, Diversität und Diskriminierung, Geschichte, Biografien und Erinnerung, Jugendkulturen und Soziale Medien

Theaterstücke können, solange Vor- und Nachbereitungen von Lehrkräften getroffen werden, eine effektive Möglichkeit sein, Schüler_innen nachhaltig zu sensibilisieren und Radikalisierung vorzubeugen. Das von Gerburg Maria Müller und Alessandra Ehrlich konzipierte Theaterstück „Jungfrau ohne Paradies“ richtet sich an junge Menschen und thematisiert Islamismus, Liberalität, Gleichberechtigung und die Rolle der Frau. Dr. Melanie Wegel, Professorin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, hat das Projekt wissenschaftlich evaluiert.

Radikalisierung kann in den unterschiedlichsten Bereichen stattfinden. So wird grob differenziert zwischen politischer Radikalisierung, namentlich dem Rechts- und Linksradikalismus und der religiösen Radikalisierung, wobei vor allem der Islam fokussiert wird. In der Präventionslandschaft existieren hierzu unterschiedliche Ansätze. So bestehen Projekte, die versuchen mittels Gegennarrativen einen Diskurs anzuregen, gemeinsame interkulturelle Veranstaltungen, die über das Kennenlernen anderer Kulturen Brücken bauen wollen und zudem gibt es Projekte, die konkret die religiöse Radikalisierung ansprechen, indem sie den Weg von Konvertit_innen und Muslim_innen hinein in die Radikalisierung nachzeichnen um einen kritischen Diskurs anzuregen. Ein solches Projekt ist das Theaterstück „Jungfrau ohne Paradies“, welches speziell für junge Menschen konzipiert wurde und seit mehreren Jahren an Schulen aufgeführt wird.

Die gemeinnützigen Präventionsvereine in der Region Rhein-Neckar „Kommunale Kriminalprävention Rhein-Neckar“, „Sicheres Heidelberg“ und „Sicherheit in Mannheim“ fördern dieses Theaterprojekt, indem eine begrenzte Anzahl von Theateraufführungen mit einem finanziellen Zuschuss unterstützt wird. Es handelt sich hier um ein Theaterprojekt, welches für den Jugendbereich von der Regisseurin Gerburg Maria Müller konzipiert wurde, mit der Zielsetzung, junge Menschen für die Themen Radikalisierung, Liberalisierung sowie die teils konträre Rolle der Frau im Islam und in westlichen Gesellschaften zu sensibilisieren.[1]

Theaterpädagogik und Prävention

Aus der Evaluationsforschung ist bekannt, dass Kriminalprävention vor allem dann wirksam ist, wenn Maßnahmen und Interventionen nicht nur punktuell und zeitlich begrenzt angelegt sind, sondern möglichst frühzeitig und langfristig interveniert wird. Für den Bereich der schulischen Prävention bedeutet dies, dass Themen vertieft werden, Regeln in schulischen Curricula verankert und Projekte längerfristig angelegt sind. Beispielhaft sei hier die Mobbingprävention zu nennen, oder auch Projekte, die die Sozialkompetenz fördern sollen.

Beim hiesigen Projekt, welches im Rahmen einer Begleitevaluation gegen Radikalisierung fokussiert wurde, besteht die Problematik, dass es sich um ein Theaterprojekt handelt, welches in einer Schule, einmalig und lediglich über die Zeitdauer einer Stunde aufgeführt wird. Es stellt sich die Frage: Wie kann hier erreicht werden, dass Effekte nicht verpuffen, das Zielpublikum dennoch sensibilisiert wird und insbesondere durch die Form der Theaterpädagogik dieses Angebot nicht nur als Unterhaltung wahrgenommen wird?

