Emanzipatorisch, kritisch und partizipativ – Politische Bildung in Zeiten der multiplen Krisen
6. Dezember 2023 | Demokratie und Partizipation, Jugendkulturen und Soziale Medien

Symbolbild; Bild: Nick Fewings/Unsplash

Die Gleichzeitigkeit globaler Krisen beeinflusst das Aufwachsen junger Menschen heute maßgeblich und wirkt sich auch auf ihre mentale Gesundheit aus. Krisen bieten in demokratischen Gesellschaften allerdings auch zahlreiche Chancen, weil sie politisches Interesse wecken und Transformationsprozesse anstoßen können. Steve Kenner erläutert, was dies für die politische Bildung bedeutet. Er plädiert dafür, die Schule als politischen Sozialisationsort zu verstehen und stellt die Prinzipien einer kritisch-emanzipatorischen Bildung vor.

Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den Herr Kenner im Rahmen einer Fortbildungsreihe des Niedersächsischen Landesinstituts für schulische Qualitätsentwicklung und ufuq.de gehalten. Einen Mitschnitt des Vortrags finden Sie auch hier auf YouTube.

Wir befinden uns in einer multiplen Krise (Leopoldina/Rat für nachhaltige Entwicklung 2021: 4). Für die Demokratie bedeutet dies nicht zwangsläufig eine Gefahr, sondern bietet auch das Potenzial für gesellschaftlichen Wandel. Konflikte und Krisen als Ausdruck von Dissens sind konstitutiv für demokratische Gesellschaften. Es ist in diesem Beitrag nicht möglich, alle gegenwärtigen Krisenphänomene vom Klimawandel bis zu den aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen in ihrer Verwobenheit zu rekonstruieren, es lohnt sich aber ein exemplarischer Blick ausgehend von der Biodiversitätskrise und ihren Folgen.

Multiple Krisen als Bildungserfahrung?!

Der Rückgang der Biodiversität verschärft zahlreiche Herausforderungen der Gegenwart und führt dazu, dass das Leben, so wie wir es kennen, auf diesem Planeten in absehbarer Zukunft nicht mehr möglich sein wird. Durch menschliche Einflüsse wurde bis heute ein Großteil der Landoberfläche und des Meeresökosystems erheblich beeinträchtigt oder zerstört, knapp eine Million Arten sind derzeit vom Aussterben bedroht (IPBES 2021). Die Gründe dafür sind vielfältig: Erderwärmung, Dürren, Einsatz von Pestiziden, Monokulturen, invasive Arten und viele weitere. Eng verknüpft mit der Biodiversitätskrise ist die Ernährungskrise. Die industrielle Nahrungsmittelproduktion mit Monokulturen und dem massiven Einsatz von Pestiziden gefährdet ihrerseits die Biodiversität und ist im Kontext der Klimaerwärmung und den damit verbundenen Wetterextremen besonders anfällig für klimatische Veränderungen. Die Folge: Ernteausfälle und massiv steigende Preise für Lebensmittel. Die Folgen sind vor allem für die Menschen im globalen Süden verheerend. Die Ernährungskrise, auch verstärkt durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, dem Kornspeicher der Welt, führt dazu, dass Menschen im globalen Norden ökonomisch noch mehr als zuvor von der Ausbeutung von menschlichem Arbeitsvermögen und der Biosphäre profitieren, während Menschen im globalen Süden existenziell bedroht sind. Immer häufiger sind sie zur Sicherung eines würdevollen Lebens zu (Binnen-)Migration gezwungen. Diese Migrationsbewegungen sind selbst auch ein Teil der multiplen Krisen, vor allem in jenen Ländern, aus denen die Menschen abwandern. Neben der Biodiversitätskrise, der Ernährungskrise, der Klimaerwärmung und dem Angriffskrieg auf die Ukraine gibt es auch quergelagerte Herausforderungen wie die Ungleichheitskrise. Laut dem aktuellen World Inequality Report aus dem Jahr 2022 hat die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung nur knapp zwei Prozent des weltweiten Gesamtvermögens. Das reichste Zehntel der Weltbevölkerung hat einen Anteil von etwa 76 Prozent (Chancel u. a. 2022: 3).

