Interview: Racial Profiling als Thema für den Unterricht
7. Juni 2022 | Diversität und Diskriminierung

Die Lehrerin Darlene Buxinski hat gemeinsam mit Kolleg*innen ein Unterrichtskonzept zum Thema Racial Profiling entwickelt und erprobt. Im Interview berichtet sie von ihren Erfahrungen und gibt Tipps zur Umsetzung. Denn sie ist der Ansicht: Das Unterrichtsthema Racial Profiling eignet sich sehr gut für die Entwicklung unterschiedlicher Kompetenzen bei Schüler*innen beim Werdegang zu mündigen Bürger*innen einer demokratischen Gesellschaft.

ufuq.de:

Liebe Frau Buxinski, warum kann es eine gute Idee sein, Racial Profiling im Unterricht zu thematisieren?

Darlene Buxinski:

Aus meiner Sicht eignet sich das Thema sehr gut, um es im Rahmen des Faches Sozialwissenschaften mit Schüler*innen zu thematisieren. Das übergeordnete Ziel des Faches ist es, die Schüler*innen zu mündigen Bürger*innen zu erziehen, damit sie durch eine selbstständige Urteilsbildung am gesellschaftlichen Leben partizipieren können. In Nordrhein-Westfalen, wo ich Lehrerin bin, werden in den Rahmenvorgaben zur politischen Bildung drei Kompetenzen formuliert, die mit den Schüler*innen anzustreben sind: 1. Politische Urteilskompetenz, um zu einer selbstständigen und begründeten Beurteilung eines politischen Ereignisses, eines Problems und einer Kontroverse zu gelangen sowie das daran anknüpfende notwendige Verständnis, soziale und ökonomische Zusammenhänge zu verstehen; 2. Politische Handlungskompetenz, um aktiv am politischen Geschehen zu partizipieren; 3. Methodische Kompetenzen, die benötigt werden, um sich in den Themen der Politik orientieren und organisieren zu können. Vor dem Hintergrund des in den 1960er Jahren im Bildungsbereich vollzogenen Paradigmenwechsels von einer Stoff- zu einer Kompetenzorientierung wird ein kompetenzbasiertes Bildungsverständnis heutzutage somit auch im sozialwissenschaftlichen Unterricht vorausgesetzt. Am Thema Racial Profiling lässt sich sehr gut mit Schülerinnen und Schülern an diesen unterschiedlichen Kompetenzen arbeiten.

ufuq.de:

Können Sie uns genauer erklären, was Racial Profiling bedeutet?

Darlene Buxinski:

Als Racial Profiling wird eine Praxis verstanden, bei der Personen aufgrund phänotypischer Eigenschaften wie der äußeren Erscheinung oder der vermuteten Zugehörigkeit zu einer religiösen oder ethnischen Gruppe in den Fokus von polizeilichen Maßnahmen geraten. Demzufolge werden bei dieser Praxis nicht objektive Beweise oder das Verhalten der entsprechenden Personen als Verdachtsmomente berücksichtigt, sondern verallgemeinernde Kriterien wie Religion, ethnische Zugehörigkeit oder die nationale Herkunft einer Person. Oft wird auch synonym oder alternativ von „Ethnic Profiling“ gesprochen. Ich würde tatsächlich eher von „Racist Profiling“ sprechen, da die Bezeichnung „Racial“ im Grunde genommen voraussetzt, dass es ‚Rassen’ gibt, in welche Menschen aufgrund scheinbar objektiver Kriterien eingeteilt werden können. Die polizeiliche Praxis des Racial Profiling wird überwiegend von Polizei-, Zoll-, Sicherheits- und Einwanderungsbeamt*innen ausgeübt.

ufuq.de:

Die Bundesregierung bestreitet, dass es in Deutschland eine Praxis des Racial Profiling in der Bundespolizei gibt. Wie sehen Sie das?