Die Theaterpädagogik ist eine eigenständige Disziplin, die sich zwischen den Bereichen Theater und Pädagogik bewegt. Im theaterpädagogischen Prozess können spezifische Problemfelder angesprochen werden und gezielt, unter Berücksichtigung der jeweiligen Zielgruppe, sensibilisiert werden. Mit den Mitteln der Schauspielkunst werden Botschaften vermittelt, die schon allein durch den Ort der Veranstaltung (Schule) pädagogischen Charakter haben und soziales Lernen initiieren können. Es geht also darum, bestimmte Themen für eine spezifische Zielgruppe mit Elementen, die diese Zielgruppe ansprechen, zu sensibilisieren. Wichtig ist hierbei der Austausch über die Thematik oder zumindest ein Feedback zum Ende der Vorstellung. Für das Theaterprojekt zur Sensibilisierung gegen Radikalisierung waren die Kriterien der Veranstalter die Vor- und Nachbereitung zentraler Themen wie „Islamismus“, „Liberalität“ sowie „Gleichberechtigung“ und die Rolle der Frau durch die Schulen. Die Schulen mussten sich verpflichten, eine pädagogische Begleitung der Veranstaltung zu gewährleisten – auch um finanzielle Unterstützung hinsichtlich der Kosten der Aufführung zu erhalten. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass das Projekt nur dann nachhaltig war, indem eine solche Vor- und Nachbereitung geleistet wurde.

Das Theaterprojekt „Jungfrau ohne Paradies“

Paul träumt davon, ein berühmter Rapper zu werden, der Erfolg will sich allerdings nicht einstellen. Er fühlt sich benachteiligt, sucht Halt im islamischen Glauben und radikalisiert sich schnell. Cem, sein bester Freund, hält von dieser extremen Schwarz-Weiß-Weltsicht überhaupt nichts. Johanna, aus bürgerlichem Elternhaus, ist total verliebt in Paul. Aus Rebellion gegen ihre Eltern, deren Fremdenfeindlichkeit sie fassungslos macht, steigert sie sich zunächst in den religiösen Fanatismus hinein. Die konträren individuellen Pläne werden offensichtlich. Woran erkennt man frühzeitig eine Einbahnstraße, und wie findet man zurück auf einen geraden Weg? Über diese Fragen und mehr streiten Cem, Paul und Johanna. Auch von den Zuschauer_innen wird eine Stellungnahme gefordert.[2]

Konzipiert wurde das Theaterstück von Gerburg Maria Müller und Alessandra Ehrlich. Ziel soll es sein, einerseits die Radikalisierung von Jugendlichen nachzuzeichnen und das Publikum dazu zu bringen, über Themen wie Religion, Frauenrolle, Islam und die Zukunft nachzudenken. Das Theaterteam verwendet hier einige Mittel, die Jugendliche ansprechen.

Die Sprache: Es wird bewusst eine junge Sprache gewählt, mit der sich Jugendliche identifizieren können. Vielfach wird hier auch von „Kurz-Deutsch“ gesprochen, indem beispielsweise Artikel bei Hauptwörtern weggelassen werden oder auch Kraftausdrücke eingebaut werden.

Musik und Kleidung: Die Protagonist_innen befassen sich mit Musik, die von der Zielgruppe präferiert wird und die im Verlauf des Stücks auch immer wieder eingespielt wird. Die Schauspieler_innen tragen Kleidung, die der der Zielgruppe entspricht. Bei Johanna wird die Wandlung an der Kleidung am offenkundigsten. Zu Beginn des Stücks trägt sie einen Minirock, zum Ende des Stücks eine Burka.

Dramaturgische Besonderheit: Nicht Cem, der Migrant, radikalisiert sich, sondern sein deutscher Freund Paul. Dies entspricht durchaus der Realität, da viele junge Menschen ohne Migrationshintergrund zum Islam konvertieren und sich dann ggf. auch radikalisieren. Dramaturgisch wird auch die Rolle der Johanna insofern interessant dargestellt, indem sich Johanna als junge deutsche Frau für den Islam begeistert und nicht etwa durch den Partner „Paul“ dazu gezwungen wird, sich zu verschleiern, sondern sie dies aus freien Stücken tut.