Die aktuelle Situation einer multiplen Krise kann zu Verunsicherung, Frustration und Resignation führen. Dennoch können wir sie auch als Gelegenheit betrachten, die Frage nach unserer Lebens- und Wirtschaftsweise neu zu stellen. Diese Frage impliziert aber mehr als individuelle Konsumentscheidungen: Es geht darum, wie wir leben wollen und wie ein würdevolles Leben im Einklang mit Natur, Umwelt und Klima möglich ist. Dabei gilt es auch, individuelle Interessen und Privilegien zu reflektieren. Tatsächlich bewirken Krisen und Transformationsprozesse nicht nur Verunsicherung, sondern politisieren auch und wecken politisches Interesse. Seit mehreren Jahrzehnten gab es keine junge Generation mehr, die sich so politisiert hat wie junge Menschen heute (Schneekloth/Albert 2019). „Zwei Drittel (66 Prozent) der Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind der Ansicht, dass Menschen ihres Alters etwas verändern wollen.“ (Vodafone Stiftung 2022: 7) Gleichzeitig sind 73 Prozent der befragten jungen Menschen „unzufrieden damit, wie Politiker:innen im Allgemeinen ihre Anliegen und Interessen berücksichtigen“ (Vodafone Stiftung 2022: 11).

Multiple Krisen können neue Denkräume eröffnen. Und auch junge Menschen haben eine Vorstellung von einer Welt von morgen. Als politische Bildner*innen erfordert das von uns nicht, diese Räume auszufüllen, sondern (junge) Menschen dabei zu begleiten, der Frage danach, wie wir leben wollen, neu nachzugehen.

Prinzipien einer kritisch-emanzipatorischen Bildung

Im Zeichen heutiger Krisen ist der sogenannte „Beutelsbacher Konsens“ (Wehling 1977) für die politische Bildung aus dem Jahr 1976 erstaunlich aktuell. Diskutiert wurde auf Einladung von Siegfried Schiele, dem damaligen Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg, ein Minimalkonsens für die Prinzipien politischer Bildungsarbeit. Georg Wehling fasst in seinem Aufsatz „Konsens à la Beutelsbach?“ drei grundlegende Prinzipien zusammen:

  • Überwältigungsverbot
  • Kontroversitätsgebot
  • Schüler*innenorientierung

Der „Beutelsbacher Konsens“ schaffte mit einer pointierten Formulierung in wenigen Sätzen zunächst Klarheit und einen Rahmen – vor allem für die schulische politische Bildungsarbeit. Während die Kompaktheit des „Beutelsbacher Konsens“ zunächst eine große Stärke war, schaffte sie auch Raum für Verunsicherung und Missinterpretation. Vor allem das Kontroversitätsgebot und das Überwältigungsverbot wurden und werden bis heute immer wieder missverstanden als eine allgemeine Neutralitätsverpflichtung, der die politische Bildung unterliegen würde. Kritische Perspektiven auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse? Ein klares Bekenntnis gegen menschenverachtende Aussagen von Politiker*innen? Eine unmissverständliche Thematisierung des anthropogenen Klimawandels? Reale politische Handlungserfahrungen, gar politische Aktionen – wie bspw. Klimaprotest – als politische Bildungserfahrung auch in den Räumen (formaler) Bildungsinstitutionen zulassen? Viele politische Bildner*innen, vor allem Lehrkräfte, tun sich schwer damit und begründen diese Haltung nicht selten mit dem „Beutelsbacher Konsens“.

Für die von mir im Folgenden vorgeschlagenen Prinzipien beziehe ich mich daher nicht nur auf den „Beutelsbacher Konsens“, sondern auch auf die „Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung“ (Eis u. a. 2015). Die „Frankfurter Erklärung“ baut auf dem Minimalkonsens aus Beutelsbach auf, erweitert ihn aber um relevante Perspektiven einer emanzipatorischen und partizipativen Bildung. Im Folgenden nehme ich Bezug auf den „Beutelsbacher Konsens“ und die „Frankfurter Erklärung“ und ergänze beide Zugänge um adultismuskritische Perspektiven.

