Der gescheiterte Putsch in der Türkei polarisiert auch die deutschtürkische Öffentlichkeit und nötigt Akteur_innen und Beobachter_innen, sich zu positionieren: Bist Du für oder gegen Erdogan? Dieses Lagerdenken vergiftet das politische Klima und zeigt sich auch in Diskussionen zu ganz anderen Themen: Zum Beispiel in der Debatte darüber, wie der Islam in Deutschland gelebt werden kann und welche Rolle die Frauen dabei spielen sollen.
Was hat der gescheiterte Putsch in der Türkei mit Deutschland zu tun? Spätestens seit den Pro-Erdogan-Demonstrationen in Deutschland und der Empörung, die darüber in den Medien entbrannt ist, besteht kein Zweifel mehr: Was in diesen Tagen in der Türkei geschieht, hat sehr direkte und langfristige Auswirkungen auch auf Deutschland und auf das Zusammenleben der Gesellschaft. Gräben tun sich auf zwischen Mehrheitsgesellschaft und der türkischstämmigen Minderheit. Die Fronten verlaufen aber auch mitten durch die deutschtürkische Community: Besonders heftig zeigt sich dies in der Debatte über die Möglichkeiten eines islamischen Feminismus.
Der Ton der Diskussion ist ruppig, es stehen sich zwei Lager gegenüber. Auf der einen Seite finden sich bekannte Bloggerinnen wie die streitbare Juristin Betül Ulusoy und die Publizistin Kübra G
, die sich selbst als Feministin versteht. Beide beziehen sich ausdrücklich auf den Islam und haben sich klar gegen den Putschversuch ausgesprochen. Ihnen gegenüber stehen muslimische Aktivistinnen und Autorinnen, wie Sineb el Masrar und Reyhan Şahin, die sich ausdrücklich von Erdogan und der AKP distanzieren und seine aus ihrer Sicht islamistische Politik ablehnen. Seit Jahren schwelt ein Streit zwischen beiden Lagern. Die einen werfen den vermeintlich Frommen vor, den Islam über die Rechte der Frauen zu stellen, und kritisieren G und Ulusoy, sie würden die Interessen der türkischen AKP zu vertreten.Der Putschversuch gilt vielen als Moment der Wahrheit: Jetzt zeige sich, wer wo steht
In ihrem neuen Buch „Emanzipation im Islam – eine Abrechnung mit ihren Feinden“ verortet Sineb el Masrar G„Der gescheiterte Putsch in der Türkei: Deutschtürkische Stimmen zur Diskussion“). Daran konnte auch die schnell hinterhergeschobene Klarstellung von Ulusoy nicht ändern:
und Ulusoy in der Nähe der AKP beziehungsweise der Muslimbruderschaft. Als vermeintlichen Beleg führt sie deren Teilnahme an Veranstaltungen mit einschlägigen Predigern an. Ganz überzeugen konnte sie damit jedoch nicht. Als sich Ulusoy dann am 15. Juli 2016 gegen einen Militärputsch aussprach und auch noch Sympathien für die anschließenden „Säuberungen“ der AKP-Regierung zeigte, galt dies als weiterer Beleg für ihre Nähe zur AKP und Präsident Erdogan (siehe dazu auch unseren BeitragWarum ist es eigentlich so schwer zu verstehen, dass man nicht FÜR Erdogan sein muss, wenn man GEGEN einen Militärputsch ist?
schrieb Ulusoy auf Facebook. Doch das andere Lager ließ dies nicht gelten.
Ein Facebook-Eintrag von Reyhan Şahin alias Lady Bitch Ray markiert den Beginn einer neuen Runde der Auseinandersetzung. Lady Bitch Ray wendet sich darin direkt an Ulusoy und G :
„Wie erklärt ihr euch die Vereinbarkeit von Eurer pro-Erdoğan- und pro-IGMG-Gesinnung (Erdoğannahe Organisation in Deutschland), die ihr seid Jahren in diversen Eurer Tweets und Postings offensichtlich (Ulusoy) und teilweise durch die Blume (Gümüşay) ausdrückt, mit eurer Aussage, dass ihr „Feministinnen“ sein wollt und für Frauenrechte kämpft? … Derzeit geht ein islamistischer Mopp auf den Strassen der Türkei rum und greift alevitische und kurdische Dörfer an, lyncht Menschen in Selbstjustiz: ihr beschwert euch seit Jahren über anti-muslimischen Rassismus in Deutschland (der ja tatsächlich vorherrscht in der BRD und der bekämpft werden sollte, keine Frage), was aber ist mit Rassismen, die von Erdoğan (oder ähnlichen islamistischen Diktatoren), die ihr ja beide so befürwortet? Dieser Rassismus, diese Frauenfeindlichkeit und diese Menschenverachtung taucht in keinster Weise in Eurer politischen Agenda auf – I wonder why?“
Kübra GHomepage:
reagierte auf ihrer„In den letzten Tagen versuchte man mir Anhängerschaft zu verschiedenen Parteien und Organisationen anzudichten. Mich enttäuscht der Argwohn, das Lagerdenken und das Unvermögen Differenziertheit zuzulassen. Doch das sagt viel aus über unser Jetzt. Unsere Gesellschaft. Uns. (…) Ich bin weder pro dies, noch pro das. In meiner Person und Arbeit vereine ich mehrere Identitäten und Ideale, die in allen politischen Lagern der Türkei (aber nicht nur dort) auf die eine oder andere Art und Weise anecken, wenn nicht gar fundamental widersprechen.