Die Evaluation

Die erste Befragung fand vor dem Theaterstück statt. Ziel dieser ersten Befragung war es, mehr über die Adressat_innen des Theaterstücks zu erfahren. Was für Schüler_innen schauen das Theaterstück an, wie denken sie über Gleichberechtigung, Liberalität, Religion? Welche Werte präferieren sie? Zudem wurden Einstellungsfragen gestellt, die eine Bewertung des Attentats auf die Redakteur_innen der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ thematisierten. Weiter wurde eine Einstellungsfrage zu der aktuellen Debatte um die gegenwärtig vielfach diskutierten verbalen Angriffe auf den türkischen Präsidenten Erdogan gestellt, der in einer Satire vom deutschen Satiriker Jan Böhmermann thematisiert wurde. Zudem wurde eine Einstellungsfrage zu den Übergriffen von Männern aus dem arabischen Kulturkreis auf junge Frauen in Deutschland in der Silvesternacht 2015 eingefügt.

Bei der Werteskala von Helmut Klages (hierzu mehr unter Klages/Gensicke 2006), die durch die kriminogenen Werte von Hermann (2003) erweitert wurde, handelt es sich um ein valides Erhebungsinstrument, um individuell reflexive Werte zu messen. Die kriminologische Werteforschung geht davon aus, dass für die Ausprägung von Werten eines Jugendlichen vor allem die sozialstrukturellen Bedingungen, die Prosperität des jeweiligen Landes und der soziale Status der Familie wesentlich sind. Die grundlegenden Werte und damit verbundene Einstellungen (auch) zu „Gut und Böse“, „Recht und Unrecht“, „Konformität und Kriminalität“ sind bei normalem Entwicklungsgang von Kindern geschlechtsunabhängig mit ca. 10 Jahren ausgebildet. Als im Kern stabile individuelle Wertorientierungen bzw. Werthaltungen sind sie um das 15. Lebensjahr ausdifferenziert. Die Variablen, welche liberale Einstellungen messen sollen, stammen aus einer Sekundäranalyse, welche sich mit unterschiedlichen Einstellungen von Migrant_innen in Deutschland, im Herkunftsland und Deutschen befasste. Diese beinhalten die Rolle der Frau, vorehelichen Geschlechtsverkehr sowie die Einstellung zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Zusätzlich wurden als Strukturdaten noch das Geschlecht, Altersgruppen, die Schulart sowie die Religionszugehörigkeit und die praktizierte Religionsausübung erfragt.

Ergebnisse

Die Begleitevaluation wurde als Online-Befragung der teilnehmenden Schüler_innen konzipiert. Es wurden zwei Befragungen durchgeführt, wobei eine prospektiv war, um primär eine Beschreibung der Teilnehmer_innen und deren Einstellungen zu den zentralen Themen, wie Religion und Radikalisierung zu erhalten. Die zweite Befragung war retrospektiv angelegt und befasste sich einerseits mit Verständnisfragen zur Handlung des Theaterstücks, andererseits wurden Fragen zur Vor- und Nachbereitung gestellt.

Insgesamt haben 591 Personen an der Online-Befragung teilgenommen, welche vor dem Besuch des Theaterstücks mit den Schüler_innen stattfand. Hiervon waren 50 % der Schüler männlich und 38 % Schülerinnen weiblich, der Rest hat zum Geschlecht keine Angaben gemacht. Weiter waren 30 % zwischen 13 und 14 Jahre alt, 56 % zwischen 15 und 16 Jahre, und 13 % waren 17 Jahre und älter. Das Theaterstück wurde an einem Berufskolleg aufgeführt und auch an einer Hauptschule. Diese haben jedoch nicht an der Befragung teilgenommen. Der überwiegende Teil der Befragten (67 %) kommt aus der Haupt-/Realschule. Immerhin 27 % der Schüler_innen haben am Gymnasium teilgenommen. Ein weiterer Teil der Befragten hat keine Angaben zur Institution gemacht. Die geringe Teilnahmequote zeigt bereits eine Problematik der Begleitbetreuung. Die Schulleiter_innen und Lehrkräfte wurden nachdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Beteiligung an der Befragung zwingend sei, wobei ein größerer Teil der Lehrkräfte dieser Verpflichtung nicht nachgekommen ist.