1. Young Citizens – die multiple Krise mit jungen Menschen als politische Subjekte thematisieren

Schon im Jahr 2015 wiesen die Autor*innen der „Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung“ (Eis u. a. 2015) darauf hin, dass sich politische Bildung „den Umbrüchen und vielfältigen Krisen unserer Zeit“ stellen müsse. So heißt es hier:

Epochale Umbrüche erfordern politische Alternativen und Optionen für gesellschaftliche Lernprozesse. Ob die Krise des Kapitalismus, die Krise der Ökologie, die Krise der Demokratie oder die Krise der Reproduktion: Immer deutlicher stellen sich Fragen einer sozial-ökologischen Transformation auch für die Politische Bildung. Eine Welt in Krisen und Umbrüchen ist nicht in standardisierten Modellen zu begreifen. Kompetenzorientierung wird didaktisch substanzlos, wenn politisches Wissen und Fähigkeiten nicht auf die politische Gestaltung gesellschaftlicher Gegenwarts- und Zukunftsfragen bezogen werden. (Eis u. a. 2015)

Daran anschließend kann konstatiert werden, dass die multiple Krise nicht Thema oder Lerngegenstand ist, deren Bewältigung vermittelt werden kann. Politische Bildung, die sich der multiplen Krise der Gegenwart oder notwendigen Transformationsprozessen in Bildungserfahrungen widmet, nimmt die Menschen ernst und als politische Subjekte wahr. Vor allem Kindern und Jugendlichen wird aber noch viel zu häufig unterstellt, dass sie sich auf einer Vorstufe politischer Mündigkeit befinden würden, die eine eigenständige Positionierung in der Welt verunmögliche. Deutlich wird das u. a. darin, dass wir ihnen zentrale demokratische Privilegien wie das Wahlrecht vorenthalten, formale Bildungseinrichtungen wie die Schule nicht als Räume für reale politische Handlungserfahrungen anerkannt werden und noch immer von kanonisierbarem und zu vermittelndem Wissen (Weißeno 2017) sowie standardisierbaren Bildungssettings ausgegangen wird. Wenn die Auseinandersetzung mit den krisenhaften Verhältnissen nicht in Überwältigung, Resignation und Frustration umschlagen soll, müssen auch junge Menschen als Young Citizens (Kenner/Lange 2022; Kenner 2023a) ernst genommen werden. Gemeinsam mit jungen Menschen können die Ursachen epochaler Umbrüche und die Frage des Umgangs mit den daraus folgenden Transformationsprozessen diskutiert werden.

2. Überwältigungsverbot – aber kein Neutralitätsgebot

Mir erscheint der Verweis dringend erforderlich, dass politische Bildung in diesem Verständnis nicht überwältigen darf und dennoch nicht zur Neutralität verpflichtet ist. Im „Beutelsbacher Konsens“ wird darauf verwiesen, dass es nicht erlaubt sei, „mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln“ (Wehling 1977) und Menschen an der Gewinnung eines eigenständigen Urteils zu hindern. Ein Bekenntnis zu den Grund- und Menschenrechten ist in einer demokratischen Gesellschaft aber nicht als Überrumpelung zu verstehen, sondern als demokratisches Prinzip. Auch das Einstehen für wissenschaftliche Redlichkeit und empirische Erkenntnisse, bspw. in Bezug auf den anthropogenen Klimawandel, entspricht dem Prinzip der Wissenschaftsorientierung und widerspricht damit nicht dem Überwältigungsverbot.

3. Kontroversität, Konflikt und Dissens als demokratischer Kern

Das Konflikthafte ist der Kern gesellschaftlichen Lebens. Auch demokratische Gesellschaften sind von gegensätzlichen Interessen, von Macht- und Herrschaftsverhältnissen, Abhängigkeiten, Privilegien und Marginalisierung geprägt.

