In der öffentlichen Debatte wird häufig gefordert, die neuangekommenen Geflüchteten müssten „unsere“ Werte lernen. Tatsächlich sind Geflüchtete eine neue Zielgruppe der politischen Bildung, für Reinhard Fischer von der Berliner Landeszentrale für Politische Bildung geht es in der Arbeit mit Geflüchteten allerdings nicht darum, „eine Leitkultur zu vermitteln. Das Überwältigungsverbot in der politischen Bildung gilt auch für die Arbeit mit der Zielgruppe der Geflüchteten“, erklärt er im Gespräch mit ufuq-de-Mitarbeiterin Julia Gerlach.
Sie bieten politische Bildung für Geflüchtete: Was genau machen Sie?
Wir bieten Workshops, in denen wir Geflüchteten Informationen vermitteln, die ihnen helfen, in Deutschland mitzumachen. Zunächst geben wir einen historischen Einstieg: Wenn man ins Gespräch kommen will und nicht gleich ins Fettnäpfchen treten will, braucht man Informationen. Zum Beispiel beim Thema Nationalsozialismus, aber auch, wann es um die deutsche Teilung geht. In der zweiten Einheit, geht es darum, wie Politik in Deutschland organisiert wird. Dass Entscheidungen eben nicht nur zentral getroffen werden, sondern es viele Möglichkeiten der Partizipation zum Beispiel auf kommunaler Ebene gibt und man auch mitmachen kann, wenn man keine Staatsbürgerschaft hat.
Im nächsten Modul geht es um den Unterschied zwischen Bürger- und Menschenrechten. Viele verstehen nicht, dass wir unterscheiden zwischen Menschenrechten, die für alle gelten und Rechten für Bürger, bei denen es auch Abwägungen geben kann.
Wichtig ist auch die Besonderheiten der deutschen Zivilgesellschaft zu verstehen. Da gibt es ja durchaus große Unterschiede zur Zivilgesellschaft in Syrien oder Afghanistan. Wenn man hier mitmachen möchte, dann muss man verstehen, wie dieser Bereich funktioniert und man muss einmal darüber nachgedacht haben, wo es Ansatzpunkte gibt.
Das ist aber ein ganz schön großes Thema, oder?
Wir verstehen unsere Module als Anregung. Wir haben nicht den Anspruch, dass wir den Menschen in vier mal drei Stunden die Welt erklären können. Es sind eher Ansatzpunkte, um dann weiter darüber nachzudenken. Ganz banal: Jemand erkennt, dass es in der Schule der Kinder durchs Dach regnet, was mache ich? Schreibe ich einen Brief an Frau Merkel oder was kann ich machen?
Das ist ja klassische politische Bildung. Das Neue daran ist, dass Sie sich an eine neuangekommene Gruppe wenden, die zugleich aufgefordert wird, sich hier aktiv zu beteiligen. Diese Haltung hat es bei früheren Migrantengruppen so noch nicht gegeben, oder?
Es hat auch schon vorher Angebote der politischen Bildung an bestimmte Migrantengruppen ohne deutsche Staatsbürgerschaft gegeben, aber noch nie wurde mit den Angeboten so schnell nach der Ankunft begonnen. Das ist neu. Mir ist nicht bewusst, dass es Anfang der 90er Jahren Bildungsangebote an Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien gegeben hat. Die Themen sind also die gleichen, die wir auch schon für andere Zielgruppen angeboten haben: Institutionenaufbau, Zivilgesellschaft, Möglichkeiten der Partizipation. Neu ist wie gesagt der frühe Zeitpunkt und natürlich die Sprache.
Was bedeutet das für die Herangehensweise: Inwiefern sind Ihre Workshops anders als die, die sie für Erwachsene aus anderen Zusammenhängen anbieten?
Der größte Unterschied ist natürlich die Sprache. Wir bieten die Seminare ja auch mit arabischer und persischer Übersetzung an. In anderen Fällen – zum Beispiel in Willkommensklassen – bieten wir die Workshops in einfachem Deutsch an, das ungefähr A2 Niveau entspricht. Neben der Sprache ist es aber auch das Vorwissen, das die Zielgruppen unterscheidet. Oberstufenschüler_innen in Deutschland braucht man nicht zu erklären, dass der Nationalsozialismus in Deutschland eine ganz besondere Zeit war. Das haben sie im Laufe ihrer Schulzeit schon erfahren. Bei den Neuangekommen müssen wir da erstmal eine Basis schaffen.
Wie machen Sie das?
Wir machen einen Schnelldurchgang durch die Geschichte, in dem wir beispielsweise erklären, wie sich der Nationalstaat entwickelt hat. Wieso ist die Entscheidungsgewalt in Deutschland oft auf die Bundesländer verteilt? Wieso ist Schule in Bayern anders als in Berlin?
Wie ist es mit Vergleichen zwischen verschiedenen Diktaturen zur Veranschaulichung? Würden Sie den NS mit der Situation in Syrien vergleichen?