Von den teilnehmenden Schüler_innen gehörten rund 52 % der katholischen und evangelischen Kirche an, 14 % sind muslimischen Glaubens, 21 % sind konfessionslos, und der Rest verteilt sich auf weitere Konfessionen oder macht hierzu keine Angaben. Insgesamt beschreiben sich zudem 37 % der Befragten selbst als sehr religiös, wobei hiervon für 27 % auch die Einhaltung religiöser Regeln sehr wichtig ist. Die Fragen zur Religionspraxis wurden weiter vertieft, indem die Schüler_innen gefragt wurden, wie tolerant sie selbst gegenüber anderen Religionen sind.

Ein kleiner Teil der Befragten gibt mit 4,3 % an, dass diese Menschen anderen Glaubens nicht respektieren können, und wiederum geben 4 % an, dass es im Namen Allahs gerechtfertigt sei, Andersgläubige zu bestrafen. Beide zustimmenden Ausprägungen zusammengenommen sind dies rund 8 % aller Befragten. Für 22 % sind die religiösen Regeln wichtiger als die Gesetze eines Landes. Im Anschluss wurde die in den Sozialwissenschaften etablierte Skala zu individuell reflexiven Wertorientierungen von Helmut Klages eingesetzt, die um die kriminogenen Werte von Hermann (2003) modifiziert wurde. Der hier verwendete Datensatz unterliegt zu Recht dem Vorwurf, sehr klein zu sein. Jedoch bietet sich die Möglichkeit, die Gültigkeit der Daten anhand von Vergleichen zu den sogenannten Tübinger Schülerstudien zu prüfen (Kerner et al. 2009, 2011) In diesen zeigte sich anhand eines Samples mit über 2.500 jungen Menschen in unterschiedlichen sozialen Milieus, dass signifikante Unterschiede hinsichtlich Wertorientierungen vorherrschen, sofern man eine Differenzierung entsprechend der Religionszugehörigkeit vornimmt. Bereits in diesen Studien zeigte sich, dass vor allem muslimische Befragte Wertorientierungen wie Nationalstolz und dem Glauben an Allah höchste Priorität einräumen. Diese Einschätzung hat sich in der aktuellen Befragung nochmals verstärkt. Im folgenden Schaubild wird deutlich, dass die muslimischen Befragten der Religion eine nahezu maximale Bedeutung beimessen und auch ihr Leben sehr stark nach den Inhalten der muslimischen Konfession ausrichten.

 

Schaubild 1

 

Das Festhalten an Traditionen, Nationalstolz, der Glaube an Allah und das Leben an religiösen Regeln und Normen auszurichten spielen für die muslimischen Befragten eine zentrale Rolle, wohingegen keine Unterschiede in den übrigen Wertekategorien gefunden werden konnten. Weiter zeigt sich auch, dass für die muslimischen Befragten Traditionen und der Stolz auf das Herkunftsland bedeutend sind.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Zielgruppe des Theaterstücks sich im Alltagsleben durchaus mit Religion befasst und somit gut erreicht werden konnte. Im Vergleich zu vorhergehenden Schülerstudien sind die Daten durchaus aussagekräftig, wenn auch nicht repräsentativ. Um herauszufinden, ob bei den Jugendlichen auch solche anwesend waren, die Meinungen vertreten, welche mit einem westlichen Wertekanon in einem Widerspruch stehen, wurde beispielhaft nach Antwortmöglichkeiten gefragt, welche die Rolle der Frau betreffen. Im Folgenden sollten die Befragten eine Einschätzung darüber geben, wie sie die Situation der Übergriffe junger Männer gegenüber jungen Frauen in der Silvesternacht 2015 beurteilen. Der Kontext in der Silvesternacht wurde vor allem dahingehend sehr kritisch diskutiert, da die Flüchtlingsproblematik und die Integration von über einer Million Menschen in der Presse das Tagesgeschehen bestimmte und die Aggressoren in der Silvesternacht junge Männer mit Migrationsgeschichte waren.