Streitfragen und soziale Konflikte zur Sprache zu bringen und politisch auszutragen, ist ein grundlegendes Kennzeichen von Demokratie. Kontroversität als didaktisches Prinzip geht hierbei nicht in einer Dokumentation unterschiedlicher Positionen und mitunter ähnlicher (oder bereits einflussreicher) Perspektiven auf. Sie arbeitet Streitpunkte und grundlegende Dissense heraus, zeigt Gegensätze auf und fördert kritisches Denken. Eine echte politische Kontroverse macht unterschiedliche Interessen, Denkweisen und Praxen sowie Alternativen gesellschaftlicher Zukunftsentwicklung sichtbar. (Eis u. a. 2015)

Konfliktfähigkeit ist daher das zentrale Element politischer Mündigkeit. „Eine Erweiterung der Perspektiven über die eigene Person und die Nahgruppe hinaus bedeutet, Andersartiges anzuerkennen und Konflikte zu akzeptieren“, betont Sybille Reinhardt (2018: 22f.). Das Konflikthafte, Dilemmata und Unsicherheiten gilt es als Ausgangspunkte für die Entwicklung neuer Ideen zu verstehen. Politische Bildung kann dabei helfen, die dafür notwendige „Ambiguitätstoleranz zu trainieren, denn politische Bildung in der Demokratie macht sichtbar, dass demokratisches Handeln immer Handeln unter dem Zwang des Nichtwissen (sic!) ist.“ (Besand 2020). Das anzuerkennen, zeichnet politische Bildung aus.

4. Von Machtkritik, (Selbst-)Reflexivität und adultismuskritischer Bildung

Politische Bildung in Zeiten der multiplen Krise und gesellschaftlicher Transformation ist verbunden mit dem Ziel der Emanzipation des Menschen. Diese kann aber nicht verordnet werden. Klaus Peter Hufer weist darauf hin, dass „Emanzipation auf der einen und Manipulation, Agitation oder Indoktrination auf der anderen Seite sich wechselseitig ausschließende Gegensätze sind“ (Hufer 2017: 14–15). Emanzipation kann also nicht vermittelt werden, sondern ist vielmehr Teil einer Bildungserfahrung, die auf Herrschafts- und Ideologiekritik aufbaut, denn – so hat es Schmiederer schon in den 1970er Jahren geschrieben – die „Aufklärung des Menschen über die Gesellschaft, in der er lebt, ist die erste Voraussetzung für seine Emanzipation“ (Schmiederer 1971: 56).

Nach diesem Verständnis muss politische Bildung vor allem einen kritischen Blick auf bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse bedeuten. Gesellschaftliches Ideal und gesellschaftliche Realität werden ins Verhältnis zueinander gesetzt. Peter Henkenborg greift diese Idee auf, wenn er darauf verweist, dass „politische Bildung immer wieder den Unterschied zwischen den demokratischen Idealen und der realen Demokratie in den Mittelpunkt“ stellt und den „Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit und […] zwischen der gegenwärtigen Wirklichkeit und ihren Möglichkeiten“ (Henkenborg 2005: 310) offenlegen müsse. Vor allem aber schärft Kritik das „Denken in Alternativen“ (Steffens 2013: 261). In Anbetracht der notwendigen Transformationsprozesse erscheint vor allem dieser Grundsatz für eine emanzipatorische politische Bildung wichtiger denn je.

Dabei gilt zu berücksichtigen, dass dieses Denken in Alternativen nur möglich ist, wenn auch politische Bildner*innen ihre eigene Verortung in der Welt kritisch reflektieren, denn auch sie „sind in soziale und politische Diskurse eingebunden, die ihre Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen beeinflussen“ (Eis u. a. 2015).