Darlene Buxinski:

In der Wissenschaft wird der Terminus Racial Profiling recht einheitlich definiert. Allerdings hat die Politik ihre eigene Definition von Racial Profiling. Im Jahr 2013 stellten die Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke, Heidrun Dittrich, Annette Groth sowie weitere Abgeordnete der Fraktion DIE LINKE eine kleine Anfrage an die damalige Bundesregierung, bestehend aus CDU/CSU und FDP, in Bezug auf die von der Bundespolizei ausgeübte Praxis des Racial Profiling (vgl. Deutscher Bundestag 2013: 3). Aus der Antwort der Bundesregierung wird ersichtlich, dass im politischen Bereich ein anderes Verständnis darüber vorherrscht, wie Racial oder Ethnic Profiling definiert wird. Die damalige Bundesregierung lässt die beiden Termini nur gelten, wenn eine verdachtsunabhängige Kontrolle allein aufgrund der Hautfarbe der überprüften Person erfolgt. Derartige Vorgehensweisen seien mit dem geltenden deutschen Recht unvereinbar und würden von der Bundespolizei auch nicht angewandt (vgl. ebd.: 2). Das folgende Beispiel illustriert den Gedankengang der damaligen Bundesregierung ein wenig: Wenn ein Bahnreisender mit einer dunklen Hautfarbe, der abgetragene Kleidung trägt und ein größeres Gepäckstück bei sich führt, einen Bundespolizisten oder eine Bundespolizistin ansieht und verlegen zur Seite blickt, stellen all diese Faktoren aus Sicht der Regierung gewichtige Verdachtsmomente dar. Nach dieser Lesart wäre die Hautfarbe nicht mehr das ausschlaggebende Kriterium für eine Kontrolle. Ergo wäre diese Kontrolle auch kein Racial Profiling. Die Juristen Hendrik Cremer und David Harris  (vgl. Cremer 2013: 26; Harris 2003: 11) sind sich dagegen einig, dass auch dann von Racial Profiling gesprochen werden muss, wenn die qua Hautfarbe zugeschriebene Herkunft als eines von mehreren Kriterien angeführt wird, um eine polizeiliche Ermittlungsmaßnahme zu legitimieren. Sie sprechen von einer Grauzone zwischen einem zulässigen Criminal Profiling und einem unzulässigen Racial Profiling, auch mit Blick auf die Frage, ob ein größeres Gepäckstück und abgetragene Kleidung auch bei einer als weiß wahrgenommenen Person Verdacht erregen würde.  Die 2021 abgewählte Bundesregierung (CDU/CSU und SPD) hat im Grunde genommen die Argumentationsweise der damaligen Bundesregierung (CDU/CSU und FDP) übernommen (vgl. Deutscher Bundestag 2021).

ufuq.de:

Hat unsere Polizei ein Rassismusproblem?

Darlene Buxinski:

Unser ehemaliger Innenminister Horst Seehofer hat sich bis vor kurzem vehement dagegen gewehrt, eine Studie zum Thema Rassismus in der Polizei zu unterstützen. Ich kann das überhaupt nicht nachvollziehen. Das Image der Polizei als „Freund und Helfer“ bröckelt immer weiter. Niemand kann mehr abstreiten, dass unsere Polizei ein Rassismusproblem hat. Neben den Vorwürfen des Racial Profiling gibt es ja auch noch das Problem, dass immer häufiger rechte Netzwerke bei der Polizei auffliegen, die dann meist als Einzelfälle abgetan werden. Zudem haben die Ermittlungen im NSU-Komplex bereits vor 20 Jahren gezeigt, dass Teile des Exekutivorganes ein Problem mit Rassismus haben. Diese Themen betreffen mich auch persönlich und ich kann es einfach nicht nachvollziehen, wie die Politik sich gegen eine Studie wehren kann, die diese Probleme untersucht.

ufuq.de:

Inwiefern betrifft es Sie persönlich?