Dabei wehrt sie sich auch gegen den Vorwurf, Anhängerin von Erdogan zu sein und dessen Ansichten zur Rolle der Frau zu teilen.
Für Lady Bitch Ray ist eine solche Haltung nicht ausreichend. Auf Facebook erwidert sie:
Pussytionier’ Dich!…
Es ist eine schwammige, in Harmoniesucht getränkte Wir-haben-uns-alle-lieb-Haltung, mit der Du keine Antworten auf meine Fragen gibst. Du beziehst wieder keine klare Position in solchen Blogs und Beiträgen – oder besser gesagt nur allgemeine, doppeldeutige Botschaften. Ist das Absicht, Naivität oder politische Strategie?
I don’t know… Was Du verbal nicht auszusprechen magst, “spricht“ aus Deiner Kleidung, Kübra: weite, lockere Klamotten, lange dunkle, weite Röcke, das abgeschirmte Kopftuch an der Stirn, fest am Kinn zugebunden, alles Indizien für das eindeutige Bekleidungskode der Milli Görüş!
Die Polarisierung, die das politische Klima in der Türkei vergiftet, zeigt sich auch in Deutschland
Gegen einen solchen Druck zum Parteiergreifen und gegen den Trend, die tatsächlichen oder vermeintlichen Verteidiger_innen Erdogans pauschal zu verurteilen, wendet sich die Journalistin Azadê Peşmen im Missy-Magazine. Die Einteilung in Gut und Böse führe nur dazu, dass es leichter werde, die ansonsten legitimen Anliegen der Aktivistinnen als falsch abzutun:
Und bloß weil Betül Ulusoy (zu recht) Problematisches, insbesondere AKP-Fangirling vorgeworfen wird, heißt das noch lange nicht, dass es keinen (antimuslimischen) Rassismus in Deutschland gibt. Die Kritik an ihren Postings und ihrer Position(en) delegitimiert nicht ihre Erfahrung als Frau mit Kopftuch in Deutschland. Natürlich ist es klar, dass auch Jurist*innen mit Kopftuch ein Referendariat im öffentlichen Dienst machen dürfen und es ist diskriminierend, wenn ihnen das untersagt wird (zumindest solange, wie Artikel vier Teil des Grundgesetzes ist). Trotzdem muss es möglich sein, sie für die Unterstützung Erdoğans und für ihre genozidale Wortwahl ankreiden zu können.
Zugleich dürfe die Kritik durch die Mehrheitsgesellschaft nicht dazu führen, dass die Kritik an problematischen Einstellungen innerhalb der Community unmöglich werde:
Wie so vieles ist für mich auch Kritik intersektional und ich will sie äußern können, ohne das mir vorgeworfen wird, ich würde der Hegemonie in die Hände spielen. Denn das würde bedeuten, dass ich mir selbst einen Maulkorb auferlege, was schlicht und ergreifend einer kolonialen Kontinuität gleichkäme. Denn genauso wie bereits zu Anfang erwähnt: Menschen legen ihre Positionen und Erfahrungen nicht an Ländergrenzen ab. Und in Deutschland leben nicht nur weiße Türk*innen, sondern eben auch Communities, die von genau diesen Menschen verfolgt und diskriminiert werden. Letzteres passiert nicht nur in der Türkei, sondern auch hier und darüber muss auch geredet werden.
So haben die Ereignisse des 15. Juli in der Türkei und alles was seitdem geschah auch auf die Debatte in Deutschland einigen Einfluss. Der Druck, sich zu positionieren, Partei zu ergreifen und die Spaltung in zwei verfeindete ideologische Lager, die seit langem die Debatte in der Türkei prägt, droht auch in Deutschland eine Polarisierung zu befördern. Sachliche, konstruktive Diskussionen werden dadurch erschwert.