Selbstbestimmung aber kann vor allem jungen Menschen im Kontext politischer Bildung nur ermöglicht werden, wenn zu kritischer Reflexion der eigenen Eingebundenheit auch eine adultismuskritische Haltung hinzukommt. Adultismus beschreibt das „Machtungleichgewicht zwischen Kindern und Erwachsenen“ (Ritz 2013: 165) und ist ein Strukturprinzip unserer Gesellschaft (Liebel/Mead 2023: 15), das dadurch zum Ausdruck kommt, dass Erwachsene sich Kindern gegenüber allein aufgrund ihres Alters überlegen fühlen und daraus den Anspruch auf mehr Rechte und Privilegien ableiten. Dies gilt es kritisch zu reflektieren, wenn politische Bildung tatsächlich zu emanzipatorischen Bildungserfahrungen beitragen soll.

5. Politische Bildung als Räume des Empowerments

Doch was ist, wenn diese Prinzipien wirken und politische Bildungserfahrung zu einer kritischen Reflexion bestehender Verhältnisse führt? In einem ersten Schritt kann politische Bildung dabei helfen, Räume des Empowerments zu eröffnen. Empowerment als Selbstermächtigung zielt darauf ab, Freiräume zu schaffen und Erfahrungsräume der (Selbst)Bestärkung/Selbstermächtigung für Menschen, die von Praxen der Exklusion betroffen sind. Empowerment kann wie Emanzipation nicht verordnet werden, aber es kann ein Raum für Empowermenterfahrung geschaffen werden. Das kann eine rassismuskritische AG, eine LGBTQI+-Gruppe oder eine „Fridays for Future“-Basisgruppe an der Schule sein. Mit der Empowermentarbeit geht auch eine Kritik an bestehenden Verhältnissen einher. Eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung in Zeiten der multiplen Krisen, die Transformationsprozesse begleiten will, muss daher immer wieder auch die Frage stellen: Schaffen wir genügend Freiräume für Empowermenterfahrungen?

6. Partizipation als Ermutigung und Veränderung

Politische Bildungserfahrungen im Setting der hier beschriebenen Prinzipien münden nicht selten in dem Wunsch, an den bestehenden Verhältnissen etwas zu verändern. Auch der leider viel zu wenig beachtete dritte Grundsatz des „Beutelsbacher Konsens“ betonte bereits in den 1970er-Jahren, dass junge Menschen genau dazu befähigt werden sollen:

Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. (Wehling 1977: 179)

Schmiederer verwies darauf, dass politische Bildung nicht auf die Ebene der Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen reduziert werden dürfe. Politische Bildung müsse vielmehr die „Voraussetzungen schaffen, daß unter bestimmten Umständen aus der Reflexion politische Handlungsbereitschaft wird“ (Schmiederer 1971: 51).

Auch die Autor*innen der Frankfurter Erklärung forderten:

Politische Bildung eröffnet allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Räume und Erfahrungen, durch die sie sich Politik als gesellschaftliches Handlungsfeld aneignen können. Sie ermöglicht Lernprozesse der Selbst- und Weltaneignung in der Auseinandersetzung mit anderen, um Wege zu finden, das Bestehende nicht nur mitzugestalten und zu reproduzieren, sondern individuell und kollektiv handelnd zu verändern. Im Handeln entsteht die Möglichkeit, etwas Neues zu erfahren, zu denken und zu begründen. (Eis u. a. 2015)

Doch noch immer hat sich vor allem in formalen Bildungsinstitutionen wenig getan. „Fridays for Future“-Aktivist*innen und andere selbstorganisiert politisch aktive Jugendliche waren in den letzten Jahren vor allem in Schulen oft mit Adultismus, Ablehnung und Repressionen konfrontiert (Kenner 2021).

Politische Bildung partizipativ und transformativ?! Anregungen für die Praxis

Politische Bildung steht vor der Herausforderung, die Menschen von Jung bis Alt bei dem notwendigen Transformationsprozess zur Bewältigung der multiplen Krise der Gegenwart zu begleiten. Dafür gilt es, politische Bildung als einen (Selbst)Bildungsprozess zu begreifen, der weit mehr bedeutet, als Anpassung oder Vermittlung von Fähigkeiten, Wissen und Werten.

