Wie wirkt sich die in der Migrationsgesellschaft zunehmende Pluralisierung von Familiengeschichten und Lebenswirklichkeiten auf gesellschaftliche Erinnerungsformen aus? Welche neuen Praktiken des Erinnerns können entstehen? Diesen Fragen widmet sich das Projekt „Partizipative Erinnerungspädagogik in Koblenz und Umgebung (PEPiKUm)“. Dabei gibt es vor allem Jugendlichen eine Stimme, die nur geringen Einfluss auf den öffentlichen Geschichts- und Erinnerungsdiskurs haben, und setzt auf einen partizipativen Ansatz, der junge Menschen aktiv am Forschungsprozess beteiligt. Im Gespräch stellt das Team seine Projektarbeit vor.
Wiebke Waburg:
Zunächst möchte ich von euch wissen: Was waren zentrale Gedanken und Ausgangspunkte im Projekt? Wie habt ihr eure Arbeit aufgenommen?
Stephan Bundschuh:
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir in einer pluralen, postmigrantischen Gesellschaft leben, stellen wir uns im Projekt „Partizipative Erinnerungspädagogik in Koblenz und Umgebung“, kurz PEPiKUm genannt, die Frage, welche Stimmen im gegenwärtigen Geschichtsdiskurs und kollektiven Gedächtnis eigentlich abgebildet werden. Unser Fokus liegt in diesem Fall auf Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Wie repräsentieren sich junge Menschen und was für Strategien und Aushandlungsmuster haben sie untereinander? Schließlich finden wir hier verschiedene Familiengeschichten, kollektive Geschichten und Gedächtnisse vor, mit denen sie sich ja in der Gesellschaft verorten. Und wie stehen diese in Relation zum öffentlichen Geschichtsdiskurs über die Katastrophen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, aber auch zu den aktuellen Diskussionen um Antisemitismus, Rassismus, Kolonialismus und Postkolonialismus? Diese Fragen bewegten mich vor allem auf theoretischer und sozialpolitischer Ebene. Es war jedoch auch klar, dass die Beschäftigung mit diesen Fragen empirisch unterfüttert werden muss.
Judith Hilgers:
Uns war es wichtig, dass wir die Perspektiven der Jugendlichen selbst einbeziehen und hier nicht nur über Jugendliche sprechen, wie es in der Jugendforschung häufig der Fall ist. Partizipative Forschung, die seit einigen Jahren wieder stärker genutzt wird, schien uns hier besonders geeignet zu sein, um die jugendlichen Sichtweisen einzubeziehen und zugleich diesen Ansatz, diese Form der Wissensgenerierung, kritisch zu reflektieren. Ich denke, das macht dann auch unser Design aus, dass wir auf der einen Seite partizipative Ansätze im Forschungsprozess selber durchführen und mit co-forschenden Jugendlichen zusammenarbeiten, aber gleichzeitig auch reflektieren, was heißt das überhaupt? Was ist denn überhaupt partizipative Forschung? Wo fängt Partizipation an, welches Partizipationsverständnis haben wir, haben unter Umständen auch die Jugendlichen dieses Verständnis von Partizipation? Und wo liegen dann auch die vielfach zitierten Chancen und Grenzen eines solchen Ansatzes – auch unter forschungsmethodischen Gesichtspunkten? Mit unserer Forschung wollen wir schließlich auch einen Beitrag zur Methodendiskussion leisten.
Eren Yıldırım Yetkin:
Das Projekt PEPiKUm forscht also mit einem partizipativen Forschungsansatz im Feld der Jugendarbeit zu Erinnerungspraktiken junger Menschen. Der Aspekt der Partizipation ist damit gewissermaßen die Schnittmenge der drei Felder Forschung, Jugendarbeit und Erinnerungspraktiken, in denen Partizipation jeweils eine unterschiedlich starke Bedeutung einnimmt und sich natürlich auch unterschiedlich ausdrückt. Im Gegensatz dazu lassen sich bisherige Forschungsprojekte primär im schulischen Kontext verorten. Der Fokus liegt dort oftmals darauf, was Schüler:innen eigentlich lernen mit Blick auf Geschichte und Erinnerung. Erinnerungskultur und Erinnerungsarbeit im Allgemeinen sind ein nicht so präsentes Thema in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, das muss man, denke ich, nochmals unterstreichen. Was wir im Prozess der Forschungsarbeit auch gemerkt haben, ist, dass Partizipation einerseits ja ein wichtiges Modell, ein wichtiges Konzept für die offene Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit darstellt. Trotz dieser Selbstverständlichkeit sind die Umsetzung und das Verständnis davon in der Praxis aus verschiedenen Gründen immer unterschiedlich. Bei der Methodendiskussion um Partizipation ist dabei auffällig, dass diese kaum auf einer empirischen Basis beruht, sondern die Modellierungen und Verwendungen auf Beobachtungen oder Praxiserfahrungen fußen, weshalb dieser Untersuchungsgegenstand im Rahmen des Projektes besonders in den Blick rückt.
