„Scharia-Polizei“ in Wuppertal: Hysterie hilft nicht weiter
9. September 2014 | Diversität und Diskriminierung, Radikalisierung und Prävention

Die „Scharia-Polizei“ des salafistischen Predigers Sven Lau in Wuppertal machte in den vergangenen Tagen auch in der überregionalen Presse Schlagzeilen. Übersehen wurde dabei allzu oft der gesellschaftliche Kontext, in dem diese Aktion stattfand. In seinem Beitrag beschreibt Sindyan Qasem (ufuq.de) die Ursachen, weshalb solche Aktionen bei manchen Jugendlichen auf Unterstützung stossen.

Kurz vor Mitternacht treffen sich junge Männer in den Schatten hoher Gebäude im Zentrum der Stadt. Sie teilen sich in drei Trupps, laufen auf unterschiedlichen Routen durch dunkle Straßen. Per Funk werden sie die ganze Nacht hindurch Kontakt halten. Auf ihren Uniformen blitzen reflektierende Großbuchstaben in den Lichtkegeln ihrer Taschenlampen auf.

In Eisenhüttenstadt gründete sich kürzlich wie in vielen anderen Städten und Ortschaften entlang der deutsch-polnischen Grenze eine Bürgerwehr. Vor wenigen Tagen berichtete die taz über den Trupp 1 der Eisenhüttenstädter Patrouille, über die Angst der Bürger vor polnischen Dieben und Asylbewerbern, über den Wunsch nach mehr Kontrolle, über das Bedürfnis „knallhart“ durchzugreifen. Auch die ZEIT widmete dem sich formierenden zwielichtigen Widerstand an der deutschen Grenze einen Artikel. Dass das Brandenburger Innenministerium mit 500 Freiwilligen an 72 Orten kooperiert ist in diesem Text ebenso zu erfahren wie die nicht ganz unwichtige Nebensache, dass die Polizei zwar diese sogenannten Sicherheitspartner schult und mit orange-farbenen Warnwesten ausstattet, in Brandenburg und Sachsen aber auch viele Bürgerinnen und Bürger auf eigener Faust unterwegs sind. Der Fall von Selbstjustiz und dem Zusammenschlagen vermeintlich krimineller Erntehelfer im brandenburgischen Kremmen sowie das „Verhaften“ eines sächsischen Gerichtsvollziehers durch das rechtsextreme Deutsche Polizei Hilfswerk sind Ereignisse, die auch überregional bekannt geworden sind.

Zugespitzt ließe sich sagen: An der deutsch-polnischen Grenze führen mittlerweile von den Ländern unterstützte Freiwillige die offiziell längst abgeschafften Grenzkontrollen durch, um Deutschland gegen das Übel von draußen, die schlechten Menschen von der anderen Seite des Grenzflusses zu schützen. Jetzt, da sich in Wuppertal die vermeintlich von draußen gekommenen, die „Anderen“, „die Muslime“ selbst orange-farbene Westen überziehen und auf Streife gehen, reagieren viele hysterisch. Selbstverständlich ist es dabei abzulehnen, dass Menschen anderen ihre Verhaltensregeln aufzwängen wollen. Selbstverständlich ist es auch abzulehnen, dass sich die jungen Männer in Wuppertal als ‚Scharia Polizei‘ bezeichnen, weil sie eben nicht das polizeiliche Gewaltmonopol besitzen. Und selbstverständlich ist die Stellungnahme des ZMD, diese jungen Männer betrieben eine Zweckentfremdung der Religion, zu unterstützen. Es besteht kein Zweifel an der freiheitsfeindlichen Prämisse, die diese Männer in ihrer errichteten Sharia Controlled Zone folgen.