Ganz praktisch ruft dieser Ansatz dazu auf, die Schule auch als politischen Sozialisationsort zu verstehen (ausführlicher in Kenner 2023b). Dies kann bspw. dadurch gelingen, dass wir an Schulen Räume für politische Arbeitsgemeinschaften schaffen, die ein genauso selbstverständlicher Teil der demokratischen Schulkultur werden sollten wie Musik und Sport. Das fordern auch engagierte Jugendliche, die die Schule als unpolitischen Ort wahrnehmen (Kenner 2021). Darüber hinaus lohnt es sich, politische Fragen der Gegenwartsanalyse und der Zukunftsperspektiven nicht nur im Politikunterricht aufzugreifen, sondern über den Unterricht hinaus im Schulalltag zu verankern. Hierfür bieten sich innovative Formate, wie bspw. das Material „Urbane Monster einer imperialen Lebensweise“ von Oliver Emde oder das kürzlich von Alexander Wohnig und Peter Zorn herausgegebene Material zu sozialen und politischen Handlungserfahrungen, an. Aber auch erprobte Formate wie die Zukunftswerkstatt sind empfehlenswert, wobei die Themen der Zukunftswerkstatt sich dann nicht auf die Entwicklung von Schule beschränken dürfen. Kinder und Jugendliche würden dann wieder nur auf ihre Rolle als Schüler*innen reduziert.

Und doch: Immer wieder ist zu hören, dass politische Kontroversen in der Schule den Schulfrieden gefährdeten. Mit dieser Begründung wird Schule entpolitisiert. Das passiert auch ganz aktuell anlässlich der schrecklichen Bilder, die uns aus Israel und Gaza erreichen. Es muss Leitplanken für einen politischen Diskurs geben. Grund- und Menschenrechte dürfen nicht zur Disposition stehen, Antisemitismus, Rassismus, Homophobie, Sexismus und jede andere Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit dürfen keinen Platz in der Schule finden. Das darf aber nicht bedeuten, politische Kontroversen aus der Schule auszuschließen. Kinder und Jugendliche sind Young Citizens. Sie sind vor allem in den sozialen Medien permanent mit Informationen und Bildern konfrontiert. Der damit verbundene (Selbst)Bildungsprozess als politisches Subjekt darf nicht nur in das marginalisierte Unterrichtsfach Politik und ins Private ausgelagert werden. Politische Bildung in Zeiten der multiplen Krisen braucht Mut und muss emanzipatorisch, kritisch und partizipativ gestaltet sein (Kenner/Nagel 2022). 

Literatur

Besand, Anja (2020): Die Krise als Lerngelegenheit.
Online: https://tu-dresden.de/gsw/phil/powi/dpb/die-professur/news/die-krise-als-lerngelegenheit.

Chancel, Lucas u.a. (2022): World Inequality Report 2022. Online: https://wir2022.wid.world/www-site/uploads/2023/03/D_FINAL_WIL_RIM_RAPPORT_2303.pdf.

Eis, Andreas/Lösch, Bettina/Schröder, Achim/Steffens, Gerd (2015): Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung. Frankfurt. Online: https://sozarb.h-da.de/politische-jugendbildung/frankfurter-erklaerung.

Henkenborg, Peter (2005): Demokratie-Lernen – eine Chance für die politische Bildung. In: Himmelmann, G./Lange, D. (Hrsg.): Demokratiekompetenz. Beiträge aus Politikwissenschaft, Pädagogik und politischer Bildung. Wiesbaden, S. 299–316.

Hufer, Klaus-Peter (2017): Weiter aktuell: Emanzipation in der politischen Bildung. In: Greco, Sara A./Lange, D. (Hrsg.): Emanzipation. Zum Konzept der Mündigkeit in der politischen Bildung (Politik und Bildung). Schwalbach/Ts., S. 14–21.

IPBES (2019): Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger des globalen Assessments der biologischen Vielfalt und Ökosystemleistungen der Zwischenstaatlichen Plattform für Biodiversität und Ökosystemleistungen. Bonn.

Kenner, Steve (2021): Politische Bildung in Aktion. Eine qualitative Studie zur Rekonstruktion von selbstbestimmten Bildungserfahrungen in politischen Jugendinitiativen. Wiesbaden.