Schaubild 2

 

Ein nicht unerheblicher Teil der Befragten (12,6 %), war der Meinung, dass die Frauen selbst schuld an den Übergriffen waren, und 13,8 % haben die Ernsthaftigkeit der Thematik nicht gesehen und waren der Meinung, dass die Übergriffe in den Zeitungen übertrieben dargestellt wurde. Hier scheint das Rechts- oder Unrechtsempfinden der Befragten nicht einheitlich zu sein, wobei bei der Aussage, dass die Frauen selbst schuld waren, diese Aussage in einem eindeutigen Zusammenhang zur muslimischen Konfession stehen (.214).[3] Gleiches gilt für die Aussage zu der Satire von Jan Böhmermann, der den türkischen Präsidenten Erdogan, zumindest nach Meinung eines Teils der Gesellschaft, beleidigt hat. Hier finden sich wiederum signifikante Zusammenhänge zwischen der muslimischen Konfession der Befragten und der Aussage „die Ehre des Präsidenten und die eines ganzen Landes wurde verletzt“ (.188**), Meinungsfreiheit ist ein wichtiges Grundrecht (-.199), hier haben vor allem diejenigen Schüler_innen die Bedeutung der Meinungsfreiheit betont, die nicht der muslimischen Konfession angehörten, und die Antwortmöglichkeit „das ist eine Beleidigung und geht gar nicht“ (.239)[4], diese wurde wiederum verstärkt von den muslimischen Befragten präferiert.

Die Rolle der Frau, deren Selbstbestimmung und auch die Verschleierung waren ebenfalls zentrale Themen des Theaterstücks. In den Medien wird die Verschleierung von muslimischen Frauen als Unterdrückung interpretiert, Frauen würden fremdbestimmt. Im Theaterstück wurde der Wandel einer jungen deutschen Frau dargestellt, die zum Islam konvertiert und an der Verschleierung Gefallen findet. Die Schüler hatten mit dieser dramaturgischen Feinheit Verständnisprobleme. Der Hauptdarsteller, der sich radikalisiert, wurde hingegen mit seinen Ängsten und Sorgen gut verstanden. Der dritte Protagonist ist ein junger Muslim, der versucht, seinen Freund von den radikalen Seiten des Islam anzubringen. Das Theaterstück beinhaltet somit viele Komponenten und auch vielfältige Möglichkeiten der Nachbereitung, namentlich zu den Themen Radikalisierung, Islamismus und Fragen zu der Rolle der Frau im Islam.

Ein Teil der Befragten kann als sogenannte religiöse Hardliner bezeichnet werden, indem diese angeben, dass sie Menschen, die einen anderen Glauben haben als sie selbst, nicht respektieren können und diese im Namen Gottes/Allahs auch bestraft werden dürfen. Weiter zeigten sich signifikante Unterschiede, differenziert nach der Konfession, indem nach vorehelichem Geschlechtsverkehr und der Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Ehe gefragt wurde. Hier zeigt sich wiederum die muslimische Konfessionszugehörigkeit als erklärende Variable (Stroezel et al. 2017). Der voreheliche Geschlechtsverkehr von Frauen wurde beispielhaft abgelehnt, wobei dies bei den Männern eher toleriert wurde. Andererseits waren die muslimischen Befragten vor allem der Meinung, dass Mädchen gegenüber ihren Vätern Gehorsam zeigen sollten. Auch waren rund 12,6 % der Befragten der Ansicht, dass Mädchen, die sich zu freizügig kleiden, selbst schuld sind, wenn es zu Übergriffen durch Männer kommt. Insgesamt gesehen gibt es eine (kleine) Gruppe von Personen, die ein eher traditionelles Rollenverständnis präferiert und für die Religion eine zentrale Rolle im Leben einnimmt. Die erklärende Variable ist hier die muslimische Religionszugehörigkeit (Stroezel/Wegel/Kerner 2018).