Darlene Buxinski:

Ich bin eine weiße Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland. Somit bin ich Teil der weißen Mehrheitsbevölkerung. Mit weiß ist nicht die Farbe der Haut eines Menschen gemeint, sondern die Positionierung und die damit einhergehende soziale Zuschreibung als weiß in einer Gesellschaft, die rassistisch strukturiert ist. Weiße Menschen nehmen einen privilegierten Platz innerhalb der Gesellschaft ein. Jedes Individuum besitzt rassistisches Wissen, das nicht qua Geburt, sondern qua Sozialisation erworben wird. Somit besitze auch ich rassistisches Wissen. Seitdem ich diese Zusammenhänge verstanden habe, versuche ich, rassismuskritisches Wissen proaktiv zu erwerben, da es auch zu der professionellen Selbstkompetenz einer angehenden Lehrerin wie mir gehören sollte. Von der polizeilichen Praxis des Racial Profiling sind vor allem Menschen of Color betroffen, weshalb es unwahrscheinlich erscheint, dass ich je von dieser Praxis betroffen sein werde. Das ist mein gesellschaftliches Privileg. Die Polizei ist ein zentraler Akteur der inneren Sicherheit und hat unter anderem den Auftrag, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Racial Profiling führt aber zu einem Versagen der Polizei als Institution, da anscheinend nicht für alle Menschen die gleichen Rechte gelten. Es darf nicht sein, dass eine staatliche Institution wie die Polizei eine Praxis ausübt, die in all ihren Zügen gegen das Grundgesetz spricht.

ufuq.de:

Gibt es denn aus Ihrer Sicht Umstände, unter denen selektive Personenkontrollen, die auf äußerlichen Merkmalen beruhen, legitim sind?

Darlene Buxinski:

Ja, aber nur in ganz begrenzten Fällen. Dabei denke ich beispielsweise an eine Straftat, bei der die Täter*innen flüchtig sind. Liegt ein ganz konkretes Phantombild vor, das neben den körperlichen Merkmalen (Haarfarbe, Augenfarbe, Größe, Körperbau und ähnliches) auch hervorhebt, welche Kleidung beispielsweise getragen wurde, oder ob der/die Täter*in bestimmte Tätowierungen hat, ist es meiner Meinung nach gerechtfertigt, wenn die Beamt*innen Personen kontrollieren, die eben diesem konkreten Phantombild entsprechen. Basiert die Täterbeschreibung dagegen nur auf phänotypischen Merkmalen, werden bestimmte Personengruppen pauschal verdächtigt. In diesem Fall wäre es aus meiner Sicht wieder Racial Profiling.

ufuq.de:

Sie schlagen vor, das Thema Racial Profiling im Unterricht mit Jugendlichen zu bearbeiten. Auf welche Weise kann das Thema behandelt werden?

Darlene Buxinski:

Ich habe gemeinsam mit Kolleg*innen eine Unterrichtsreihe zum Thema entwickelt und erprobt (vgl. Buxinski 2020), diese Erfahrungen würde ich gerne weitergeben. Ich würde vorschlagen, sich als Lehrkraft am fachdidaktischen Prinzip der Problemorientierung zu orientieren. In der sozialwissenschaftlichen Didaktik gibt es unterschiedliche fachdidaktische Prinzipien. Beispielsweise unterscheidet man zwischen der Konfliktorientierung, dem Fallprinzip oder eben der Problemorientierung. Als Lehrer*in muss man sich darüber im Klaren sein, dass jeder Ansatz eine andere Akzentuierung hat, verschiedene Wahrnehmungen betont und unterschiedliche Lernwege eröffnet, wobei alle Ansätze politisch relevante Lernvorgänge ermöglichen. Es macht zum Beispiel einen Unterschied, ob die Thematik des Racial Profiling als Problem oder als Fall einer betroffenen Person bearbeitet wird. Wir haben uns damals für die Problemorientierung mit der zugehörigen Methode der Problemstudie entschieden, da durch diese Methode der Inhalt des Politischen fokussiert wird. Das politische System in seiner Dimension als policy wird somit betrachtet.

ufuq.de:

Können Sie die Methode der Problemstudie etwas genauer beschreiben? Was macht sie aus?