Kenner, Steve (2023a): Young Citizens in Aktion. Rekonstruktion von Bildungserfahrungen in politischen Jugendinitiativen. In: Stamer, M./Oberle, M. (Hrsg.): Politische Bildung in der superdiversen Gesellschaft. Frankfurt/M., S. 225–232.

Kenner, Steve (2023b): Schulen als Bildungs-, Sozialisations- und Erfahrungsräume für Transformation und nachhaltige Entwicklung? (Frustrations-)Erfahrungen politisch engagierter Jugendlicher. In: Achour, S./Gill, T. (Hrsg.): Vom Klassenrat bis zum zivilen Ungehorsam. Partizipation in der Demokratie und der Auftrag der politischen Bildung. Frankfurt a.M., S. 76-86.

Kenner, Steve/Lange, Dirk (2022): Young Citizens – Was ist das Politische an der politischen Bildung? In: Baumgardt, I./Lange, D. (Hrsg.): Young Citizens – Handbuch politische Bildung in der Grundschule. Bonn, S. 12–21.

Kenner, Steve/Nagel, Michael (2022): Große Transformation mit jungen Change Agents? Partizipative politische Bildung für nachhaltige Entwicklung als Antwort auf multiple Krisen der Gegenwart. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften zdg, 2/2022, S. 99–116.

Leopoldina/Rat für nachhaltige Entwicklung (2021): Klimaneutralität. Optionen für eine ambitionierte Weichenstellung und Umsetzung. Positionspapier.
Online: https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2021_RNE_Leopoldina_Klimaneutralitaet_geschuetzt.pdf.

Liebel, Manfred/Meade, Philip (2023): Adultismus. Die Macht der Erwachsenen
über die Kinder – Eine kritische Einführung, Berlin.

Reinhardt, Sibylle (2018): Politik Didaktik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II (Fachdidaktik). Berlin.

Ritz, Manuela (2013): Adultismus – (un)bekanntes Phänomen: „Ist die Welt nur für Erwachsene gemacht?“ In: Wagner, P. (Hrsg.): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Freiburg im Breisgau, S. 165–173.

Schmiederer, Rolf (1971): Zur Kritik der politischen Bildung. Ein Beitrag zur Soziologie und Didaktik des politischen Unterrichts. Göttingen.

Schneekloth, Ulrich/Albert, Mathias (2019): Jugend und Politik: Demokratieverständnis und politisches Interesse im Spannungsfeld von Vielfalt, Toleranz und Populismus. In: Albert, M./Hurrelmann, K./Quenzel, G. (Hrsg.): Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort (Shell-Jugendstudie). Weinheim, S. 47–101.

Steffens, Gerd (2013): Bildungspotenziale der Kritik – Eine notwendige Erinnerung. In: Widmaier, B./Overwien, B. (Hrsg.): Was heißt heute kritische politische Bildung? Schwalbach/Ts., S. 256–264.

Vodafone Stiftung (2022): Hört uns zu! Wie junge Menschen die Politik in Deutschland und die Vertretung ihrer Interessen wahrnehmen. Eine Befragung im Auftrag der Vodafone Stiftung Deutschland. Online: https://www.vodafone-stiftung.de/wp-content/uploads/2022/04/Jugendstudie-2022_Vodafone-Stiftung.pdf.

Wehling, Hans-Georg (1977): Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch. In: Schiele, S./Schneider, H. (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart, S. 173–184.

Weißeno, Georg (2017): Politisches Lernen. In: Lange, D./Reinhardt, V. (Hrsg.): Konzeptionen, Strategien und Inhaltsfelder Politscher Bildung. Baltmannsweiler, S. 511–518.