Stephan Bundschuh:
Ein wichtiger Gedanke bezüglich des öffentlichen Erinnerungsdiskurses scheint mir, dass hier immer die Erwartung der aktiven Teilnahme formuliert wird, insbesondere gegenüber der jüngeren Generation. Sie sollen sich der historischen Katastrophen und der Verantwortung Deutschlands bewusst sein. Ich habe den Eindruck, dass der öffentliche Diskurs vom politischen Feld so stark beeinflusst wird, dass so etwas wie eigensinnige Umgänge mit diesen historischen Prozessen und Aushandlungen ziemlich zurückgestellt erscheinen bzw. so erstmal nicht sichtbar sind. Dies wäre ein Aspekt, dem es in unserer Arbeit nachzugehen gilt, also inwiefern Bewegungen und Aushandlungen festzustellen sind, die erst einmal so im öffentlichen Diskurs nicht sichtbar sind.
Timo Voßberg:
Diese Fragen stellen sich meiner Meinung nach auch gar nicht nur mit Blick auf die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust, sondern auch mit Blick auf jüngere Ereignisse von Ausgrenzung und Verfolgung. Gerade wenn wir von einer Pluralisierung der Gesellschaft und damit der Geschichts- und Erinnerungsbezüge sprechen, treten weitere Fragen auf: Wie verhandeln junge Menschen eigentlich Themenkomplexe wie den NSU oder die rassistischen und antisemitischen Anschläge in Halle und Hanau in der Gesellschaft? Spielen sie eine Rolle und wenn ja, bei welchen jungen Menschen und inwiefern?
Wiebke Waburg:
Wie haben sich die Zugänge zu jungen Menschen über die Praxispartner:innen gestaltet? Und wie sah euer Vorgehen in den partizipativ angelegten Settings dabei aus?
Alia Wielens:
Ursprünglich war eine Überlegung, dass wir in Alltagssituationen der Jugendarbeit durch Unterstützung der Sozialarbeiter:innen mit jungen Menschen in Kontakt treten. Dies wurde auf Grund der Covid-Pandemie und damit einhergehenden Auflagen sehr erschwert. Unsere Kooperationspartner:innen haben vereinzelt den Versuch unternommen, digitale Formate zu schaffen, wo sich junge Menschen miteinander austauschen konnten. Dort, wo solche Formate bestanden, haben wir im Rahmen digitaler Treffen unser Projekt vorgestellt. Dabei haben wir versucht den Raum soweit wie möglich offen zu halten, keine Impulse zu geben, keine Themenschwerpunkte zu nennen. Die Rückmeldungen dazu waren, dass es sehr unklar bleibt, was wir von den jungen Menschen eigentlich wollten. Hier war genau die Offenheit des Projekts die große Herausforderung. Daraus haben wir gelernt und mit Beispielen aus dem lokalen Kontext gearbeitet und diese auch als Beispiele kenntlich gemacht. Aus diesen Vorstellungen heraus haben wir Interessierte dann zu Workshops eingeladen, die unter Titeln wie „Was erinnern wir (nicht)“? liefen. Hier haben wir u.a. mit Beispielen gearbeitet, die sowohl die Shoah als auch die Kolonialzeit betrafen. Um unsere Arbeit und auch den Arbeitsaufwand etwas einzugrenzen, haben wir anhand von Modellen, wie z. B. einem Fotoprojekt oder einem biographischen Projekt, eine mögliche Mitarbeit vorgestellt. Daraus haben sich dann – je nach Gruppe – verschiedene Schwerpunktsetzungen entwickelt. Bei diesen Vorgängen war für mich wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Gruppen der Co-Forschenden, die wir gewinnen konnten, bereits in anderen Kontexten aktiv waren und ihnen Partizipation ein sehr nahes und praktisch durchgeführtes Konzept schien. Hier muss ich mir natürlich die Frage stellen, inwiefern dann nur bereits partizipierende Jugendliche, die z. B. auch das technische Equipment besitzen, abgeholt werden konnten und andere nicht.