Darlene Buxinski:

Wichtig ist, dass die Schüler*innen die polizeiliche Praxis des Racial Profiling als Problem definieren und wahrnehmen. Die Feststellung eines Problems ist grundsätzlich ein sozialer Prozess, da Probleme weder objektiv gegeben noch von allen Beteiligten gleichermaßen (als Probleme) identifiziert werden. Sie werden vielmehr kollektiv definiert und damit (auch) konstruiert. Ein Problem definiert sich explizit als Zustand oder Ablauf, mit dem Menschen nicht einverstanden sind und für den sie eine Änderung als notwendig erachten. Ferner stellen soziale Probleme immer Schwierigkeiten des Zusammenlebens von Menschen dar und fordern die Politik zum Reagieren auf. Die Merkmale des politischen Problems sind dabei zum einen die Dringlichkeit, die die politischen Akteur*innen dahingehend zum Handeln auffordert, Lösungswege zur Bewältigung des Problems zu erarbeiten. Hier knüpft die folgende Frage an: Was kann ich als politischer Akteur dazu beitragen, dass die rassistische Polizeipraxis des Racial Profiling nicht zur Anwendung kommt? Zum anderen zeichnet sich ein politisches Problem durch die Ungewissheit aus, aufgrund der Tatsache, dass neue (politische) Lösungswege durch das Problem erforderlich werden (vgl. Reinhardt 2016: 93 ff.). Ein Vergleich mit der fachwissenschaftlichen Herleitung zeigt, dass sowohl das Merkmal der Dringlichkeit als auch das Merkmal der Ungewissheit gegeben sind. Zudem spielen die Aspekte der Betroffenheit und der Bedeutsamkeit eine zentrale Rolle. Es muss ein subjektiver Bezug (Betroffenheit) zum objektiv wichtigen Problem (Bedeutsamkeit) hergestellt werden (ebd.: 96), damit die Lebenswelt der Lernenden berührt wird. Alle in der BRD lebenden Personen sind von Rassismus betroffen. Diese Betroffenheit unterscheidet sich jedoch in qualitativ verschiedener Art und Weise. Allerdings muss die Auseinandersetzung mit Rassismus auf gesamtgesellschaftlicher Ebene erfolgen. Die Lernenden sollen sich daher in die Situation der Betroffenen hineinversetzen, wodurch ein subjektiver Bezug zum objektiv bedeutenden Problem der rassistischen und rechtswidrigen Praxis des Racial Profiling hergestellt wird.

ufuq.de:

Wie kann das konkret im Unterricht aussehen?

Darlene Buxinski:

Folgende Schrittfolge kann im Unterricht als Orientierung dienen:

1. Definition: Worin besteht das Problem? Hier kann der Fall einer betroffenen Person als Ausgangspunkt der weiteren Betrachtung herangezogen werden. Als ich gemeinsam mit Kolleg*innen das Unterrichtskonzept entwickelt und erprobt habe, haben wir den Fall des Bochumers Ferdinand G. als Aufhänger benutzt, um mit den Schüler*innen gemeinsam das Problem zu definieren. Die Schüler*innen sollten zunächst überlegen, was Rassismus für sie bedeutet. Ausgehend von diesen Überlegungen haben wir uns gemeinsam Situationen angeschaut, in denen Menschen Rassismuserfahrungen machen. Die Schüler*innen haben gemeinsam überlegt, was schwerwiegender ist: eine polizeiliche Praxis, die Menschen aufgrund phänotypischer Merkmale unter Generalverdacht stellt oder beispielsweise der verweigerte Diskobesuch für Menschen of Color. Dadurch setzt man mit den Schüler*innen Schwerpunkte und kann gemeinsam Fragen definieren, die geklärt werden müssen, um sich ein multiperspektivisches Urteil bilden zu können. Es ist wichtig, in dieser Phase die Spontanurteile der Schüler*innen zu sichten und zu sichern, damit am Ende der Unterrichtsreihe darauf zurückgegriffen werden kann.