 

Weiterführende Informationen zu den Themen Politische Bildung, Nachhaltigkeit und Transformation

Projekt „Forum PolBNT – Politische Bildung, Nachhaltigkeit und Transformation“

Webseite: www.polbnt.de

Materialien: „Sozialprojekte und politisches Handeln als politische Bildung. Das Wesen der Erfahrung. 10 Module in 2 Teilen für die schulische und außerschulische politische Bildung“

Diese Ausgabe der Reihe „Themen und Materialien“ der Bundeszentrale für politische Bildung stellt konkrete Bedingungen und Methoden vor, um die Bildungspotenziale sozialen Lernens und politischen Handelns für die politische Bildung fruchtbar zu machen.

Webseite: www.bpb.de/shop/materialien/themen-und-materialien/519213/das-wesen-der-erfahrung/

Materialien: „Zukunftswerkstatt. Oder: ‚Wie stellst du dir das Leben in x Jahren vor?‘“

Die Methode der Zukunftswerkstatt richtet den Blick in die Ferne und stellt Fragen nach dem Wünschenswerten: Wie sollte unser Leben, unser Alltag, unser Wohnort sein? Wie wollen wir leben? Die Methode bietet Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, eigene Perspektiven einzubringen und weiterzudenken und daran anschließende Handlungsmöglichkeiten zu erproben.

„Essenziell ist das Loslösen von gedanklichen und realen Hindernissen, Einschränkungen und Bedenken, denn die Methode zielt nicht auf die Überwindung dieser Probleme ab. Vielmehr ermöglicht sie das Erdenken einer Utopie, von der aus man – quasi rückwärtsgerichtet – auf die Probleme der Gegenwart blicken kann.“

Webseite: www.bne-box.lehrerbildung-at-lmu.mzl.lmu.de/zukunftswerkstatt/

Materialien: „Urbane Monster einer imperialen Lebensweise“

Das Projekt bietet Methoden der politisch-kulturellen Bildung und zur kreativen Umsetzung des Orientierungsrahmens für den Lernbereich Globale Entwicklung.

In dem Projekt geht es „zum einen um die Reflexion der eigenen Eingebundenheit in gesellschaftliche Verhältnisse und um Erklärungsansätze, warum Wissen um globale Missstände häufig nicht zu (individuellen und kollektiven) Handlungsänderungen führt. Zum anderen können die Teilnehmer*innen Alternativen einer solidarischen Lebensweise kennenlernen, die ein gutes Leben für alle ermöglichen.“

Webseite: www.urbanemonster.de/

Anregungen: „How to KLIMA-AG – Eine politische AG an der Schule als Freiraum gründen“

Leitfaden zur Gründung einer Klima-AG an Schulen (erstellt vom „Runden Tisch Klimabildung Kreis Pinneberg” aus den Erfahrungen von Schüler*innen und Lehrkräften verschiedener Schulen)

Webseite: https://t1p.de/klima-ag

Selbstlernangebot: Citizenship Education MOOC (#CitizenEdu) (Leibniz Universität Hannover und Bertelsmann Stiftung)

„Die Zukunft der Demokratie ist eine der großen Herausforderungen der Zivilgesellschaft. Schule kommt hier eine ganz besondere Rolle zu. Sie kann junge Menschen dazu motivieren, sich freiwillig zu engagieren und das Gemeinwesen im demokratischen Sinne mitzugestalten.

Dafür braucht es vor allem engagierte Lehrkräfte und Lehramtsstudierende, die Demokratiebildung fächerübergreifend in Schule und Unterricht verankern. Erfahrt in insgesamt neun Grundlagen- und Themenmodulen alles Wissenswerte über demokratische Schulentwicklung, das Zusammenleben in der diversen Gesellschaft, Mitgestaltung durch Engagement und Partizipation und vieles mehr.

Durch die aktive Teilnahme am Kurs entwickelt ihr ein Verständnis für aktuelle Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten für die Demokratiebildung in Schulen.“

Einführungsvideo: www.youtube.com/watch?v=LO63zpNHTp8

Anmeldung: www.oncampus.de/mooc/citizenedu

 

Logo des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX)
Die Beiträge im Portal dieser Webseite erscheinen als Angebot von ufuq.de im Rahmen des Kompetenznetzwerkes „Islamistischer Extremismus“ (KN:IX).
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