Timo Voßberg:
Im Projekt haben wir viel die Frage diskutiert, was wir eigentlich bei dieser Art Impulsworkshop inhaltlich reingeben. Es gab eigentlich nicht nur die Rückmeldung, das Projekt bleibe zu schwammig, denn gleichzeitig haben andere Sozialarbeiter:innen im Vorfeld kritisiert, das Projekt sei zu geschlossen und es müsse noch viel offener konzipiert werden. Und in diesem Spannungsfeld haben wir uns bei unseren Vorbereitungen dann auch bewegt. Die mögliche Co-Forschung in sogenannten Mikroprojekten sollte einerseits gerahmt und verständlich präsentiert werden und gleichzeitig hatten wir eben den Anspruch, so wenig wie möglich vorzugeben, sodass die Co-Forschenden selbst den Themenkomplex und die Fragestellungen im Kontext von Erinnerungspraktiken bestimmen. Die Resonanz fiel bei den Kooperationspartner:innen sehr unterschiedlich aus. Bei einer Gruppe hat sich keine Co-Forschendengruppe entwickelt, bei den anderen Gruppen waren zu Beginn mehr Personen dabei, bis sich schließlich zwei Gruppen mit einem Kern von vier bis sechs Personen herauskristallisiert haben, die dann kontinuierlich mit uns gearbeitet haben.
Alia Wielens:
Mit Blick auf unser didaktisches Vorgehen würde ich sagen, dass wir insgesamt sehr biographisch und mit lokalen Verknüpfungen, wie z. B. Straßenbenennungen nach Täter:innen der Euthanasieverfolgung, an die Arbeit herangegangen sind. Und bei der Frage von Erinnerung tauchte hier schnell das Vermengen von individueller Erinnerung mit gesellschaftlichem Erinnern oder dem kollektiven Gedächtnis auf. Zu diesen Themen haben wir also inhaltliche Impulse und eben Räume zum Austauschen und Diskutieren geschaffen. Denn es ist schnell deutlich geworden, dass bei einem komplett offenen Rahmen, wo nur das Projekt vorgestellt wird und Interessierten ein offenes Feld überlassen wird, ein Moment der – so interpretiere ich es – Überforderung eintreten kann.
Eren Yıldırım Yetkin:
Bei unseren Zugängen diskutierten wir im Vorfeld viel über unsere Herangehensweisen mit Blick auf Umsetzung und Grenzen partizipativer Prozesse. Inwiefern lassen sich Inhalte herunterbrechen, ohne einen gewissen Grad an Komplexität zu verlieren, den wir zugleich auch beanspruchen? Inwiefern muss ich mich von eigenen, etablierten Herangehensweisen in der Forschung ein Stück weit verabschieden bzw. mein eigenes Forschungsverständnis vielleicht auch in Frage stellen? Solche Fragen betrafen nicht nur den Zugang zum Feld, diese Aushandlungen im Team durchzogen den ganzen Begleitprozess der Mikroprojekte.
Wiebke Waburg:
Wie haben sich die bisherigen Mikroprojekte entwickelt? Welchen Themen sind sie nachgegangen und wie sah eure Begleitung dieser Projekte aus?
Timo Voßberg:
Ich habe in den letzten anderthalb Jahren vor allem die Pfadfinder:innen-Gruppe begleitet. Die Gruppe hatte eingangs unterschiedliche Überlegungen, welchen Themen sie nachgehen will. Ein roter Faden in den Diskussionen war die Beschäftigung mit den Schwierigkeiten und Herausforderungen ihrer heutigen Generation. Die Klimakrise wurde hier zum Beispiel immer wieder angebracht. Ein Beispiel, das mir besonders gefallen hat und im Gedächtnis geblieben ist, war die Überlegung, ein Interview mit ihrer heutigen Generation aus einer Zukunftsperspektive zu führen. Es standen Überlegungen im Raum, dass sie sich künstlich altern lassen und einen Blick aus der Zukunft in die heutige Gegenwart, also der zukünftigen Vergangenheit, wagen und dabei in Interviewformaten gesellschaftliche Krisenfragen verhandeln. Dem Ganzen gaben sie schließlich den Titel „Voraus in die Vergangenheit“. Es waren kreative und spannende Denkprozesse zum Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Nach diesen und weiteren Überlegungen entschied sich die Gruppe schließlich zur Geschichte ihres eigenen Pfadfinderstammes zu forschen. Sie wollten herausfinden, was junge Pfadfinder:innen in ihrem Ort gestern