2. Ursachen: Wie ist das Problem entstanden? In dieser Phase ist es wichtig, die Ursachen für das Problem zu ergründen. Eine erste Phase kann und sollte sich mit den definitorischen Grundlagen und den übergeordneten Ursachen auseinandersetzen. Im Zentrum standen bei uns damals die Begriffe Rassismus, Racial Profiling, Alltagsrassismus und Individueller Rassismus. Die Schüler*innen erarbeiten sich diese Begriffe im Rahmen eines Gruppenpuzzles, damit eine gemeinsame Arbeitsgrundlage geschaffen wird. In einem nächsten Schritt beschäftigen sie sich mit konkreten Rassismusvorwürfen gegen Polizist*innen. Welche Erklärungen gibt es dafür, dass man einigen Polizist*innen Rassismus vorwirft? Es ist sinnvoll, die Diskussion mit Theorie zu unterfüttern, die natürlich schüler*innenorientiert aufbereitet werden muss. Ein zentraler Begriff ist hier zum Beispiel die sogenannte Cop Culture, die von Rafael Behr erforscht wurde. Ich glaube, dass es wichtig für Schüler*innen ist, diese Wirkmechanismen zu verstehen, da man sonst im luftleeren Raum arbeiten würde.

3. Interessen und 4. Lösungen: Wessen Interessen werden berührt? In dieser Phase geht es darum, dass die Schüler*innen begreifen, dass es unterschiedliche Interessenskonstellationen gibt, die bei diesem Problem eine wichtige Rolle spielen. Es gibt zum einen die Betroffenen, die sich stigmatisiert fühlen, die Polizei als Exekutivorgan des Staates bzw. des Landes und die politischen Institutionen des Landes und des Bundes selbst. In dieser Phase beschäftigen die Schüler*innen sich arbeitsteilig mit den unterschiedlichen Interessen dieser Akteure. Da die Interessen der Betroffenen meistens durch NGOs kommuniziert werden, empfiehlt es sich, mit Material von Amnesty International oder der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) zu arbeiten. Die Erarbeitung der unterschiedlichen Interessen dient dazu, die sogenannte Expert*innenkommission vorzubereiten. Die Schüler*innen schlüpfen in Rollen von fünf unterschiedlichen Akteur*innen (1. Betroffene, 2. Vertreter*innen einer NGO, 3. Vertreter*innen der Polizei, 4. Vertreter*innen der Bundesregierung und 5. Sachverständige). Bei der Durchführung dieser Expert*innenkommission geht es darum, den Schüler*innen zu vermitteln, dass jede*r Akteur*in individuelle Interessen vertritt, die zum Teil mit den Interessen der anderen Akteur*innen kongruieren oder auch divergieren. Aus diesem Grund können die erarbeiteten „Lösungen“ nicht immer den Interessen entsprechen, die von den Akteur*innen vertreten werden. Die Schüler*innen erarbeiten innerhalb dieser Expert*innenkommission mögliche Lösungen, die als Ausgangspunkt für die weiteren Phasen genutzt werden können.

5. Bewertung der Konsequenzen: In dieser Phase bewerten die Schüler*innen die Konsequenzen, die die Lösungen für die unterschiedlichen Akteur*innen haben können. Welche Konsequenz hat es für die Polizei, wenn sie die polizeiliche Praxis des Racial Profiling eingesteht und beispielsweise Seminare implementiert, in denen rassismuskritisches Wissen vermittelt wird?