In den Demokratiemodulen der Landeszentrale kommen solche Vergleiche nicht vor. Diese sind ja auch nicht auf ein spezifisches Herkunftsland zugeschnitten. Die Vergleiche hinken immer und bringen die Menschen auch nicht unbedingt weiter. Das Wissen, dass in Deutschland auch gefoltert wurde, lindert das Leid über die Verbrechen in Syrien nicht. Was hingegen hilft, ist zu verstehen, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist und dass es hier eine Auseinandersetzung mit Demokratie gibt, die aus der Diktaturerfahrung herrührt.
Ich engagiere mich nebenbei aber auch in dem Verein Interkulturanstalt in Charlottenburg. Das ist etwas anderes. Dort haben wir Filme wie „Das Leben der Anderen“ und „Good Bye Lenin“ gezeigt. In den Nachgesprächen zu den Filmen zogen die Zuschauer durchaus Vergleiche. Ein Zuschauer aus Syrien merkte an, dass im „Leben der Anderen“ die Stasi als böse beschrieben wird, obwohl sie noch nicht einmal physisch foltert. Darauf muss man dann in der Diskussion eingehen. Nach dem Film „Die Mörder sind unter uns“ haben wir über die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen gesprochen und diskutiert, wie die aktuellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Syrien juristisch aufgearbeitet werden könnten.
Das ist sehr anspruchsvoll.
Ja, das stimmt. Wir hatten zum Beispiel einen Workshop in der Jordanischen Gemeinde e.V., einem arabischen Kulturverein in Neukölln. Das war eine interessante Gruppe, die zum Teil aus neuangekommenen und zum Teil aus alteingesessenen Menschen aus der arabischen Welt bestand. Ich habe mich nicht gewundert, dass es Diskussionen zum Thema Israel und das Verhältnis Deutschlands zu Israel gab. Erstaunlicher fand ich, dass es auch Widerspruch zu unserer Darstellung der Bismarck-Zeit gab. Wir hatten Bismarck nur kurz erwähnt und dazu die Stichpunkte Sozialversicherung, Krieg gegen Frankreich und Reichseinigung. Da stellte sich heraus, dass einige ein sehr viel positiveres Bild von Bismarck hatten, als das, was ich dort vermittelt habe.
In einem anderen Workshop, den wir in einer Unterkunft für Geflüchtete in Schöneberg gemacht haben, waren viele der Teilnehmer_innen noch nicht lange in Deutschland. Da war viel Diskussion zum Thema Menschenrechte – Bürgerrechte und der Frage, was man bei Diskriminierung machen kann. In den Workshops, die wir jetzt in der Landeszentrale veranstaltet haben, waren viele Teilnehmer_innen schon länger da, es gab viele Anknüpfungspunkte beim Thema politisches System und Wahlen. Das liegt wohl daran, dass sie schon die Wahlen zum Abgeordnetenhaus 2016 erlebt haben und den beginnenden Wahlkampf zur Bundestagswahl mitbekommen.
Es gibt von der Politik immer wieder die Forderung, dass die Geflüchteten schnell unsere Werte lernen sollen. Machen Sie das?
Oh, das wollen wir doch lieber auseinanderhalten. Wir gehen davon aus, dass wir in Deutschland in einer wertepluralen Gesellschaft leben. Für das Leben in der Gesellschaft ist es wichtig, dass man die Normen, also konkret die Gesetze der Gesellschaft kennt und einhält. Zugleich muss man in der Lage sein, Widersprüche zwischen diesen Normen und seinen eigenen Werten auszuhalten. Es kann ja sein, dass jemand ein Familienbild hat, dass nur die heterosexuelle Ehe für gut hält. Das ist kein Problem, solange man es aushalten und akzeptieren kann, dass Andere dies auch anders sehen und leben.
Bei genauerer Betrachtung sieht man, dass viele Menschen in irgendwelchen Bereichen solch einen Spagat machen: Zwischen den eigenen Werten und den Normen der Gesellschaft. In den Workshops geht es uns explizit nicht darum, eine Leitkultur zu vermitteln. Das Überwältigungsverbot in der politischen Bildung gilt auch für die Arbeit mit der Zielgruppe der Geflüchteten.
Wenn sie den Teilnehmer_innen erklären, wie die Deutschen ihre Geschichte sehen und verstehen, geht es dann nicht auch um Werte?
Wir wollen hier eher ein Verständnis vermitteln. Dass man zum Beispiel in Deutschland über alles lachen kann, nur nicht über den Nationalsozialismus. Das ist für die Neuangekommen wichtig zu wissen. Das ist in anderen Ländern anders, da gibt es andere Tabus. Wir sagen aber ganz explizit nicht: So wie es ist, ist es gut! Wir vermitteln auch kein Idealbild der Gesellschaft. Wir zeigen vielmehr Wege auf, die man mit den Widersprüchen der Gesellschaft umgehen kann: Was kann ich machen, wenn ich mich diskriminiert fühle oder wenn ich mitbekomme, dass andere diskriminiert werden? Wir sagen nicht: Die Deutschen sind tolerant, sondern zeigen Wege auf, was man machen kann, wenn es nicht so ist.