Nachbereitung

Die Aufgabe und auch Verpflichtung der Schule bestand darin, eine Nachbereitung des Stücks zu gewährleisten. Der überwiegende Anteil der Schüler fand das Stück sehr gut (30,9 %) oder gut (41,5 %). Und rund 79 % der Befragten fanden das Stück gut verständlich. Wobei allerdings nur 54 % angeben, sich für das Thema Islam zu interessieren.

Schaubild 3

 

Im weiteren Verlauf wurden auch Verständnisfragen zu den drei Protagonist_innen des Stücks gestellt, wobei deutlich wurde, dass vor allem die Rolle der beiden männlichen Darsteller klar wurden und die Schüler_innen verstanden haben, dass sich einer der Akteure radikalisiert hat und der andere ihn davon überzeugen wollte, dass diese radikalen Einstellungen nichts mit dem Islam zu tun haben. Probleme hatten die Befragten mit der Rolle der weiblichen Hauptdarstellerin. Deren Radikalisierung und Begeisterung für den Islam – auch aus Liebe zu ihrem Freund, der sich selbst zunehmend radikalisiert – konnten viele nicht nachvollziehen. Die Rolle der Johanna wurde zwischenzeitlich dramaturgisch adaptiert.

Zentral für das Verständnis war jedoch vor allem die Nachbereitung, die – so vorgesehen – durch den_die Lehrer_in im Unterricht stattfinden sollte. Aufgabe sollte es sein, die zentralen Inhalte wie Radikalisierung, Frauenrolle und Frauenbild mit den Schülern nochmals zu reflektieren. Die folgende Abbildung zeigt, dass mit 45 % der Schüler_innen keine Nachbereitung vorgenommen wurde.

Schaubild 4

 

Im Folgenden wurden Korrelationen berechnet, welche zeigten, dass Schüler_innen nur dann mit ihren Eltern im Nachhinein über das Stück gesprochen haben, wenn das Theaterstück auch im Unterricht nachbereitet wurde (.176**)[5] oder wenn Themen wie Radikalisierung, Gleichberechtigung und Geschlechterrollen im Unterricht generell regelmäßig thematisiert wurden (**.198). Ein kleiner Teil der Schüler_innen konnte im Nachgang zu der Aufführung noch selbst an einem Rollenspiel teilnehmen, hier zeigte sich der größte Effekt (**.283), jedoch konnte dies in den wenigsten Klassen umgesetzt werden und dürfte auch zukünftig nur sehr schwer umsetzbar sein, da hierzu extra eine Gruppe von Student_innen der Sozialen Arbeit in die Schule kam, um mit den Schüler_innen Rollenspiele zur Thematik durchzunehmen. Diejenigen Schüler_innen, die eine Nachbereitung erfahren haben, haben folglich auch zu Hause mit ihren Eltern und auch mit ihren Freund_innen über die Thematik und das Theaterstück diskutiert. Bei den Schüler_innen, die keinerlei Nachbereitung erfahren haben, wurde in der Freizeit, weder mit den Eltern noch mit den Freund_innen über das Theaterstück gesprochen.

Zumindest zeigen diese Zusammenhänge, dass sich infolge einer Nachbereitung die Thematik aus dem schulischen Kontext hinausbewegt und sich die Schüler_innen mit den zentralen Fragestellungen auch noch im Nachgang befassen, was als Sensibilisierung verstanden werden könnte, das heißt die Schüler_innen haben sich mit einer Thematik weitergehend befasst und auseinandergesetzt.