6.Entscheidung: Urteilen ist in der politischen Bildung ein unabdingbarer Bestandteil. Schüler*innen sind mit einer komplexen politischen Welt konfrontiert. Sie müssen beurteilen, bewerten, sich positionieren, der Welt, in der sie leben, eine Struktur geben und sie in gewisser Weise auch erfahrbar machen. Ein politisches Urteil, das wir im Unterricht anstreben, umfasst Sachurteile und Werturteile. Ein Sachurteil hat einen konstatierenden oder analytischen Charakter, wohingegen das Werturteil politische Entscheidungen oder Positionen nach moralischen Maßstäben beurteilt. In dieser Phase geht es daher darum, dass die Schüler*innen die polizeiliche Praxis des Racial Profiling sowohl beurteilen als auch bewerten und zu einem fundierten politischen Urteil kommen. Hier kann das Haus der Urteilsbildung nach Massing hilfreich sein, um diese Phase zu strukturieren (vgl. Massing 1999).

ufuq.de:

Sie haben die Umsetzung der Unterrichtsreihe in Klassen beobachtet. Was war Ihre Erfahrung? Wie reagieren junge Menschen auf das Thema?

Darlene Buxinski:

Ich konnte jetzt schon einige Male beobachten, dass Schüler*innen zum Teil entsetzt sind, dass es so eine Praxis bei der Polizei gibt. Klar haben Schüler*innen schon einmal von Rassismusvorwürfen bei der Polizei gehört, allerdings können die meisten mit dem Begriff Racial Profiling nichts anfangen. Aus diesem Grund sind viele dann sofort bei der Sache und interessiert. Sie wollen mehr über dieses Thema erfahren. Einige berichten über Erfahrungen und Situationen, in denen Familienmitglieder beispielsweise einfach so von der Polizei angesprochen wurden und sich ausweisen mussten. Viele interessieren sich auch für die rechtlichen Grundlagen, um im Fall der Fälle adäquat reagieren zu können. Das finde ich auch sehr wichtig. Jede und jeder sollte seine Rechte kennen. Manche Schüler*innen fragen mich auch, wieso ich ausgerechnet dieses Thema für meinen Unterricht ausgewählt habe. Dann illustriere ich das immer an einem einfachen Beispiel. Ich frage meine Schüler*innen, ob sie sich vorstellen können, dass ich als Lehrerin, die in ihrer Freizeit vielleicht sogar eine Jogginghose trägt, einfach so am Gelsenkirchener Hauptbahnhof von Polizist*innen nach meinem Ausweis gefragt werde. Natürlich verneinen die meisten Schüler*innen dies. Und dann haben wir ja schon den ersten Knackpunkt. Das Warum ist dann entscheidend. Und dann sind wir ja schon mitten in der Diskussion.

ufuq.de:

Gibt es Fallstricke, die bei der Umsetzung zu beachten sind?

Darlene Buxinski:

Man lernt bekanntlich nie aus. Bis vor Kurzem wurde ich noch als Referendarin in Gelsenkirchen in meinen beiden Fächern ausgebildet. Selbstverständlich mache ich auch noch ständig Fehler. Ich glaube, es gab keine Seminarsitzung, in der meine geschätzte Fachleiterin in Sozialwissenschaften, Frau Dr. Elke Holländer, mich und andere Referendar*innen nicht darauf hingewiesen hat, dass es wirklich in jeder Unterrichtsstunde Fallstricke gibt, die von Lehrer*innen bei der Planung und Durchführung von Unterricht berücksichtigt werden müssen. Wenn der Einstieg in eine Unterrichtsreihe beispielsweise nicht problemorientiert und kontrovers ist, kann ich eigentlich als Lehrer*in meine Sachen einpacken und wieder gehen. Dann habe ich nämlich das Ziel verfehlt. Zudem sollten die einzelnen Schritte für die Schüler*innen immer nachvollziehbar sein. Hier spielt Transparenz eine entscheidende Rolle. Spontan fällt mir noch ein, dass es auch wichtig ist, mit den Präkonzepten der Schüler*innen zu arbeiten. Unter Präkonzepten versteht man die vorunterrichtlichen Vorstellungen und Positionen der Schüler*innen. Sie stellen eine besondere Form von Alltagstheorien dar. Es ist meine Aufgabe als Lehrerin, diese Präkonzepte offen zu legen, um dann mit ihnen weiterzuarbeiten. Nur durch diese Offenlegung können die Lernvoraussetzungen durch die Lehrkraft diagnostiziert werden. Das ist auch in der beschriebenen Unterrichtsreihe wichtig. Ich hatte beispielsweise letztes Schuljahr Schüler*innen mit Migrationsgeschichte, die zu Beginn der Reihe gesagt haben, dass es ganz normal sei, dass die Polizei Menschen of Color kontrolliere, da diese Menschen häufig auch kriminell seien. Das waren die Präkonzepte der Schüler*innen zum Thema Racial Profiling, bevor diese im Unterricht überprüft wurden.