Gleichzeitig sind die Reaktionen auf dieses Ereignis überzogen und nicht geeignet, die Situation in angemessener Art zu entschärfen. „Die Scharia wird auf deutschem Boden nicht geduldet“, äußerte Innenminister de Maizière angesichts dieser Anmaßungen einiger Muslime und begeht damit einen Fehler. Denn die Scharia ist eben nicht wie oftmals dargestellt das festgeschriebene Gesetz der Muslime, sondern ein durchaus auch individuell interpretierbarer Verhaltenskodex, eine islamische Lebensweise, die je nach Auslegung stark variieren kann. Mit seiner Aussage ignoriert de Maizière, dass die Mehrheit der Muslime mit der Scharia, wie sie die Wuppertaler Sittenwächter verstehen, nichts gemein hat. Der Innenminister reduziert den Islam auf eine scheinbare Gegensätzlichkeit zur oft beschwörten deutschen Leitkultur. Diese Reproduktion einer Inkompatibilität von „Muslimisch sein“ und „Deutsch sein“ überlässt den freiheitsfeindlichen Gruppierungen der Salafi-Szene das Feld und bestätigt diese und ihre potentiellen Sympathisanten in ihrem Schwarz-Weiß-Denken. Vor allem jungen Muslimen in Deutschland wird durch die Aussagen des Innenministers vermittelt, dass sie eben nicht dazugehören können, dass sie sich entscheiden müssten zwischen einem Leben auf deutschem Boden nach deutschem Recht oder ihrer Religion. Es mag nicht allzu verwunderlich erscheinen, dass sich dann einige tatsächlich ausschließlich der Religion zuwenden anstatt zu versuchen, den Loyalitätskonflikt zu lösen und einfach beides zu sein: demokratischer, nach seiner Scharia lebender Bürger und demokratische, nach ihrer Scharia lebende Bürgerin. Vor dem Hintergrund der Kooperation deutscher Behörden mit teilweise offen ausländerfeindlichen Bürgerwehren im Osten des Landes erscheint der Umgang mit der „Scharia Police“ einem doppelten Standard zu folgen. Es wird vermittelt, dass Xenophobie und Ablehnung von Asylsuchenden dazu gehöre, „der Islam“ aber nicht.

Aus diesem Grund benötigt es mehr als die in der Hitze des kulturkämpferischen Gefechts geäußerten politischen Statements. Ein Gespräch zwischen Pierre Vogel und Sven Lau, das auf der Webseite von Pierre Vogel dokumentiert ist, gibt Hinweise, wie der Scharia-Polizei auch jenseits von Skandalisierung und Sicherheitsrethorik beizukommen wäre. Denn der kürzlich wieder in die Nähe von Köln gezogene Vogel lobt Sven Lau zwar für seine Idee, das Projekt Scharia-Polizei zu starten, schlägt aber eine Namensänderung vor. Die Sittenwächtern-Streifen, die von Sven Lau und Co. in verschiedenen Städten geplant sind, seien schließlich keine Polizei, sondern „Street-Worker“. Die ideologisierten Freiheitsfeinde geben vor, Jugendarbeit zu betreiben, sich gegen Jugendkriminalität und Drogenmissbrauch einsetzen um so andere für die Salafiyya-Szene zu begeistern. Sie bedienen sich einem wirkungsvollen Mix aus jugendkulturellem „Gut-gegen-Böse“-Protest und scheinheiliger religiöser Legitimierung mit unbedingtem Wahrheitsanspruch.

Was ist also zu tun? Anzusetzen wäre bei der wichtigsten Zielgruppe des Missioniserungsteams: jungen Muslimen, die mit dem Salafismus noch nichts zu tun haben. Es gilt, sie für die Gefahren des Salafismus zu sensibilisieren, ihre Interessen aufzugreifen und Gehör zu verschaffen, sie in Vereine, Gemeinden und Initiativen einzubinden. Es gilt, ihnen Alternativen und Perspektiven aufzuzeigen und damit der Opferideologie der Salafisten aufrichtig etwas entgegenzusetzen. Der Stadtteil ist gefragt, mit allen Akteurinnen und Akteuren, die sich dem Anspruch der selbsternannten Sittenwächter entgegenstellen. Dann wird es Sven Lau und seiner Scharia-Polizei nicht weiterhin so einfach gelingen, die sowohl innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft als auch in salafistischen Kreisen präsente Vorstellung eines unüberwindlichen Gegensatzes zwischen „Muslimisch sein“ und „Deutsch sein“ für seine Zwecke zu instrumentalisieren.

(erschienen auf migazin.de, 8. Sep. 2014)

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