Fazit

Begleitend zum Unterrichts- und auch zum Erziehungsauftrag in Schulen kann das Theaterprojekt „Jungfrau ohne Paradies“ durchaus einen Beitrag zur Sensibilisierung von Jugendlichen leisten. Jedoch zeigt sich auch, dass dies nur dann nachhaltig geschieht, sofern eine Begleitung, insbesondere eine Nachbereitung, erfolgt. Die Themen wie Radikalisierung, Islamismus und auch die Rolle der muslimischen Frau in der westlichen Gesellschaft sind Themen, die sich in die unterschiedlichsten Schulfächer integrieren lassen. Denkbar wären zudem Projektwochen oder Projekte, die interkulturelle Begegnungen betreffen. Die ergänzenden Möglichkeiten hierzu sind vielfältig. So hat ProPK[6] das Medienpaket „Mitreden“ herausgegeben, welches anhand eines Films und eines pädagogischen Begleitheftes Lehrkräfte unterstützen kann, mit Schüler_innen zur Thematik der Radikalisierung zu arbeiten. Weiter existieren Themenhefte zu Jugendkulturen und Islamismus.[7] Die Radikalisierung von jungen Menschen, nicht nur zum Islamismus auch zu Rechts- und Linksextremismus, wird auch zukünftig ein gesellschaftliches Thema bleiben und sollte – auch und vor allem – zum Schutz der Jugendlichen ein zentraler Bestandteil in der (schulischen) Präventionsarbeit sein.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Gesamtband „Gewalt und Radikalität“ (Seite 387ff.), in dem sich ausgewählte Beiträge zum 23. Deutschen Präventionstages befinden. Wir danken der Autorin Dr. Melanie Wegel für ihre Erlaubnis, den Beitrag hier zu veröffentlichen.


Anmerkungen

[1] Jungfrau ohne Paradies: Online unter: http://www.modul100.de/1031/files/20160329221909JungfrauohneParadiesaktuellstesInfo!pdf (pdf).

[2] Übernommen aus: http://www.d-hof.de/theaterstueck-jungfrau-ohne-paradies/

[3] P<0,01

[4] Der Korrelationskoeffizient (auch: Korrelationswert) ist ein dimensionsloses Maß für den Grad des linearen Zusammenhangs zwischen zwei intervallskalierten Merkmalen.

[5] Korrelation nach Pearson. **: Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.

[6] Programm Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes. http://www.polizei-beratung.de/medienangebot/medienangebot-details/detail/200.html.7

[7] Müller, J./ Nordbruch G./Seidel, E./Tataroglu, B. (2010): Jugendkulturen zwischen Islam und Islamismus. Bundeskoordination Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage (Hg.)


Literatur

Hermann, D. (2003). Werte und Kriminalität: Konzeption einer allgemeinen Kriminalitätstheorie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.

Kerner, H. J./Stroezel, H./Wegel, M. (2009). Erziehungsstile, Wertemilieus und jugendlicher Drogenkonsum in unterschiedlichen Schülermilieus. In: Plywaczewski, E. (Hg.) : Aktuelle Probleme des Strafrechts und der Kriminologie. Bialystok, S. 247-270.

Klages, H./Gensicke, T. (2006). Wertewandel und Big-Five-Dimensionen. In: Siegfried Schumann (Hg.): Persönlichkeit. Eine vergessene Größe der empirischen Sozialforschung. VS, Wiesbaden, S. 279–200.

Stroezel, H./Wegel, M./Kerner, H. J.(2018). Wertorientierungen bei Jugendlichen – ein Prädiktor für Problemverhalten? In: Hermann, D./Pöge, A. (Hg.): Handbuch Kriminalsoziologie. Nomos, Baden-Baden, S. 185-200.

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