und heute beschäftigte und was sie dazu bewegte sich als solche zu engagieren. Hier fließen sicherlich auch die Fragen nach Krisenverhältnissen mit ein. Die Gruppe ermittelte schließlich zwei Personen, die zur Gründungsgeneration der 1950er Jahre gehörte, und organisierte ein intergenerationales Gruppengespräch, an dem verschiedene Generationen von Pfadfinder:innen aus ihrem Ort teilnehmen sollten. Dieses Gespräch wurde schließlich aufgezeichnet und anschließend ausgewertet. Auf unserer Fachtagung „partizipativ.erinnern“ im September 2022 führten die Co-Forschenden einen Workshop zu ihrer Arbeit im Projekt durch, ein Artikel soll in einer Pfadfinder:innen-Zeitschrift erscheinen und schließlich sind sie in dieser Broschüre mit einem Beitrag [1] vertreten. Die Arbeit endete mit einer Abschlussreflexion im Oktober 2022, in der mir mit Blick auf meine Rolle zurückgemeldet wurde, dass ich sie vor allem dabei unterstützen konnte ein geeignetes Design zu entwickeln, was die Umsetzung ihres Vorhabens anging. Viele Arbeitsphasen in den letzten anderthalb Jahren wurden erschwert durch typische Übergangssituationen junger Menschen, wie studienbedingter Wegzug, Beginn einer Ausbildung und der Abschluss von der Schule und schließlich auch ihr starkes bereits bestehendes Engagement bei den Pfadfinder:innen und den Fahrten und Treffen, die sie hier unternehmen. Es waren also beschränkte Ressourcen, weshalb ich zum Beispiel den Impuls in die Gruppe gab, nur ein generationenübergreifendes Gespräch anstelle von Gesprächen mit jeder einzelnen Generation zu führen.
Alia Wielens:
Die Gruppe, die ich begleiten durfte, hat verschiedene Workshops mitgemacht, die sich vor allem um Biographiearbeit, Shoah und Nationalsozialismus drehten. Wir haben vor allem Angebote gemacht, wie an einem Online-Zeitzeug:innengespräch mit der Shoah-Überlebenden Esther Bejarano teilzunehmen, bevor sie dann im gleichen Jahr leider verstorben ist. Für die Gruppe war das ein prägendes Gespräch. Schon von Beginn an erzählten zwei Co-Forschende von Geschichten aus ihren Familien – einem Tagebuch aus Pommern auf der Flucht vor der Roten Armee und einem Narrativ über das Verstecken einer benachbarten jüdischen Familie. Beides hat die Gruppe beforschen wollen, was auch dazu führte, dass bei den beiden weiteren Co-Forschenden familiengeschichtliche Narrative an die Oberfläche kamen. Im Abschlussworkshop unserer Tagung „partizipativ.erinnern“ hat die Gruppe der Co-Forschenden letztlich den Reflexionsprozess vorgestellt und ist durch ihre eigene Forschung, in der sie z. B. auch ein Interview geführt hat, zu dem Punkt gekommen, Familiennarrative kritisch zu hinterfragen. Was bedeutet es, die eigenen (Ur-)Urgroßeltern als Mitläufer:innen zu begreifen – trotz eigener tragischer Geschichten wie von Frauen, die Vergewaltigungen erlitten haben? Oder aber auch das Narrativ des Versteckens der jüdischen Familie nicht weiter zu bedienen, sondern auch hier eben Ambivalenzen reinzubringen. Meine Rolle während dieses Prozesses wechselte zwischen verschiedenen Ansprüchen: wissenschaftlicher Begleitung, pädagogischer Rahmung und eigener Person, die schließlich auch gesellschaftlich verortet ist. Ich denke, dass gerade die Authentizität und das Sichtbarmachen meiner diversen Rollen zu einer Offenheit geführt hat, über die Themen – wie Täter:innenschaft in der eigenen Familie – sprechen zu können.
[1] Siehe hierzu auch den Beitrag von Courbier et al. (2022): „Pfadfinden in Arenberg gestern und heute. Ein intergenerationales Gruppengespräch beim BdP Stamm von Helfenstein“.
Bildnachweis: © Mitchell Luo/ Titel: „Ein Bild eines Blumenfeldes aus Quadraten“/ unsplash.com
Dieser Beitrag erschien ursprünglich im Reader „Partizipativ erinnern. Praktiken Forschung Diskurse“ des IDA e.V. Wir danken den Autor*innen und Herausgeber*innen für die Erlaubnis, den Beitrag hier wieder zu veröffentlichen.