Wenn nicht darum geht, „Werte“ beizubringen, vermitteln Sie denn Demokratie?
Im Grunde schon. Wir vermitteln das Wissen, wie sich die Neuangekommenen politisch und gesellschaftlich beteiligen können, aber nicht als Wert, sondern als Funktionsweise.
Meine Hoffnung ist, dass auch Menschen mitmachen, die in ihrem Wertegerüst eher autoritäre Muster haben. Ich halte es für schwierig, Leuten zu sagen: Ihr dürft nicht autoritär oder heteronormativ denken. Vielmehr sagen wir: Die Menschen kommen mit ihren Werten und sie lernen bei uns wie hier Konflikte gelöst und Entscheidungen getroffen werden können. Da gibt es doch immer ein Abwägen von Werten.
Wichtig ist auch die Einsicht, dass Beleidigung und Verletzung der Würde sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Das ist wichtig! So wollen wir verhindern, dass Menschen das Gefühl haben, dass sich die Welt gegen sie verschworen hat und sie nie ihr Recht bekommen. Solche verhärteten Positionen findet man häufig bei Menschen, die in sehr schwierigen Umständen leben. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Als wir den Workshop in der Unterkunft in Marienfelde gemacht haben, litten dort viele darunter, dass sie nicht selber kochen können und das Essen vorgesetzt bekommen. Das haben viele als sehr schlimm und bevormundend empfunden. Da hilft es, wenn sie verstehen, wie das System in Deutschland funktioniert und wie zwischen verschiedenen Möglichkeiten und Bedürfnissen abgewogen wird. Sie können natürlich weiter fordern, dass sie selber kochen können und vor allem auch, dass sie endlich eine Wohnung bekommen; unbedingt! Wir versuchen, die Wege dazu deutlich zu machen. Wir wollen dadurch dieses Gefühl mindern, dass sich die ganze Welt gegen sie verschworen hat. Wir wollen ihnen helfen zu sehen, dass da vielleicht Entscheidungen getroffen wurden, die ihnen missfallen und gegen die sie sich wehren können, die aber aus einer Abwägung verschiedener Möglichkeiten getroffen wurde, und in der Regel nicht gegen sie persönlich gerichtet sind.
Wer sind die Trainer_innen, die diese Workshops durchführen?
Wir haben jetzt ein Team von Honorarmitarbeiter_innen, die alle schon Erfahrung hatten. Wir haben Wert auf ein heterogenes Team gelegt, vom Pensionär bis hin zur Studentin. So können wir auf die sehr verschiedenen Zielgruppen eingehen. Von den Trainer_innen ist niemand selbst geflüchtet, aber einige haben Migrationsgeschichte.
Gibt es häufiger Gruppen, die mit speziellen Anfragen kommen?
Es gab eine Gruppe der Stadtmission, die Geflüchtete ins Ehrenamt bringen wollte und da war die gezielte Anfrage, dass wir erklären sollen, wie in Deutschland die Sozialsysteme und Wohlfahrtspflege funktionieren.
Oha, das ist aber ein kompliziertes Thema.
Ja, das stimmt. Da haben wir zunächst unser Modul zur Zivilgesellschaft eingesetzt und die Grundlagen geschaffen. Später haben wir dann das System der Versicherungen erklärt. Was ist Versicherung? Was ist steuerfinanziert? Da kann man sehr gut erklären, wie dieser nichtstaatliche Bereich funktioniert: die Versicherungen, die Wohlfahrtsverbände. Das ist ja sehr besonders in Deutschland. Da gibt es die Erkenntnis: Wenn ich Selbstständiger bin, dann muss ich mich selbst versichern. Wenn ich angestellt bin, dann wird das automatisch gemacht.
Bei dem Termin mit der Stadtmission hatten Sie sehr viele Teilnehmer_innen. Bei den Terminen, die in der LpB stattfanden, kamen sehr wenige Interessierte. Woran liegt das?
Das liegt vor allem daran, dass es sich bei der ersten Gruppe um eine feste Gruppe handelte, die gemeinsam gekommen ist. Das funktioniert besser als ganz freie Ausschreibungen. Das wollen wir in Zukunft verstärkt berücksichtigen. Wir haben auch ganz verschiedene Werbemethoden ausprobiert. Festgestellt habe ich dabei, dass Aushänge in Unterkünften gar nichts bringen. Auf Facebook haben wir bemerkt, dass die Sachen zwar geteilt werden, aber vom Teilen kommen die Leute noch nicht. Auch hier ist es alles neu und wir müssen herausfinden, wie wir die Zielgruppe besser erreichen.
Foto: Samer Masouh