ufuq.de:

Haben sich die Einstellungen dieser Schüler*innen durch die Unterrichtsreihe verändert?

Darlene Buxinski:

Ja, deutlich. Sie hatten verstanden, dass es sich bei ihren Annahmen um Stereotype handelte, die sie ganz selbstverständlich reproduziert hatten, ohne sie zu hinterfragen. In den meisten Fällen entsprechen nämliche die Vorurteile nicht dem Stand der Daten und Forschung. Das konnten wir dann beispielsweise mit der Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes aus dem Jahre 2020 überprüften (vgl. Bundeskriminalamt 2020). Abschließend möchte ich noch etwas loswerden. Jede*r Lehrer*in sollte sich mit ihrer rassismusrelevanten Sozialisation auseinandersetzen und ihr eigenes rassistisches Wissen dekonstruieren, um rassismuskritisches Wissen proaktiv zu erwerben. Das ist meiner Meinung nach die Voraussetzung dafür, dass ich dann in einem zweiten Schritt überlege, wie ich Rassismus im Unterricht thematisieren kann. Wenn das gelänge, wären wir in der Bildungsarbeit schon einen Schritt weiter.

Literaturverzeichnis

Bundeskriminalamt (2020): „Bundeslagebild Kriminalität im Kontext von Zuwanderung“, auf: Bundeskriminalamt online, abrufbar unter: https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/Lagebilder/KriminalitaetImKontextVonZuwanderung/KriminalitaetImKontextVonZuwanderung_node.html, letzter Zugriff am 01.03.2022.

Buxinski, Darlene et. al. (2020): Racial Profiling. Die Thematisierung der grund- und menschenrechtswidrigen Praxis im sozialwissenschaftlichen Unterricht, in: Fereidooni, Karim / Simon, Nina (Hg.) (2020): Rassismuskritische Fachdidaktiken. Theoretische Reflexionen und fachdidaktische Entwürfe rassismuskritischer Unterrichtsplanung. Wiesbaden: Springer Verlag.

Cremer, Hendrik (2013): „Racial Profiling“ – Menschrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.

Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode, Drucksache 17/14569, 15. August 2013: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke u. a.: Neue Debatten über „racial profiling“ durch die Bundespolizei.

Deutscher Bundestag (2021): „Studie zu Racial Profiling bei Polizei zu eindimensional“, auf: Deutscher Bundestag Pressemitteilung, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/presse/hib/818840-818840, letzter Zugriff am 01.03.2022.

Harris, David A. (2003): Profiles in Injustice. Why Racial Profiling cannot work. New York: The New Press.

Massing, Peter. „Kategorien des politischen Urteilens und Wege zur politischen Urteilsbildung“, in: Kuhn, Hans-Werner (2003): Urteilsbildung im Politikunterricht. Schwalbach: Wochenschau-Verlag.

Reinhardt, Sibylle. (2016): Politik Didaktik – Praxishandbuch für Sekundarstufe I und II. 6. Auflage. Berlin: Cornelsen Verlag.

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